Der Wechsel von Dwyane Wade nach Chicago schockiert und ist doch verständlich. Nachdem Wade den Heat jahrelang finanziell entgegengekommen ist, wollte Flash nun auch endlich einmal abkassieren - aber Miami unterschätzte offensichtlich den Faktor Stolz. Seine Entscheidung ist dabei rein emotional, denn sportlich passt bei den Bulls nach dem Wechsel wenig zusammen. SPOX beleuchtet die Entscheidung aus allen Perspektiven.
Der Wechsel aus Wades Blickwinkel
13 Jahre lang spielte Dwyane Wade in Miami und war dabei wohl mindestens die Hälfte der Zeit der beste Heat-Spieler, darunter auch in der letzten Saison. Das Aushängeschild der Franchise war er ohnehin spätestens seit dem Titel 2006 die ganze Zeit über. Und dennoch war er in all der Zeit kein einziges Mal der bestbezahlte Spieler im Kader.
2010 verzichtete er wegen LeBron und Bosh auf Geld. Vier Jahre später ließ er eine Option verstreichen, damit LeBron gehalten werden konnte, auch wenn dies nicht klappte. Bosh unterschrieb stattdessen einen Max-Deal, während Wade erneut auf Geld verzichtete. Ebenso wie im Sommer 2015 - schließlich brauchte Miami Platz für Goran Dragic' Max-Deal und Spielraum für den Sommer 2016.
Wade machte mit, da Pat Riley und Heat-Besitzer Micky Arison ihm stets versicherten, sich später um ihn zu kümmern. Auch jetzt sah er zunächst zu, wie er hinter Kevin Durant und Hassan Whiteside nur einen hinteren Platz auf der Prioritätenliste einnahm, wurde dann aber doch schnell ungeduldig. Und das kann man ihm nur schwer verübeln.
Wade ist 34 Jahre alt und wird nicht mehr ewig Zeit haben, um in der NBA Geld zu verdienen. Außerdem dürfte er nach der vergangenen Saison zurecht das Gefühl haben, er sei jetzt mal an der Reihe. Da kam es nicht gut an, dass er zu Beginn der Free Agency eher abgewimmelt wurde mit der Ansage "Wir kümmern uns schon, aber wir können Dir noch keine Zahlen sagen".
Ein genervter Wade streckte also die Fühler aus auf der Suche nach anderen potenziellen Arbeitgebern. Alle Welt ging zunächst davon aus, dies sei nur ein Druckmittel. Würde Wade, der seine Social-Media-Posts vor nicht allzu langer Zeit noch mit "#heatlifer" versah, wirklich auf einmal in Milwaukee oder Denver spielen wollen? Kaum zu glauben.
Also ließ Miami weiter Zeit verstreichen. Zwar sprach man regelmäßig mit Wade und bot nun auch einen konkreten Vertragsrahmen, aber nicht das von Wade geforderte dritte Vertragsjahr und die maximale Summe. Man wolle nicht den gleichen Fehler begehen wie die Lakers mit Kobe Bryant, hieß es aus einigen Quellen. Riley sei zu stolz, um vor Wade auf die Knie zu gehen, hieß es aus anderen.
Und so erreichten beide Parteien eine Patt-Situation, die am Ende die Bulls ausnutzen konnten. Es kam dabei sehr gelegen, das Chicago nah an Wades Heimatstadt Robbins, Illinois liegt - aber niemand sollte den Fehler machen, dies als Hauptgrund für seinen Wechsel anzusehen. Der verletzte Stolz und der Ärger über Miami haben ihn angetrieben, nicht die Aussicht, in seine Heimat zurückzukehren.
Unterm Strich hat er auch von den Bulls nicht das geforderte dritte Jahr bekommen, aber 48 Millionen Dollar über zwei Jahre und damit (angeblich) 8 Millionen mehr, als Miami zahlen wollte. Das ist weder ein Max-Deal, noch ist es auf dem heutigen Markt eine hohe Summe. Aber für Wade zählte der Symbol-Wert - dieses eine Mal wollte er seine Interessen nicht hinter die seines Teams stellen. Nach seiner Ansicht wäre dies einem Gesichtsverlust gleichgekommen.
Der Wechsel aus Sicht der Heat
Die langfristigen Folgen für Miami als Free-Agent-Destination werden sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Zwar haben die Heat ohne Wades Vertrag nächsten Sommer mehr Geld zur Verfügung, allerdings ist folgendes auch klar: Spieler reden miteinander. Es fällt auf, wenn ein Team auf diese Art und Weise mit seinen Free Agents umgeht. Für eine Bestätigung muss man nur nach Dallas blicken, wo der Umgang mit Steve Nash und später Tyson Chandler Berichten zufolge bleibende Eindrücke hinterlassen hat.
Miami hat seit den Zeiten von Alonzo Mourning den Ruf gehabt, sich stets um seine Spieler zu kümmern, daher besteht der halbe Coaching Staff aus Ex-Spielern und daher nennt Jalen Rose die Franchise im positiven Sinne "Miami Mafia". Spieler wollten gerne nach Miami kommen, zu einem erwiesenen Champion wie Riley, zu einer familiären und doch hochprofessionell geführten Franchise.
Es bleibt abzuwarten, ob dieser Ruf nicht ernsthaften Schaden genommen hat. Denn niemand in der Geschichte der Franchise verkörperte die Heat so sehr wie Wade. Er hält fast alle Franchise-Rekorde, war (gemeinsam mit Udonis Haslem) als einziger bei allen Titeln dabei. Nun wurde er zwar nicht vom Hof gejagt, wie teilweise zu lesen ist, aber eben auch nicht gerade mit Wertschätzung überhäuft.
Die Bedenken ob seines Alters waren dabei durchaus real, hätten angesichts seiner Verdienste und des ansteigenden Salary Caps aber keine derart große Hürde darstellen sollen. Vermutlich haben die Heat es einfach als selbstverständlich betrachtet, dass Wade schon immer irgendwie bei ihnen bleiben würde. Das ist er nicht, und auf einmal gilt auch kurzfristig weniges in Miami als selbstverständlich.
Bei Whiteside, der geschockt auf Wades Wechsel reagierte, regten sich unmittelbar nach der Entscheidung bereits Spekulationen, er könnte einen DeAndre-Jordan-artigen Rückzieher machen, schließlich war noch nichts unterschrieben. Tyler Johnson hat für 50 Millionen Dollar über 4 Jahre in Brooklyn unterschrieben, die Heat können und werden das Angebot aber vermutlich matchen.
Goran Dragic ist noch da, ebenso wie die vielversprechenden Sophomores Justise Winslow und Josh Richardson. Damit wäre man bei den Sicherheiten aber auch fast schon angekommen. Niemand hat eine Ahnung, ob Chris Bosh nächste Saison wieder zur Verfügung steht oder überhaupt nicht mehr in der NBA auflaufen kann.
Schon möglich, dass sich Wades Wechsel langfristig nicht als Drama für die Heat erweist, wenn sie nächsten Sommer (beispielsweise) Russell Westbrook und einen anderen Star an den South Beach lotsen können. Es wäre ja nicht das erste Mal. Der bittere Beigeschmack bleibt jedoch vorerst bestehen - und erstmals seit einer gefühlten Ewigkeit fehlt bei den Heat die eine Gewissheit, die Fans und Franchise immer hatten. "Wade County" hat seinen Regierungschef verloren.
Der Wechsel aus Sicht der Bulls
Die Bulls sind der lachende Dritte, richtig? Naja. Mit viel Wohlwollen könnte man es so betrachten. In gewisser Weise reiht sich die Verpflichtung von Wade aber auch nur an eine bereits ziemlich konfuse Offseason in Chicago an. Manches deutete auf Rebuild hin, bis zuletzt wurde auf einen Trade von Jimmy Butler spekuliert - und jetzt hat das Team auf einmal wieder Ambitionen?
"Zickzack-Kurs" wäre nett ausgedrückt für das Gebaren der Bulls in der Offseason. Man wollte "jünger und athletischer" werden, hieß es, aber die namhaftesten Neuzugänge heißen Robin Lopez, Rajon Rondo und eben Wade. Man wolle den Kader außerdem mehr nach den Vorstellungen von Fred Hoiberg aufstellen, aber auch das ist keineswegs geschehen.
Hoiberg mag Ball-Movement und gute Schützen wie eigentlich jeder Coach in der heutigen NBA. Die neue "Big Three" aus Rondo, Wade und Butler steht allerdings genau für das Gegenteil. Alle drei brauchen den Ball in der Hand, alle drei dribbeln gerne viel, alle drei sind höchstens mittelmäßig begabte Shooter.
Ach, und Butler und Wade spielen natürlich eigentlich die gleiche Position. Nachdem Mike Dunleavy per Trade abgegeben wurde, sind Nikola Mirotic (Karriere: 35,5 Prozent 3FG) und Doug McDermott (41 Prozent) vermutlich die einzigen wirklich gefährlichen Shooter der Bulls. Im Großen und Ganzen passt der Kader in Chicago einfach nicht im Geringsten zusammen, so harsch das klingen mag.
Einen positiven Effekt hat Wades Ankunft wiederum auf jeden Fall: Nachdem mit Derrick Rose und Joakim Noah beide Publikumslieblinge das Team verlassen haben, ist Wade wieder ein Hometown Hero, auch wenn er seine besten Tage fraglos hinter sich hat.
Wade garantiert Trikot-Verkäufe und zumindest bei einem Teil der Bulls-Fans ein gewisses Wohlwollen für ein Front Office, das alles andere als beliebt ist. Laut ESPN besteht intern darüber hinaus die Hoffnung, dass Wade nächsten Sommer dabei helfen wird, andere Free Agents nach Chicago zu lotsen - welch süße Ironie.
Ob dieser Effekt tatsächlich eintritt, muss zunächst abgewartet werden. Einen Versuch war es aber wert, zumal in Chicago offenbar doch weiterhin der vollständige Rebuild gescheut wird. Sportlich sieht das Ganze aktuell zwar eher aus wie ein Laborexperiment, das zum Scheitern verurteilt ist - aber immerhin brachte der Move die Bulls mal wieder ins Rampenlicht. Und auf das erste Spiel zwischen Chicago und Miami darf man jetzt bereits gespannt sein.