NFL Draft 2022: Christian Watson - Vom Fehler im System zum möglichen Top-Pick

Marcus Blumberg
08. April 202210:30
Christian Watson überzeugte mit starken Vorstellungen im Senior Bowl und der Scouting Combine.imago images
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Christian Watson schockte die Footballwelt mit herausragenden Vorstellungen beim Senior Bowl und der Scouting Combine - und wird plötzlich als Erstrunden-Pick gehandelt. Vor ein paar Jahren jedoch war diese Entwicklung noch nicht absehbar. Und ein Fehler im System sorgte dafür, dass ihn beinahe gar keiner entdeckt hätte.

Wenn es darum geht, in die NFL zu kommen, gibt es viele Wege, die ans Ziel führen können. Das sehen wir in jedem Jahr - manche Spieler sind hoch gehandelte Talente, die früh gezogen werden, andere jedoch fliegen über ihre gesamte Footballkarriere hinweg unter dem Radar und schaffen den Sprung sogar erst als Undrafted Rookies.

Gleiches gilt auch für den Sprung aufs College.

Ein Paradebeispiel dafür ist Wide Receiver Christian Watson, dessen Weg vom unscheinbaren Backup zum potenziellen Erstrunden-Pick in wenigen Wochen alles andere als geradlinig verlief. Und das durchaus überraschend.

Watsons Familie nämlich steht für Football. Sein Vater Tim spielte fünf Jahre als Safety in der NFL für die Chiefs, Giants und Eagles in den 90er Jahren. Und Bruder Tre spielte Linebacker auf FBS-Level für Illinois (2015-2017) und Maryland (2018).

Watson derweil gilt mittlerweile als eines der Talente, die die Pre-Draft-Phase am besten zur Eigenwerbung genutzt haben. Beim Senior Bowl überschlugen sich die Lobeshymnen auf den bis dahin eher unscheinbaren Receiver von North Dakota State. Speziell sein Speed und seine Größe, aber auch seine Bewegungen und sein Release waren mit das Beste, was die Beobachter des Senior Bowls in diesem Jahr zu sehen bekamen.

Watson setzte dann bei der Scouting Combine in Indianapolis noch einen drauf und glänzte mit einer für seine Statur (1,93 m, 94 kg) atemberaubenden 40-Zeit von 4,36 Sekunden. Und auch seine anderen Zahlen (Vertical: 38,5 Inches, Broad: 136 Inches) waren beeindruckend.

Mit einem Relative Athletic Score - eine Art Pound for Pound Ranking für Combine-Teilnehmer - von 9,96 (10,0 ist das Maximum) landete er in den Top 5 aller Wide Receiver seit 1987 und damit in einer Reihe mit NFL-Superstars wie Calvin "Megatron" Johnson und Julio Jones.

Relative Athletic Score: Christian Watson in der historischen WR-Top-5

SpielerCollegeJahrRAS
Calvin JohnsonGeorgia Tech200710,00
Julio JonesAlabama20119,97
Javon WalkerFlorida State20029,97
Christian WatsonNorth Dakota State20229,96
D.J. CharkLSU20189,93

Allerdings darf dies durchaus als überraschend bezeichnet werden. Denn vor ein paar Jahren noch war er weit weg vom Gesprächsthema Nummer 1 unter Footballbeobachtern. Die Angebote der großen Colleges flatterten Christian Watson nicht gerade um die Ohren.

Ganz im Gegenteil: Als es darum ging, sich für ein College zu empfehlen, war Watson seinerzeit nur das fünfte Rad am Wagen in seinem eigenen Team an der Henry B. Plant High School in Tampa/Florida. Seine Positionskollegen Whop Philyor, Juwan Burgess, Thomas Allen und Micah McFadden bekamen allesamt Angebote von größeren Schulen, nur er nicht.

Sein Problem? Er war zu klein, zu schmächtig und zu langsam. Als rundum das Jahr 2015 das Recruiting begann, war Watson gerade mal 1,75 Meter groß und wog knapp 63 Kilogramm. Und im Schatten der größeren Namen flog er zusätzlich unter dem Radar.

Wie es der Zufall so wollte, waren die üblichen Attribute aber auch nicht das, was Atif Austin suchte. Jener war damals Assistant Coach von North Dakota State, stammte aus der Region Tampa Bay und war daran interessiert, jemanden aus seiner Heimat mit dem gewissen Etwas zu finden. Zudem ist North Dakota State eine FCS-Schule, also gewissermaßen "zweitklassig", sodass es ohnehin schwer für dieses College ist, Talente davon zu überzeugen, nach Fargo zu kommen.

Entsprechend ist ein besonderes Auge gefragt. "Ich suche nach diesem besonderen Burschen, diesem Rohdiamanten, den die Power-5-Schulen übersehen haben", sagte Austin damals bei seinem Besuch in Tampa zum damaligen Head Coach von Plant, Robert Weiner, wie er The Athletic erzählte. "Vielleicht ist dieser Bursche ein bisschen langsamer, ein paar Inches kleiner oder er hat etwas, wonach die Power-5s ohnehin nicht schauen", präzisierte Austin sein Anforderungsprofil.

Christian Watson hatte das gewisse Etwas

Und Weiner hatte sofort Watson im Kopf. "Coach Weiner sagte, dass dieser Junge so langsam den Anschluss findet und ein bisschen besser läuft", erinnerte sich Austin. Watson war zu dem Zeitpunkt nach einem plötzlichen Wachstumsschub bereits 1,85 Meter groß und brachte immerhin fast 73 Kilogramm auf die Waage. "Er erzählte mir, dass er beim Laufen noch etwas trottelig aussah, aber so langsam in seinen Körper hinein wuchs."

Weiner räumte jedoch auch ein: "Ich bin mir nicht sicher. Er könnte einer in der Zukunft werden." Doch laut Austin war er es zu jenem Zeitpunkt einfach noch nicht.

Dann kam eine kleine Portion Glück für Watson dazu, denn am Tag, als sich Austin das Training von Plant anschaute, regnete es in Strömen. Und Austin gab später zu, dass er weitergezogen wäre, wenn das Training zur Mittagszeit gewesen wäre, da er noch andere Termine zu der Zeit hatte. Doch Plant trainierte in aller Regel abends, sodass Austin sich die Zeit nahm. Immerhin suchte NDSU damals auch noch einen großen Outside-Receiver, der in der Z-Rolle agieren konnte.

Dann begann das Training. "Dann saß ich also da und beobachtete, wie Christian sein individuelles Training absolvierte und wie er sich auf dem Feld bewegte. Und dann dachte ich mir: 'Mann, dieser Junge hat etwas Besonderes.' Ich sah einiges von seiner Beweglichkeit und erkannte, worüber Coach Weiner gesprochen hatte. Da war etwas. Er war damals wahrscheinlich sechs Fuß groß und sah lang und wirklich gut aus. Und ich persönlich war der Meinung: 'Oh Mann, damit kann ich arbeiten. Ich kann ihn weiterentwickeln'", berichtete Austin.

Was sich ebenfalls zugunsten von NDSU auswirkte, war das Scouting-System im College Football. Die großen Colleges - und in Florida gibt es einige davon in den Power-5-Conferences - schauen in aller Regel nicht mehrfach auf eine Recruiting-Klasse. Wer beim ersten Aussieben durchs Rost gefallen ist, der hat wenig Chancen, nochmal "gesehen" zu werden.

So war es auch mit Watson, denn dieser gab North Dakota State zwar schon recht früh seine Zusage, nachdem Austin für ihn gekämpft hatte, doch es war immer noch mehr als ein Jahr Zeit bis zum National Signing Day, seine Meinung zu ändern. "Du sitzt da und hast die ganze Zeit bis zum Signing Day Angst. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht, denn wenn doch noch jemand den Burschen entdeckt, hätte ich ihn locker an eine andere Schule verlieren können", gab Austin zu.

Christian Watson überzeugte mit starken Vorstellungen im Senior Bowl und der Scouting Combine.imago images

Christian Watson: Überschattet vom eigenen Teamkollegen

Doch Watsons Umstände erschwerten es den anderen Schulen, ihn zu entdecken. In seiner Senior-Saison, seiner besten auf der High School, kam er zwar auf 23 Catches für 393 Yards und beachtliche acht Touchdowns. Doch Teamkollege Philyor dominierte mit 93 Receptions für 1329 Yards und 20 (!) Touchdowns. Im damaligen regionalen Top-30-Talente-Ranking der Tampa Bay Times war entsprechend nicht mal Platz für Watson.

Und so bekamen die Bisons dann tatsächlich Austins Wunschspieler, der daraufhin eine beachtliche College-Karriere hinlegte. Die Highlights: Vier FCS-Championships in fünf Jahren, dabei war er drei Jahre Starter und ein effektiver Kick-Returner und wurde zweimal als FCS All-American ausgezeichnet. Nun geht's in den NFL Draft - den Philyor übrigens 2021 ungedraftet durchlief. Jener schaffte es nach vier Jahren bei Indiana gerade mal auf die Practice Squad der Minnesota Vikings, wurde aber im Oktober 2021 wieder entlassen.

Ein Schicksal, dass Watson wahrscheinlich nicht droht. Schaut man sich die hiesigen Mock Drafts an, dann reden wir bei Watson zwar vermutlich eher über einen Tag-2-Pick - doch immer wieder taucht er mittlerweile auch am Ende der ersten Runde auf. Der "Buzz" ist definitiv vorhanden. Und das hat er in erster Linie seiner Hartnäckigkeit zu verdanken.

"Er hat sich den Arsch aufgerissen", attestierte ihm sein einstiger Head Coach Chris Klieman, der seinen Erfolg bei den Bisons in einen Wechsel zu Kansas State zur Saison 2019 umgemünzt hat. "Er ist ein Top-Level-Wide-Receiver. Er ist kein Rollenspieler irgendwo. Dieser Bursche hat unglaubliche Fähigkeiten."

Fähigkeiten, die er allerdings wie schon zu High-School-Zeiten vielleicht zu selten aufs Tape gebracht hat.

Christian Watson: Bislang nur gegen FCS-Konkurrenz aktiv

Ein Grund dafür dürfte die Offense der Bisons sein, die sehr über das Laufspiel kommt. Die Pass-Rate in der abgelaufenen Saison lag bei gerade mal bei 33,9 Prozent. Entsprechend hatte Watson wenige Gelegenheiten, sich selbst in Szene zu setzen. Und wenn, dann hatte er mit Drops zu kämpfen - 16 an der Zahl in seiner College-Karriere.

Immerhin: durch seine nun sehr stabile Statur glänzte er immer wieder im Run Game als Blocker, was heutzutage vielerorts in der NFL gefragt ist von einem Wide Receiver. Ein weiterer Vorwurf ihm gegenüber ist, dass er eben nur gegen FCS-Konkurrenz gespielt hat und dort eben auch davon profitierte, dass er mit seinem Speed nur selten in Probleme geriet und zum Beispiel bei Jet Sweeps immer eine Lücke fand, die es so in der NFL wohl nur selten geben wird.

Im Senior Bowl allerdings stellte Watson auch unter Beweis, dass man ihn coachen kann. Er nahm die Hinweise des Coaching Staffs der Detroit Lions positiv auf und passte sein Spiel in der kurzen Woche durchaus gewinnbringend an. "Die Zeit war begrenzt, um Coaching-Tipps in mein Spiel zu integrieren. Aber eine Sache, die ich direkt angewandt habe, waren Releases an der Goal Line", berichtete Watson am Rande der Combine.

Die Wirkung dieser Anpassungen war für jeden ersichtlich. Und die Vermutung liegt nahe, dass Watson mit täglichem NFL-Coaching noch sehr viel mehr Potenzial abrufen kann als er bisher gezeigt hat. Doch auch jetzt schon wird er mit namhaften Spielern verglichen.

Klieman sieht ihn als größere und schnellere Version von Kendrick Bourne, der auch mal FCS gespielt hat. Austin wiederum fühlt sich sogar an Cooper Kupp erinnert, weil jener auch vor seiner NFL-Karriere keine große Beachtung fand.

In jedem Fall ist Watson aber schon jetzt ein weiterer Beweis dafür, dass es sehr viele Wege gibt, es in die NFL zu schaffen.

Für ihn geht es nun darum, zu zeigen, dass er dort auch Fuß fassen kann.