Der Mann hinter dem Schild

Stefan Petri
18. September 201411:30
SPOXgetty
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Das Skandal-Video von Baltimore Ravens-Running Back Ray Rice hat die Liga schwer getroffen, das Krisenmanagement war eine einzige Katastrophe. Die erste Krise ist es nicht, trotzdem: Die Rücktrittsforderungen gegenüber NFL-Commissioner Roger Goodell werden immer lauter. Was steckt hinter dem "mächtigsten Mann im Sport" - und warum hat er trotz allem die Rückendeckung seiner Bosse?

1981: Der 22 Jahre alte Roger Goodell hat seinen Wirtschaftsabschluss vom Washington & Jefferson College in der Tasche. Er war als Kind Schülerlotse, hat als Barkeeper gejobbt, bei den Kampagnen seines Vaters, des ehemaligen Senators Charles Goodell, eifrig mitgeholfen. Bis 17 spielte er Football, dann kam eine schwere Knieverletzung.

Er schreibt einen Brief an seinen Vater: "Wenn es etwas gibt, das ich in meinem Leben erreichen will, außer Commissioner der NFL zu sein, dann, dass Du stolz auf mich bist." Dann bewirbt er sich neun Monate lang bei allen 28 Teams der NFL und beim damaligen Commissioner Pete Rozelle, immer und immer wieder. Schließlich bekommt er ein Praktikum in der PR-Abteilung. Kaffee holen und Zeitungsartikel abheften.

2014: Goodell hat seine Ziel erreicht, seinen Jugendtraum verwirklicht. Seit 2006 ist er der Boss der National Football League, für viele der mächtigste Mann im Sport überhaupt. Sein Motto: "Protect the Shield - "Den Schild beschützen", in Anlehnung an das schild-ähnliche Wappen der Liga.

Dieser Schild hat zuletzt einige Kratzer und Beulen davongetragen. Klar, Skandale gibt es immer, in jedem Sport. Doch noch nie stand Goodell so unter Druck wie diesmal.

Der Fall Ray Rice

Die neue Saison hat wieder Fahrt aufgenommen. Die Einschaltquoten sind - wie immer - hervorragend. Die NFL bietet den mit Abstand beliebtesten Sport in den USA, und dazu noch die mit Abstand beliebteste TV-Show. "Alles Roger", möchte man sagen. Und doch erschüttert der Ray-Rice-Skandal die Liga derzeit in ihren Grundfesten.

Der Running Back der Baltimore Ravens hatte seine damalige Verlobte Janay Palmer im Februar in einem Casino in Atlantic City bewusstlos geschlagen und war dabei gefilmt worden, wie er sie aus einem Aufzug schleifte. So weit, so gut, möchte man fast zynisch meinen, eben einer der mittlerweile 42 Fälle häuslicher Gewalt in Goodells Amtszeit.

Rice bekommt lächerliche zwei Spiele Sperre, die Sache ist erledigt. Passendes Fazit wäre wohl "ein Klaps auf die Finger" - wenn der Fall Adrian Peterson nicht wäre...

Weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen. Gibt es nicht? Gibt es doch!

Verpatztes Krisenmanagement

Denn das Klatschportal "TMZ" präsentiert pünktlich zum Saisonstart plötzlich Aufnahmen aus dem Inneren des Fahrstuhls. Jeder wusste, was passiert war, der Polizeibericht ist bekannt. Dennoch: Es sind Bilder, bei denen sich einem der Magen umdrehen möchte. So explodiert der Fall erneut - doch der Zorn der Öffentlichkeit lässt vergleichsweise schnell von Rice ab und sucht sich mit der NFL ein neues Ziel.

Deren Umgang mit dem Thema ist, gelinde gesagt, ein Desaster, an Unfähigkeit kaum zu überbieten, den Enthüllungen immer zwei Schritte hinterher. Vernachlässigung, Verharmlosung, Vertuschung, Falschaussagen. Man könnte alles fein säuberlich auflisten - oder es mit einem Zitat Goodells vor seiner Wahl zum Commissioner bewenden lassen: "Man muss Dinge ändern, bevor man dazu gezwungen wird. Man muss schon vorher eine bessere Lösung finden." Und sich sprachlos die Augen reiben, angesichts dieser beißenden Ironie.

Mittlerweile wird allerorts nach Goodells Rücktritt verlangt, von Spielern über Journalisten bis hin zu landesweiten Frauengruppen und Senatoren. Könnte er tatsächlich über Ray Rice stolpern?

25 Milliarden Gründe

Das hängt zunächst einmal von seinen 32 Arbeitgebern ab, den 32 Besitzer(gruppe)n der NFL-Franchises. Auch wenn sie ihm in vielen Dingen Autonomie gewähren, vertritt er letzten Endes doch ihre Interessen. Und füllt ihre Konten.

Womit der wichtigste Punkte schon angesprochen ist: Goodell mag seine Schwächen haben, doch am Verhandlungstisch ist er ein Ass. Schon als Berater seines Vorgängers Paul Tagliabue vollendete er Deals mit der Spielergewerkschaft, neuen Sponsoren und TV-Sendern. Unter seiner Ägide ist der Umsatz der NFL auf über zehn Milliarden Dollar angeschwollen, aber das soll längst nicht alles sein. Goodells Ziel: Unglaubliche 25 Milliarden Umsatz bis 2025. Welcher Teambesitzer möchte ihn angesichts dieser Zahlen schon absägen?

Gibt es Alternativen?

So halten sie zu ihm, selbst im Auge des Sturms. "Ich habe ein mulmiges Gefühl, die Sache fängt an, außer Kontrolle zu geraten", vertraute ein Besitzer Peter King von "Sports Illustrated" an. "Aber ich halte zu Roger. Er hat Großartiges für unsere Liga bewirkt."

Was hätten die Männer am Ruder zu gewinnen, wenn sie Goodell bei einem Großreinemachen vor die Tür setzen? Mehr Geld wohl kaum. Die Bilanz des 55-Jährigen ist hervorragend - obwohl die NFL im wahrsten Sinne des Wortes eine Lizenz zum Gelddrucken ist. Doch das ist nicht alles.

Man darf nicht vergessen: Goodell ist seinen Bossen gegenüber loyal und trägt auch Entscheidungen mit, die er selbst nicht treffen würde. Man denke etwa an die Replacement Referees vor zwei Jahren. Als Sohn eines Politikers kann er sich auf höchstem Parkett gut verkaufen und Befragungen im Kongress aalglatt an sich abprallen lassen, so geschehen in der Diskussion um Gehirnerschütterungen. Für die NFL ein Glücksfall.

Bleibt nur noch ein besseres Image. So manch einer würde Condoleezza Rice gerne auf Goodells Thron sehen. Das gäbe lobendes Rauschen im Blätterwald, kein Zweifel. Aber wäre Rice so vorbehaltlos loyal? Hätte sie zuallererst die Brieftaschen der Besitzer im Sinn? Mit frommen Wünschen in punkto Weltverbesserung kann man sich schließlich nichts kaufen.

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Goodell als perfekter Sündenbock

In den Chefetagen der NFL-Teams sitzen Zyniker: Zu Hochzeiten sind über 2000 junge Männer mit Geld in der Tasche angestellt, davon sind viele in schlimmsten Verhältnissen aufgewachsen. Ohne Skandale und Verhaftungen, ganz besonders im Social-Media-Zeitalter, wird man nie auskommen, und in den meisten Kriminialstatistiken schneidet die Liga doch verhältnismäßig gut ab. Und wenn das Kind in den Brunnen fällt, hat man mit Goodell den perfekten Sündenbock an der Hand.

Warum also etwas ändern? Wer macht es denn so viel besser? Die von Rassismus-Skandalen befallene NBA? Das IOC? Die FIFA?

Treffen könnte man die NFL nur im Geldbeutel. In der Tat haben, wie in solchen Fällen üblich, schon die ersten Sponsoren zaghaft nach Aufklärung verlangt. Aber sich komplett von der "Cash Cow" NFL loszusagen, das bringt kaum jemand übers Herz, schon gar nicht die Fernsehanstalten. Denn der Zuschauer stimmt mit der Fernbedienung ab, und die Quote beim Spiel der Ravens am vergangenen Donnerstag war doppelt so hoch wie noch vor einem Jahr.

"Unabhängige" Untersuchung

So spielen alle das Spiel mit und ignorieren unangenehme Fragen so lange wie irgend möglich. Um im Fall Rice für vollständige Aufklärung zu sorgen, hat die Liga den ehemaligen FBI-Direktor Robert Mueller beauftragt, eine Untersuchung durchzuführen. Unabhängig ist die nicht einmal auf dem Papier: Mueller arbeitet für eine Kanzlei mit langjährigen Beziehungen zum Besitzer der Baltimore Ravens - und saß beim letzten TV-Deal nebenbei am NFL-Tisch.

Passend dazu: Während sich Teams mittlerweile dem öffentlichen Druck beugen und Spieler unter Anklage zumindest zeitweise aus dem Verkehr ziehen, darf der "NFL Commish" weiter schalten und walten.

Kein Wunder, dass sich Goodell laut eigener Aussage keine Sorgen um seinen Job macht, allen Rücktrittsforderungen zum Trotz.

Der Mann, der den Schild hochhält

"Ich bin die Kritik gewohnt", sagte der NFL-Boss vor einer Woche im sorgfältig ausgewählten Interview bei "CBSNews". "Ich muss mir meine Streifen jeden Tag neu verdienen." Goodell ist ein Mann mit Schwächen, der gleichzeitig mit einer Menge Stärken ausgestattet ist. Durchhaltevermögen ist eine davon: 24 Jahre arbeitete er sich die Karriereleiter hinauf, bis er sein Ziel erreichte. Goodell lebt seinen Traum - und die NFL ist sein Leben. "Er hat sein Leben in die NFL gesteckt, sich selbst völlig aufgegeben", sagt Cowboys-Besitzer Jerry Jones. Rücktritt? Ausgeschlossen.

An der Spitze der Liga steht ein Mann, der die NFL-Klaviatur zu spielen gelernt hat. Nicht gerade virtuos, doch den Dreiklang zwischen den Besitzern, Spielern und Medien beherrscht er. Seine Chefs vertrauen ihm. Gegenüber den Profis hat er sich als harter Hund etabliert, mit ebenso harten Strafen. "Wie in einer Diktatur", erklärte Falcons-Receiver Roddy White. "Sein Wort ist Gesetz." Gleichzeitig kann er auch als Vaterfigur auftreten, wenn man ihm ehrlich und loyal gegenübertritt. Auf diese Art und Weise finden sich immer genug Fürsprecher hier oder ein lobender Zeitungsartikel da.

Auf einer Mission

Goodell ist ein Mann auf einer Mission, der das Beste für die Liga will, und davon überzeugt ist, die beste Lösung für die Liga zu sein. Blinder Eifer in Kombination mit der ihm übertragenen Vollmacht - Gewaltenteilung existiert nicht, gerade wenn es um das Strafmaß für Spieler oder Teams geht - ist eine gefährliche Mischung. Dabei ist er keineswegs realitätsfremd: Er pflegt den Umgang mit den Fans, ist nah dran am öffentlichen Puls. Es ist eine Art ausloten: Was kann ich mir gerade noch leisten?

Gegenüber den Medien ist er sich seiner Macht bewusst, und dementsprechend knallhart. Da werden Interviews gekürzt, unliebsame Dokumentationen gekillt, TV-Partner unter Druck gesetzt. Alles mit nur einem Ziel: Protect the Shield.

Sein Vater verlor das Senatorenamt nach öffentlicher Kritik am Vietnam-Einsatz, wich jedoch nicht von seinen Überzeugungen ab. Dieses Verhalten imponierte dem jungen Roger sehr, er machte sich dessen Maxime zu eigen. Für ihn ist es ein notwendiges Übel, geradezu eine Bestätigung. So bleiben oft nur Scherben zurück.

Reagiert wird nur dann, wenn der Druck irgendwann zu groß wird. Siehe Gehirntraumata: Kürzlich gab die Liga zu, dass bis zu einem Drittel aller Spieler nach ihrer Karriere mit bleibenden Schäden rechnen müsse. Siehe der Fall Rice, als zunächst die Strafen für häusliche Gewalt angehoben und kurze Zeit später Expertinnen zum Thema angestellt wurden. Positive Schlagzeilen - verzweifelt gesucht. "Ich mache nichts aus PR-Gründen", sagte er 2012 dem "Time Magazine", "sondern weil es das Richtige ist und ich den Sport liebe." Dem bleibt nichts hinzuzufügen.

Fazit: Weil es funktioniert

Warum das ständige Abblocken, Dementieren, Reagieren? Warum die Salami-Taktik? Ganz einfach: Weil es funktioniert. Die NFL hat allein in den letzten Jahren Skandale ausgesessen, die auf keine Kuhhaut gehen. Gehirnschäden, Schmerzmittel, Doping, Marihuana, Bullying, die Kopfgeld-Affäre der Saints, die Referees, die Redkins, die Ticketpreise, SpyGate, jetzt Rice. Den Einnahmen hat es nicht geschadet. Die Öffentlichkeit vergisst schnell, ganz besonders dann, wenn es am Sonntag wieder kracht.

Wie sagte doch ein Krisenmanager in Bezug auf die SpyGate-Affäre schon 2007 zur "New York Times": "Roger Goodell hat seine Lektion von Richard Nixon gelernt: Wenn die Bänder zerstört werden, behält man seinen Job." In der Spionage-Affäre der New England Patriots hatte Goodell die Videoaufnahmen auffällig schnell vernichtet - ging dieser Versuch bei Rice schief?

Natürlich alles nur Spekulation. Also warten wir auf die Ergebnisse der unabhängigen Untersuchung. Mit neuen Erkenntnissen oder gar Konsequenzen sollte man allerdings nicht rechnen.

Es sei denn, es gibt Video-Aufnahmen.

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