Mit Träumen von der Fußball-Karriere im Gepäck kam Cairo Santos einst in die USA - einige Jahre später war er der erste Brasilianer in der NFL! Der Kicker der Kansas City Chiefs verrät bei SPOX, wie es zu dem Sportarten-Wechsel kam, welcher Chiefs-Spieler bei FIFA besonders gut ist, und wie ein Team tatsächlich mit dem Trip nach London umgeht. Außerdem beleuchtet er die mentalen Herausforderungen für einen Kicker - und blickt vor dem zweiten Saisonspiel gegen Denver (Mo., 2.30 Uhr live auf DAZN) auf seinen kuriosen Game-Winner gegen die Broncos zurück.
SPOX: Hallo, Herr Santos! Die letzten Wochen der Regular Season stehen bereits an - sind Sie zufrieden mit der Saison bislang?
Cairo Santos: Ja, wir sind sehr zufrieden! Wir haben jetzt zehn Spiele gewonnen und am Sonntag die Chance, gegen ein starkes Denver zur Primetime vor den Augen des ganzen Landes zu spielen. Das ist eine gute Gelegenheit für uns, ein Statement abzugeben: Wir wollen den Titel, und so wollen wir auch spielen.
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SPOX: Ein wichtiges Primetime-Spiel gegen Denver gab es in dieser Saison ja bereits - das endete mit einem kurzen Kick von Ihnen, der von der Torstange abprallte, und gerade so rein fiel! Im ersten Moment sah es so aus, als wüsste niemand auf dem Platz genau, ob der Schuss wirklich durch gegangen ist ...
Santos: ... oh ja, das war eines der besten Spiele, in dem ich jemals dabei war. Über die komplette Spieldauer ging es hin und her, ob Offense, Defense oder Special Teams, niemand hat sich etwas geschenkt und immer wieder stand es Unentschieden. Zu dem Kick selbst: Normalerweise versuche ich immer, genau die Mitte anzuvisieren. Aber der Kick ging etwas zur Seite und dann als Abpraller rein - glücklicherweise für uns. Schöner wäre es natürlich gewesen, wenn der Ball einfach mittig durchgeflogen wäre. Aber so hat es diesem Spiel noch eine weitere Geschichte gegeben.
SPOX: Keine Frage! Rein von der Distanz her war das Field Goal ja in etwa aus der gleichen Entfernung wie mittlerweile der Extra-Punkt nach dem Touchdown (33 Yards, d. Red.). Wo sehen Sie den Grund dafür, dass viele Kicker in dieser Saison solche Probleme mit dem Extra-Punkt haben? In Week 11 alleine gab es ja zwölf PAT-Fehlschüsse!
Santos: Beim alten Extra-Punkt aus 20 Yards konnte man sich als Kicker noch kleine Fehler erlauben und der Ball ist trotzdem rein gegangen. Die Entfernung war so kurz, dass kaum etwas den Kick beeinflusst hat. Jetzt, aus 33 Yards, ist es zwar kein langer Kick - aber man darf sich keine Fehler leisten. Erwischt man den Ball etwas zu weit rechts oder links, oder unterschätzt beispielsweise einen starken Wind oder Regen, spielt das eine Rolle. Ich denke nicht, dass Kicker unbedingt schlechter sind, die Wahrscheinlichkeit für erfolgreiche PATs ist einfach nach unten gegangen.
SPOX: Das war letztlich ja auch genau die Intention der Liga mit der Veränderung.
Santos: Ganz genau.
SPOX: Anderes Thema: Ihre sportlichen Wurzeln liegen, wie bei so vielen Athleten aus Brasilien, im Fußball. Wie lange blieben Sie beim Fußball, wie geschah der Wechsel zum Football?
Santos: Ich kam in der High School für ein Austauschjahr nach Amerika, um Fußball zu spielen - und habe stattdessen Football entdeckt. Ich erhielt letztlich sogar einige College-Stipendien für Fußball und Football, doch finden beide Sportarten im Herbst statt, also gleichzeitig. Deshalb musste ich mich entscheiden. Fußball - ich war immer Mittelfeldspieler - ist zwar meine größte Leidenschaft, aber im Football war die Chance für mich größer, Profi zu werden. Ich bin dankbar dafür, dass ich für diese Entscheidung belohnt wurde, aber keine Frage: Ich vermisse Fußball.
SPOX: Aber wie genau fing es an? Sie kamen als Austauschschüler, um Fußball zu spielen. Wer hat letztlich vorgeschlagen, dass Sie mal gegen den Football treten sollen?
Santos: Das waren meine Freunde in der High School! Ich hatte im Fußball immer einen recht kräftigen Schuss, und da haben sie vorgeschlagen, dass ich es doch mal als Kicker versuchen könnte. Ich wusste damals nicht viel über Football, ich wusste nur, dass die meisten Spieler groß und stark sind und sich gegenseitig tackeln. Ich dachte mir damals: Auf keinen Fall mache ich das! Dabei verletze ich mich am Ende und setze meine Fußball-Saison aufs Spiel. Aber die Jungs haben gesagt, dass ich einfach als Kicker spielen kann - und dass der Kicker nur aufs Feld kommt, um den Ball zu schießen. Also habe ich es ausprobiert und bin ins Football-Training gegangen. Die Coaches waren beeindruckt, ich konnte relativ schnell 50-Yard-Field-Goals verwandeln. Sie haben mir gesagt, dass ich hier eine echte Chance auf eine Karriere habe.
SPOX: Und hat es Ihnen auch direkt gefallen?
Santos: Es war super, Field Goals zu verwandeln ist ein bisschen wie im Fußball ein Freistoßtor zu erzielen. Man schießt den ruhenden Ball sozusagen ins Tor, ist direkt für Punkte verantwortlich - ein wirklich tolles Gefühl.
SPOX: Wie war dann das erste High-School-Spiel? Waren Sie nervös? Und vor allem: Haben Sie alle Kicks verwandelt?
Santos: (lacht) Ehrlich gesagt habe ich damals noch nicht allzu viel vom Spiel verstanden. Ich wusste nur, dass mir der Coach irgendwann Bescheid sagt, und ich dann den Ball kicke. Ich habe damals in meinem ersten Spiel ein 40-Yard-Field-Goal und alle PATs verwandelt, plötzlich gab es in einigen Zeitungen Artikel über mich und meinen Sprung vom Fußball zum Football. Das war natürlich wirklich cool.
SPOX: Ich habe außerdem gelesen, dass Sie angefangen haben, Madden zu spielen, um Football besser zu verstehen. Ist das korrekt?
Santos: Das stimmt, ja! Ich wollte unbedingt mehr über Football lernen, um zu verstehen, was da auf dem Platz eigentlich passiert. Deshalb habe ich mir Madden für die Xbox gekauft und so angefangen, die Positionen zu lernen, was ein First Down ist, was ein Punt ist, welche NFL-Teams es gibt, all das! Ich wollte einfach wissen, was überhaupt abgeht.
SPOX: Das hat dann ja recht gut geklappt, und nach der High School und dem College wurden Sie der erste Brasilianer, der in der NFL spielt! Haben Sie das in Ihrer Heimat gemerkt? Bei uns in Deutschland wächst das öffentliche Interesse an der NFL natürlich immer dann besonders, wenn Spieler aus Deutschland involviert sind ...
Santos: Oh ja! Ich habe das wachsende Interesse schnell über Social Media bemerkt, wo plötzlich mehr und mehr Leute über mich gesprochen haben. Als ich in meiner Junior-Season im College dann den Preis für den besten Kicker erhalten habe (der Lou Groza Award, d. Red.) hat das große Aufmerksamkeit erregt, und so wuchs das Interesse weiter. Es ist unglaublich, wie sehr das Interesse an der NFL in Brasilien über die letzten Jahre insgesamt gewachsen ist. Brasilien ist inzwischen, nach den USA und Mexiko, einer der größten Märkte für die NFL.
SPOX: Henry Hodgson hat mir bereits vor einigen Monaten gesagt, dass internationales Scouting zunehmend ein Thema wird - würde es sich da für die NFL nicht auch lohnen, in Brasilien nach Spielern - insbesondere Kickern - zu suchen?
Santos: Das ist zumindest definitiv etwas, das Brasilianer zunehmend auf dem Radar haben. Sie haben das Beispiel der deutschen Spieler ja schon angesprochen, zuletzt natürlich Moritz Böhringer, der von den Vikings gedraftet wurde. Wir haben selbst einen Spieler aus Kanada gedraftet und es gibt inzwischen mehrere brasilianische Kicker an Colleges. In meinen Augen ist das auch der beste Weg für Brasilianer: In der High School nach Amerika kommen und neben der Schulbildung auch das Spiel lernen, um sich dann weiter zu entwickeln. Ein konstant guter Kicker zu werden, ist etwas, das Jahre dauert. Das physische Talent kann von Anfang an da sein, aber die Konstanz zu entwickeln, das braucht Zeit.
SPOX: Das ist ein gutes Stichwort: In Ihren Augen, wie groß ist der mentale Aspekt wirklich? Platt formuliert denke ich, dass physisch jeder NFL-Kicker jeden Kick in jedem Spiel machen kann - aber trotzdem sieht man es immer wieder, dass einige Fehlschüsse einen Kicker komplett aus dem Konzept bringen können.
Santos: Ich denke der mentale Aspekt ist für einen Kicker der wichtigste. Man muss mental stark sein und gleichzeitig, wie man so schön sagt, ein Kurzzeitgedächtnis haben. Heißt: Egal, ob man gerade einen wichtigen Kick verwandelt oder einen einfachen daneben geschossen hat, der wichtigste Kick ist immer der nächste - so viele Spiele in der NFL werden mit nur drei, vier Punkten Unterschied entschieden. Man darf sich seiner selbst nicht zu sicher sein, gleichzeitig muss man den eigenen Fähigkeiten vertrauen. Im Training hat man schließlich wieder und wieder aus verschiedenen Positionen getroffen, darauf muss man vertrauen. Unter dem Strich muss man einfach eiskalt sein. Deshalb bin ich beispielsweise auch niemand, der Dinge großartig feiert, ich richte immer den Blick auf das nächste Spiel.
SPOX: Wie sieht denn das Training für Sie aus? Pat McAfee von den Colts hat mir zuletzt ausführlich erklärt, dass er pro Woche nur eine bestimmte Anzahl an Punts im Training macht, um das Bein nicht zu überlasten. Ist das bei Ihnen auch so?
Santos: Über die Zeit habe ich zunehmend gelernt, auf meinen Körper zu hören und die richtige Belastung zu finden, sowie die Erholungsphasen ernst zu nehmen. Ich kann im Training nicht einfach ein Field Goal nach dem anderen versuchen, ich muss meine Kraft einteilen. Qualität über Quantität, sozusagen. Wenn ich an einem Tag sagen wir mal zehn perfekte Kicks in Folge verwandle, dann höre ich auf und wende mich anderen Einheiten zu. Entscheidend ist es, am Sonntag mental und physisch bei 100 Prozent zu sein.
SPOX: Und wie läuft dann das wöchentliche Programm für einen Kicker in der NFL ab?
Santos: Wenn wir am Sonntag spielen, haben wir den Montag zunächst frei. Am Dienstag stehen dann Bein-Training und Film-Studium auf dem Programm, sowie Eisbäder und dergleichen, damit die Beine wieder frisch werden. Mittwoch bis Freitag sind die wichtigen Trainingstage, Field Goals allerdings gibt's nur am Mittwoch und am Donnerstag, rund 30 pro Einheit. Ansonsten werden dann auch Kick-Offs geübt, aber an keinem der beiden Tage kicke ich mehr als 45 Mal, würde ich sagen. Freitag ist physisch der ruhigste Tag, da geht es um Stretching, kleinere Übungen. Außerdem natürlich um den Game Plan. Dann ist schnell auch schon wieder Sonntag, da lässt du alles hinter dir. Beim Aufwärmen kicke ich so viele Field Goals, wie ich brauche, um meinen Rhythmus zu finden. Wichtig: Gekickt wird auf beide Field Goals, mit und gegen den Wind, um ein Gefühl für den Platz zu bekommen.
SPOX: Wenn Sie dann mal frei haben - verfolgen Sie gelegentlich noch Fußball-Teams? Bei Ihnen in Kansas City gibt es ja sogar ein MLS-Team.
Santos: Ja, und sie haben den Titel gewonnen, kurz bevor ich hierher gekommen bin, und sind jedes Jahr in den Playoffs! Die haben eine tolle Atmosphäre, ich gehe gerne hier zu Fußball-Spielen. Die Zuschauer sind ähnlich wie in Europa nahe dran am Feld, es macht Spaß. Mein Lieblingsteam aber ist der FC Chelsea. Als wir letztes Jahr in London gespielt haben, war ich am Tag davor an der Stamford Bridge und habe mir das Chelsea-Liverpool-Spiel angeschaut - das war fantastisch! Fußball ist meine oberste Leidenschaft, das war wirklich cool. Zuhause in Brasilien ist mein Team Flamengo, die ich auch verfolge. Man könnte also durchaus sagen, dass ich sehr viel meiner Freizeit mit Fußballschauen verbringe!
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SPOX: Bleiben wir kurz in London: Wie war es für Sie als Fußball-Fan, in Wembley zu spielen?
Santos: Das war unfassbar. Ich bin vor dem Spiel im Stadion herum gelaufen und in meinem Kopf sind tausende Filme von Spielen, die ich im Wembley-Stadion gesehen habe, abgelaufen: FA-Cup-Endspiele, Länderspiele, und so weiter. Viele Dinge kannte ich auch aus FIFA! (lacht) Wir waren in der Kabine, in der sonst auch die englische Nationalmannschaft ist, mit meinem Idol Frank Lampard! Es war für mich wie ein einziger Traum.
SPOX: Konnten Sie denn einige ihrer Chiefs-Mitspieler zu FIFA-Fans machen? Oder gibt's überhaupt kein Interesse an Fußball?
Santos: Oh doch! Tatsächlich ist FIFA bei uns im Team ziemlich beliebt - jeder behauptet, er wäre der beste FIFA-Spieler. Aber bisher bin ich ungeschlagen! (lacht) Fairerweise muss man natürlich sagen, dass ich mehr Freizeit habe als die meisten, und somit mehr üben kann. Nein, die Jungs lieben es, viele spielen FIFA und natürlich will jeder dann immer unbedingt gewinnen.
SPOX: Und wer ist der Beste nach Ihnen?
Santos: Jeremy Maclin! Der ist wirklich gut und fordert mir alles ab, aber noch bin ich der Chiefs-FIFA-Champion! (lacht)
SPOX: Nächstes Jahr werden dann ja erstmals vier NFL-Spiele in London ausgetragen. Was ist Ihr Eindruck, wie geht ein Team mit dem London-Trip um, wie groß ist der Unterschied zu einer anderen längeren Auswärtsreise wirklich?
Santos: Es ist schon eine Herausforderung: Zunächst natürlich der lange Flug, damit einhergehend der Zeitunterschied, auf den man sich einstellen muss - und das in kürzester Zeit, die meisten Teams kommen erst am Donnerstag oder Freitag an, also zwei oder drei Tage vor dem Spiel. Alles passiert unglaublich schnell. Aber: Nach unserem Spiel haben quasi alle gesagt, dass es eine tolle Erfahrung war - so viele Menschen im ausverkauften Stadion, der Wembley-Faktor, und einfach zu sehen, wie populär unser Sport in einem anderen Land ist.
SPOX: Was halten Sie dann von der Idee, ein NFL-Team permanent in London zu haben?
Santos: Man müsste natürlich viele Details drum herum klären. Beispielsweise müsste der Spielplan für die Teams, die auswärts in London spielen, angepasst werden - hat man etwa davor immer ein Spiel an der Ostküste, um die Distanz zu verkürzen? Da gibt es viele logistische Herausforderungen, ganz klar. Aber das ganze Konzept klingt für mich wirklich toll. Die NFL will den Sport weltweit weiter verbreiten, und für mich wäre eine Franchise in London der nächste Schritt auf dem Weg dahin. Ich denke, in den nächsten Jahren wird es sicher viele, viele Gespräche darüber geben, aber sollte es klappen, fände ich es super.
SPOX: Letzte Frage: Das eingangs erwähnte Spiel gegen Denver steht am Sonntagabend auf dem Programm, die Chiefs könnten ihr Playoff-Ticket buchen. Wie groß ist der Unterschied für einen Kicker, wenn in der Postseason nochmals mehr auf dem Spiel steht und jeder Kick noch kritischer wird?
Santos: Für mich ist es dabei wichtig, mir nicht noch zusätzlichen Druck zu machen. Als wir letztes Jahr in den Playoffs waren, hat man überall von dem erhöhten Druck gehört. Die Leute schreien noch lauter, all das. Aber ich habe mir selbst währenddessen die ganze Zeit gesagt: Es ist immer noch das gleiche Spiel. Wir setzen uns im Training stark unter Druck, damit sich das Spiel ähnlich anfühlt wie das Training. Diese Mentalität muss man als Kicker haben - es ist einfach ein weiteres Spiel, und man hat schon so viele Kicks verwandelt. Ruhig bleiben, und auf sich selbst vertrauen, darum geht es. Das Schöne beim Kicking ist doch: Es ist immer der gleiche Ball, die gleichen Hashmarks, die gleichen Torstangen. Man muss es einfach wie einen Kick im Training angehen.