"Zipser muss seine Nische noch finden"

Ole Frerks
13. Dezember 201615:49
SPOXgetty
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Fran Fraschilla arbeitete zehn Jahre lang als College-Coach, bevor er als Experte zu ESPN wechselte. Dort setzt er sich insbesondere mit der NCAA und dem europäischen Markt auseinander. SPOX sprach mit ihm über den kommenden Draft, die wichtigsten Entwicklungen im Basketball und die Chancen von Paul Zipser.

SPOX: Mr. Fraschilla, wenn man derzeit die NBA verfolgt, scheint es, als würden im Vergleich zu den letzten Jahren weniger Teams aktiv tanken. Dabei ist der kommende Draft ein sehr vielversprechender, oder?

Fran Fraschilla: Das ist er allerdings. Wenn man sich die moderne Geschichte des Drafts anschaut, entwickelt sich eigentlich nur ungefähr ein Viertel der Spieler zu NBA-Spielern von Qualität. Deswegen besteht nach den ersten sechs oder acht Picks nur noch selten wirklich Euphorie bei den NBA-Teams. Das ist in diesem Jahr anders: Es gibt vor allem auf der Point-Guard-Position gleich mehrere Talente, die echtes Star-Potenzial mitbringen. Die meisten aus der NCAA, aber auch der Belgier Frank Ntilikina, der momentan bei Straßburg spielt. Es gibt zwar auch eine Handvoll gute Forwards, aber gerade was die Eins angeht, bietet der kommende Draft eine enorme Tiefe.

SPOX: Dann muss man also nicht zwingend tanken, um die Chance auf einen guten Spieler zu haben?

Fraschilla: Nun, Sie wissen ja: Auch die schlechteste Bilanz der Liga garantiert nur eine 25-prozentige Chance auf den ersten Pick. Natürlich würde jedes Team gerne als erstes picken, da man so garantiert seinen Liebling auswählen kann, aber Garantien gibt es eben nicht. Und in diesem Jahr ist es tatsächlich so: Es gibt genug vielversprechende Point Guards im Draft, dass im Prinzip jedes bedürftige Team - wie zum Beispiel Dallas oder Philadelphia - einen abbekommen könnte. Mit Sicherheit werden zum Ende der Saison trotzdem einige Teams dafür sorgen wollen, dass ihre Chancen auf hohe Draftpicks möglichst gut stehen.

SPOX: Wer ist denn aktuell Ihr Lieblingsspieler im Draft? Oder lässt sich das noch nicht beurteilen?

Fraschilla: Der Lieblingsspieler muss ja nicht zwingend auch derjenige sein, der am meisten NBA-ready ist, oder? Dann ist es in diesem Fall Lonzo Ball, der 1,98 m große Point Guard von UCLA. Es macht so einen Spaß, ihm zuzusehen: Für mich ist er der beste College-Passer seit Jason Kidd und Magic Johnson!

SPOX: Das ist ein riesiges Lob - übertreiben Sie da nicht?

Fraschilla: Ich kann mir vorstellen, dass es übertrieben wirkt, aber ich halte wirklich so viel von ihm. Mit seiner Größe hat er wirklich eine bemerkenswerte Court Vision, die mich vermutlich am meisten an Kidd und derzeit noch Ricky Rubio erinnert. Alle drei sind große Point Guards, die das Spiel unheimlich gut verstehen. Ball hat mit Rubio und dem jungen Kidd außerdem gemein, dass er noch kein verlässlicher Shooter ist, aber sein Start mit UCLA verlief in jedem Fall schon vielversprechend. Es ist wahrscheinlich, dass er unter den ersten fünf oder sechs Picks sein wird.

SPOX: Rubio wirft noch immer schlecht, Kidd lernte es mit der Zeit in der NBA. Wirkt Balls Wurf reparierbar oder gehört er eher in die Rondo-Kategorie?

Fraschilla (lacht): Nein, er ist definitiv kein Rondo. Er ist ein bisschen unorthodox. In den USA vergleichen wir ihn mit dem Golfer Jim Furyk: Er ist einer der besten Golfer der Welt, sein Schwung ist aber einer, den man keinem jungen Golfer jemals beibringen würde. Trotzdem hat er damit Erfolg. Ball hat mit seinem Wurf bisher auch Erfolg, es gibt allerdings das Problem, dass sein Release ziemlich tief ist. Das würde es auf NBA-Niveau sehr schwierig machen, an einem Verteidiger abzuschließen. Seine Stärken sind bisher ganz klar die Größe, die Übersicht und die Fähigkeit, seine Mitspieler besser zu machen. Das alles wird ihm auf jedem Level helfen. Das Wurf-Thema gibt dann letztendlich wahrscheinlich den Ausschlag, ob er ein richtiger Star werden kann. Aber keine Sorge: Er ist ein besserer Shooter als Rondo, Rubio und auch Kris Dunn, der ja gerade an fünfter Stelle gedraftet wurde, bisher aber einen schweren Stand in der NBA hat.

SPOX: Überrascht Sie das eigentlich? Vorm Draft hieß es ja überall, dass er von allen Rookies am meisten 'NBA-ready' ist.

Fraschilla: Ein wenig schon, ich war und bin auch ein Fan von Dunn. Aber, und das unterstreicht jeder meiner Freunde in der NBA, wenn ich mit ihnen spreche: Es ist heute einfach so wichtig, dass der Point Guard und jeder andere Spieler auf dem Court zumindest durchschnittlich gut werfen kann. Wenn man wie Dunn kein guter Schütze ist, muss man schon spektakulär in fast allen anderen Bereichen des Spiels sein, um dem Team nicht zu schaden. Rondo war früher so jemand, aber auch bei ihm zeigt sich seit Jahren, dass sein fehlendes Shooting für jedes seiner Teams ein riesiges Problem darstellt. Ein Non-Shooter schrumpft den Court! Wenn ein oder zwei Spieler nicht werfen können, kann sich der Gegner viel leichter auf den Superstar konzentrieren und ihn aus dem Spiel nehmen.

SPOX: Die Rolle der Point Guards hat sich generell sehr verändert.

Fraschilla: Richtig. Es gibt fast überhaupt keine der klassischen "Pass-First-Point-Guards" mehr, die wir früher kannten. Heute musst du als Point Guard auch ein gefährlicherer Scorer sein, häufig sogar mehr als alles andere. Im Idealfall bist du ein dynamischer Scorer und Playmaker wie Stephen Curry, Damian Lillard oder John Wall, der 20 Punkte macht und gleichzeitig auch seine Mitspieler involviert. Es gibt von diesen Spielertypen mehr denn je, daher hat sich auch das Spiel immer mehr auf sie ausgerichtet. Mit einem Aufbau, der selbst keine Gefahr ausstrahlt, kommt man nicht mehr weit.

SPOX: Würden Sie mir zustimmen, dass die Scoring Guards heutzutage sogar die wichtigsten Spieler in der NBA sind?

Fraschilla: Ich würde zustimmen, allerdings mit einem Zusatz: Die wirklich transzendenten Big Men wie Karl-Anthony Towns, Anthony Davis oder Kristaps Porzingis können einen noch größeren Einfluss auf das Spiel ausüben, weil sie auch defensiv den Unterschied ausmachen können, was selbst für einen überragenden Guard-Verteidiger wie Chris Paul kaum möglich ist. Aber diese Spieler sind bekanntlich unheimlich rar, während es auf der Eins eine unheimliche Qualitätsdichte gibt. Daher kann man ohne einen solchen Big Man zurzeit noch besser auskommen als ohne einen dynamischen Guard.

SPOX: Gerade Towns und Porzingis wirken mit ihrem Mix aus Range und Rim-Protection ein bisschen wie "Einhörner", die neuste Stufe der Basketball-Evolution. Finden sich im Draft auch solche Spieler?

Fraschilla: Zunächst würde ich noch sagen: Auf allen Positionen ist diese Vielseitigkeit, dieser Mix zwischen Shooting und Defense das, was alle Teams haben wollen. Die Athletik ist der primäre Grund, warum die NBA die mit Abstand stärkste Liga der Welt ist. Das Shooting aber war noch nie so wichtig wie heute, weil die Athletik sowohl Offense als auch Defense viel fortgeschrittener und komplizierter gemacht hat. Deswegen braucht man Shooting auf jeder einzelnen Position, wie es die besten Teams ja auch haben. Um auf ihre Frage zurückzukommen: Mir fallen für die Big-Man-Kategorie auf die Schnelle zwei Spieler ein. Zum einen Jonathan Isaac von Florida State, der mit seinen 2,10 m bisher als Small Forward aufläuft, aber vermutlich noch aufrücken wird: Er hat einen traumhaften Shooting Touch. Und dann wäre da noch die finnische Sensation Lauri Markkanen von Arizona: Er ist 2,13 m groß und kann Inside sowie Outside spielen. Er ist nicht so ein Überathlet wie Porzingis, aber er hat gerade offensiv absolut das Skillpaket, um ein Topspieler zu werden. Ich denke, auch er wird ein Lottery-Pick. Wichtig ist aber: Beide sind erst 19 Jahre alt und werden mit Sicherheit noch eine Weile brauchen, um wirklich auf dem NBA-Level anzukommen. Dass jemand so einschlägt wie Towns, ist ja doch ein absoluter Ausnahmefall.

SPOX: Häufig draften die Teams ja eher Potenzial als tatsächliche Qualität, wenn es um die Lottery geht. Welcher Spieler hat denn Ihrer Meinung nach das größte Potenzial im Draft 2017?

Fraschilla: Gute Frage, da natürlich auch die College-Saison noch nicht sonderlich lange läuft. Aber meiner Meinung nach gehört Markelle Fultz auf jeden Fall zumindest in die Konversation, ein 18-jähriger Point Guard, der für Washington aufläuft. Das ist kein besonders gutes Team, aber ihm muss man dennoch zusehen: Fultz ist ein elektrischer Spieler, ein bisschen wie Westbrook. Nicht so athletisch, aber auch er ist in der Lage, den Ball auf unglaublich viele Arten im Korb unterzubringen. Drive, Mid-Range, Dreier... und zudem ist er ein sehr guter Passer. Sein Potenzial ist riesig. Außerdem würde ich noch Josh Jackson von Kansas nennen, der als Forward genau die Vielseitigkeit mitbringt, nach der sich Teams die Finger lecken - nur sein Dreier lässt bisher noch zu wünschen übrig.

SPOX: Und sonst? Fast jeder NBA-Fan, der nicht zwingend auch noch College religiös verfolgt, will vor jedem Draft ja wissen, wie viele Spieler mit Star-Potenzial dabei sind. Wie sieht das 2017 aus?

Fraschilla: Schwere Frage, gerade zu diesem Zeitpunkt. Nehmen wir allein die Point Guards: Fultz, Dennis Smith, Ball, De'Aron Fox und Frank Ntilikina haben für mich alle die Qualität, gute Point Guards in der NBA zu werden. Die Frage ist aber: Wer beziehungsweise wie viele von ihnen werden auch All-Star? Das kann man momentan schwer beantworten und die Teams haben ja zum Glück auch noch etwas Zeit, um das alles zu evaluieren. Bei den Forwards verhält es sich ganz ähnlich.

SPOX: Es hängt relativ viel in der Schwebe, oder? Es gibt ja gelegentlich auch Jahre, wo man schon ganz am Anfang weiß, wer am Ende No.1-Pick wird, wie mit Tim Duncan oder Anthony Davis. Das scheint jetzt nicht der Fall zu sein.

Fraschilla: Das ist korrekt. Es gibt relativ viele Mysterien, was aber auch wieder für die Tiefe auf der Eins spricht: Scoring Guards sind der letzte Schrei und davon gibt es wie gesagt gleich mehrere mit All-Star-Potenzial. Da müssen gerade die wiederaufbauenden Teams genau evaluieren, wer am besten zu ihnen passt: Philly etwa scheint im Frontcourt ja schon sehr gut und talentiert besetzt zu sein, aber welcher Guard würde mit Joel Embiid und Co. am besten harmonieren? Diese Erkenntnisse sollen die College-Saison und auch der internationale Basketball, wenn man auf Ntilikina blickt, bringen.

SPOX: Sprechen wir noch einmal über den letzten Draft-Jahrgang. Wenn man Jamal Murray ausklammert, konnten sich bisher nur sehr wenige Rookies wirklich auszeichnen, mehr als in anderen Jahren. Woran liegt das?

Fraschilla: Auch wenn ich das als jemand, der College-Basketball liebt und als Beruf hat, ungern sage: Der Unterschied zwischen NBA- und NCAA-Basketball ist groß wie der Grand Canyon, größer als jemals zuvor. Dementsprechend unterscheidet sich auch ein guter NCAA-Spieler von einem guten NBA-Spieler - Sie sehen ja, wie schwer sich beispielsweise Buddy Hield, der letztes Jahr am College dominiert hat, in der NBA tut. Häufig sind es zudem ja Teenager, die vom College in die NBA wechseln und dort dann auf einmal gegen ausgewachsene Männer ranmüssen. Das trifft zwar nicht auf Hield zu, dafür aber auf einen großen Teil seiner Mit-Rookies.

SPOX: Dann ist das One-and-Done-System also mit Schuld?

Fraschilla: Ja, das muss ja zwangsläufig passieren. Was viele Superstars, die schon im ersten Jahr dominant waren, von den heutigen Kids unterscheidet, ist nun einmal die Zeit, die sie am College waren. David Robinson, Tim Duncan, Patrick Ewing Michael Jordan, in jüngerer Vergangenheit Damian Lillard waren alle drei oder vier Jahre am College und kamen dann eben reifer in die Liga. Sicher gab es auch Gegenbeispiele wie LeBron James, der ja gar nicht am College war, aber das ist eben auch die Definition eines Ausnahmetalents - das ist selten. (lacht) NBA-Teams legen aber schon lange viel mehr Wert darauf, einen jungen Spieler mit Potenzial zu bekommen, als einen reiferen, der vielleicht nicht mehr so viel Upside mitbringt. Da muss man sich dann eben auch drauf einstellen, dass die Eingewöhnung länger dauert. Und selbst bei den Spielern, die individuell sofort auffallen wie Towns oder Davis, muss man sagen: Team-Erfolg hatten sie bisher auch noch nicht. Darauf hat meiner Meinung nach auch die fehlende Ausbildung am College eine gewisse Wirkung.

SPOX: Immerhin einen Rookie im "technischen Sinne" gibt es, der schon jetzt großen Einfluss ausübt...

Fraschilla (unterbricht): Joel Embiid! Was ist das für eine Freude, ihn endlich auch auf diesem Level spielen zu sehen. Ich hatte zu seiner College-Zeit relativ häufig die Möglichkeit, ihn bei Kansas spielen zu sehen. Meine erste Reaktion war schon damals: 'Wow, der erinnert mich an Hakeem Olajuwon!' Natürlich ist er auch jetzt noch lange kein Hakeem - aber die Physis, die Vielseitigkeit und vor allem diese Fußarbeit erinnern schon stark an ihn. Ich hoffe einfach, dass er jetzt wirklich gesund bleibt - nichts anderes kann ihn stoppen, ein Superstar in der NBA zu werden. Wie wir alle drücke ich ihm die Daumen, dass er nicht so viele Probleme haben wird wie andere Big Men, zum Beispiel Bill Walton oder Arvydas Sabonis, die ja fast nie eine Saison durchspielen konnten. Wie gesagt: Etwas anderes kann ihn nicht aufhalten, da er unheimliches Talent mitbringt und zudem auch noch die Intelligenz hat, sich richtig coachen zu lassen.

SPOX: Dann sprechen wir noch über einen anderen Rookie: Paul Zipser. Bisher hat er nicht viele Chancen bekommen, aber wie schätzen Sie seine Aussichten in Chicago langfristig ein?

Fraschilla: Die eine Qualität, die ich bei Paul schon immer sehr geschätzt habe, ist folgende: Er weiß, dass er ein Rollenspieler ist. Das war beim FC Bayern so, das ist beim Nationalteam der Fall und das wird auch weiterhin so sein - und es ist eine gute Sache. Es gibt in der NBA rund 450 Spieler, von denen vielleicht 30 Stars oder Superstars sind. Der Rest besteht aus Rollenspielern und Spezialisten, egal welcher Art. Paul weiß, was er kann: Defense, Toughness, offene Würfe treffen, sich abseits des Balls bewegen. Leider ist es aber auch für jemanden wie ihn, der schon lange Jahre auf hohem Niveau gespielt hat, eine schwere Umstellung auf den NBA-Level. Er muss sich eingewöhnen und außerdem auch die Coaches von sich überzeugen. Ich kann daher nicht vorhersagen, wie gut und lange er in der NBA spielen wird, aber er hat das Rüstzeug und die mentale Härte, die ihn von anderen jungen Spielern unterscheidet, die sich immer und überall für Stars halten. Jetzt muss er seine Nische finden und sich dabei nicht aus der Ruhe bringen lassen. Er wird seine Chancen schon noch bekommen.

Der Spielplan im Überblick