Super Bowl: Rams-Coach Sean McVay: A Beautiful Mind

Von Adrian Franke
01. Februar 201908:49
Den nächsten Sean McVay zu finden ist der Traum mehrerer NFL-Teams - jetzt könnte der Rams-Coac der jüngste Super-Bowl-Sieger aller Zeiten werden.getty
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Sean McVay könnte der jüngste Head Coach werden, der jemals den Super Bowl gewinnt - in der NFL hat das einen wahren "McVay-Boom" losgetreten. Sein Weg bis nach Los Angeles war steil, und doch waren die Anzeichen früh erkennbar; dass er die Los Angeles Rams, die über Jahre im Mittelmaß steckten, aber derart blitzartig umdrehte, geht weit über taktische und schematische Aspekte hinaus. Den Super Bowl gibt's in der Nacht vom 3. auf den 4. Februar ab 0.30 Uhr live auf DAZN - mit Original-Kommentar zur Auswahl!

Es war der Running Gag schlechthin während der vergangenen Wochen. Als gleich acht Teams auf die Suche nach neuen Head Coaches gingen, kristallisierte sich ein Muster unweigerlich heraus: der nächste Sean McVay soll es sein!

Ob die Arizona Cardinals, die ein hohes Risiko eingehen und hoffen, in Kliff Kingsbury ihr junges, innovatives, offensives Mastermind gefunden zu haben, die Packers, die Ex-McVay-Assistent Matt LaFleur geholt haben oder die Bengals, die mutmaßlich Rams-QB-Coach Zac Taylor nach dem Super Bowl als neuen Head Coach vorstellen: "der nächste Sean McVay" wurde schon fast eine Redewendung.

Es wurde auch der Inhalt von Memes, Satire-Artikeln und Fragen wie: "wann bekommt eigentlich McVays Gärtner ein Head-Coach-Interview?" Selbst die FOX-Broadcast-Crew um Joe Buck und Troy Aikman wagte einen ähnlichen Scherz während einer Übertragung. Wirklich überraschend allerdings ist diese Tendenz in der Liga nicht.

Die NFL hat eine deutlich sichtbare Entwicklung in Richtung Offense eingeschlagen; auf dem Feld und an der Seitenlinie. Hatten 2010 noch 15 Head Coaches einen offensiven und 17 einen defensiven Hintergrund, so wird sich das Verhältnis 2019 - angenommen Taylor (Cincinnati) und Brian Flores (Miami) werden nach dem Super Bowl wie erwartet vorgestellt - auf 20:12 ändern. Von den acht Teams, die ihren Coach dieses Jahr entlassen haben, wechseln drei (Arizona, Cincinnati, Jets) von einem defensiven auf einen offensiven Coach, nur die Dolphins wählen den umgekehrten Weg.

Als die Rams McVay 2017 zum jüngsten Head Coach seit dem Liga-Zusammenschluss machten - laut ESPN gab es 1938 mit Art Lewis in Cleveland einen noch jüngeren Head Coach, Lewis war damals 27 -, wurde die Situation noch anders wahrgenommen; viele fragten sich, ob der damals 30-jährige McVay nicht noch zu jung für die Aufgabe wäre und wie Spieler auf ihn reagieren, die womöglich vier, fünf und mehr Jahre älter sind als er. Doch die Verpflichtung entpuppte sich als Volltreffer - aber wieso eigentlich?

McVay überstimmt seinen High-School-Coach

Es gibt diese Anekdote aus McVays Tagen als High-School-Quarterback für die Marist War Eagles of Atlanta aus dem Jahr 2003. Zwei Yards fehlten damals mit fünf Punkten im Rückstand zum Touchdown, 20 Sekunden vor dem Ende im Viertelfinale auf dem Weg zur State Championship. Coach Alan Chadwick, der diese Geschichte Jahre später der Wasington Post erzählte, nahm eine Timeout, und als er gerade zum entscheidenden Play-Call angesetzt hatte, unterbrach ihn sein junger Quarterback.

Er wollte, erklärte McVay, die Geschwindigkeit und Aggressivität der gegnerischen Defense gegen sie einsetzen, und bei einem Bootleg-Play-Action-Fake den Ball selbst behalten. Chadwick stimmte zu, McVay behielt Recht und spazierte ungehindert und unberührt zum Game Winner in die Endzone. Marist sollte den Titel einige Wochen später tatsächlich gewinnen.

Was ein wenig klingt wie die von NFL Films nur zu gerne für die ausführlichen Porträts von Football-Legenden effektvoll in Szene gesetzten Anekdoten, beschreibt gut, wie analytisch und fortgeschritten McVay das Spiel schon in jungen Jahren betrachtete. Heute als einer der innovativsten Play-Designer der NFL gefeiert, war er in der High School ein Option-Quarterback, der seine Reads genauso wie die Zuständigkeiten aller Blocker vor sich und die Zuordnungen mit den jeweiligen Verteidigern in der Box lesen und erkennen musste.

"Er hat alles verstanden", berichtete sein späterer College-Coach Shane Montgomery, für den McVay Wide Receiver spielte, der Washington Post. "Er hat die ganze Offense verstanden und war ein großartiger Anführer." McVays Vater Tim, der selbst für Indiana Defensive Back spielte und dessen Vater für die 49ers und Giants als Coach und im Management gearbeitet hatte, fügte hinzu: "Er hat sich in den ganzen intellektuellen Aspekt rein gearbeitet und versucht, sich so einen Vorteil zu verschaffen. Das hat sicher auch die Idee, Coach zu werden, bei ihm weiter gefördert."

Sean McVay - besser als Calvin Johnson?

Wenn man McVay heute auf diese Zeit anspricht, ist er eher zurückhaltend. Vor allem wenn es darum geht, dass der junge, mobile Quarterback Sean McVay 2003 State Player des Jahres in Georgia wurde - vor einem gewissen Calvin "Megatron" Johnson.

"Das war lächerlich", stellte McVay in der L.A. Times klar. "Er war der beste Receiver des Landes, ich war nur jemand, der im State Championship Team alles gegeben hat. Es war eigentlich ein Preis für den Erfolg unseres Teams. Ich glaube niemand hätte damals gesagt: "Sean ist ein besserer Spieler als Calvin Johnson." Aber wir waren das erfolgreichere Team, und dann hat man den Preis eben dem Quarterback gegeben."

In McVays Schule sah man das selbstverständlich anders. Kyle Farmer, inzwischen Profi in der MLB, folgte einige Jahre später auf McVay als Starting-Quarterback für Marist und erinnert sich: "Jeder hat zu ihm aufgesehen. Er war wie ein Gott, wenn er durch die Flure gelaufen ist, einfach weil er so gut war. Aber gleichzeitig blieb er komplett auf dem Boden und war ein ganz normaler Typ."

Sean McVay lernt unter Jon Gruden

McVays High-School-Erfolge übertrugen sich allerdings nicht auf das nächste Level. Für Miami (Ohio) fing er, zum Receiver umgeschult, in drei Jahren 39 Bälle für 312 Yards. Ein College-Touchdown blieb ihm verwehrt, den Football wollte McVay aber auch nach seinem Uni-Abschluss nicht verlassen - und in dieser wegbereitenden Phase profitierte McVay von alten Familienfreunden.

Die McVays waren als Football-Familie über mehrere Generationen gut vernetzt, vor allem mit den Grudens war man seit vielen Jahren befreundet und der junge Sean hatte eine Beziehung zu Jon Gruden aufgebaut. Der war, als McVay 2008 frisch aus dem College seinen nächsten Schritt plante, in den letzten Zügen seiner Amtszeit als Head Coach der Tampa Bay Buccaneers und bot McVay einen Job an.

Es war die Art "Mädchen für alles"-Job, die in der NFL schon für viele den Einstieg bedeutete. Aber es war ein NFL-Job, und wie Seans Vater Tim anmerkte: "Wie viele Kids werden schon direkt aus dem College in der NFL angestellt? Das sind wirklich nicht viele. Plötzlich war er einer der Assistenten von Jon, und er hat sich dieser Aufgabe komplett verschrieben."

McVay über die UFL zu den Washington Redskins

Grudens Entlassung in Tampa Bay im Januar 2009 legte McVays NFL-Karriere für ein Jahr auf Eis, dem Football blieb er aber treu und coachte in der United Football League, die ganze drei Jahre schaffte ehe die finanziellen Mittel ausgingen (2009 bis 2012), die Wide Receiver der Florida Tuskers - übrigens unter Jons Bruder Jay, der damals Offensive Coordinator der Tuskers war und später McVays Head Coach in Washington werden sollte.

Doch war es McVay, der zuerst in die Hauptstadt kam: Mike Shanahan, der damalige Head Coach der Redskins, suchte einen Assistenz-Trainer, um mit den Tight Ends zu arbeiten - es dauerte nicht lange, ehe er sich für McVay entschied, wie er später der Washington Post verriet: "Er stellte Fragen, die Leute in seinem Alter normalerweise nicht stellen. Er wollte für alles den Grund wissen."

Und auch der heute frisch gebackene Packers-Head-Coach Matt LaFleur, den McVay später zu den Rams mitnahm, erinnert sich genau. Er war damals derjenige, der befördert wurde und dessen Assistenztrainer-Posten neu besetzt werden sollte; und LaFleur konnte Teile des Gesprächs zwischen McVay und Washingtons damaligem Offensive Coordinator Kyle Shanahan mithören.

"Ich habe durch die Wand gehört, wie er Plays installiert hat. Das war ziemlich beeindruckend", zitiert der Ringer LaFleur, der auch seine ersten direkten Gespräche mit dem neuen, jungen Kollegen noch bestens im Kopf hat: "Ich wusste, dass er Head Coach wird, als ich mich das erste Mal mit ihm getroffen habe. Er hat einfach eine wahnsinnig positive Energie, ist extrem intelligent, liebt Football mehr als irgendwer, den ich kenne - und er ist einfach brillant. Ich glaube, er könnte ein fotografisches Gedächtnis haben."

Sean McVay - A Beautiful Mind

Der Aufstieg ging dann genauso kometenhaft weiter und als Jay Gruden 2014 als neuer Head Coach in der Hauptstadt übernahm, gab es den nächsten großen Schritt für McVay: Gruden machte ihn zum Offensive Coordinator. Drei Jahre später stellten ihn die Rams als jüngsten Head Coach in der modernen NFL vor.

Und während die Head-Coach-Suche anderer Teams in diesem Jahr zum McVay-Meme-Fest wurde, hatte sich McVay selbst bereits einige Monate davor zum Internet-Phänomen aufgeschwungen: Ein Bleacher-Report-Videozeigte ihn, wie er aus zufällig gewählten Spielen in zufälligen Spielsituationen die exakten Plays und Resultate wiedergeben konnte.

Sein fotografisches Gedächtnis war auch eindrucksvoll zu sehen, als McVay unmittelbar nach dem spektakulären Sieg über die Chiefs in dieser Saison auf der Pressekonferenz exakte Coverages der Chiefs und Goffs dazugehörige Reads wiedergeben konnte - eine Situation, in der viele andere Head Coaches nur zu gerne darauf verweisen, dass sie "zuerst das Tape schauen müssen".

Der schnelle Turnaround der Rams - mehr als nur Scheme

Es ist diese Art positive Football-Verrücktheit, die jeder Weggefährte McVays bestätigt. Es gibt Geschichten aus Los Angeles, wonach sich McVay in Team-Meetings teilweise entschuldigt - weil er zu aufgeregt wird, wenn er Plays im Detail erklärt. Er geht teilweise in die Receiver-Drills mit aufs Feld, und vor allem hat er in beachtlicher Geschwindigkeit bei den Rams eine Kultur der Selbstverantwortung installiert.

"Er stellt sich vor uns und gibt das offen zu. Er sagt dann: "Ja, da habe ich Scheiße gebaut und euch in eine schlechte Lage gebracht. Ich werde das reparieren." Wenn du einen Coach hast, der so etwas macht, erlaubt es das auch jedem anderen, sich so zu verhalten", erzählt Defensive Lineman Michael Brockers.

Left Tackle Andrew Whitworth, der rein sportlich gesprochen selbst einen riesigen Anteil am blitzartigen, mitunter historischen Turnaround der Rams unter McVay - L.A. wurde in seinem ersten Jahr als Head Coach von der schlechtesten zur besten Scoring-Offense transformiert - hat, fügte im Ringer hinzu: "Für jeden, der Sean trifft, spielt das Alter keine Rolle. Von dem Moment an, wenn man mit ihm über Football spricht, bemerkt man seine Intelligenz und sein Spielverständnis - das ist einfach auf einem anderen Level."

So seien "viele Leute stur in ihrem Verhalten und machen Dinge auf eine Art und Weise, weil sie sie eben schon immer so gemacht haben. Er ist das genaue Gegenteil. Er ist nicht nur die intelligenteste Person im Raum, sondern auch die demütigste Person. Auch wenn er die Antwort kennt, fragt er nach, warum man selbst bestimmte Sachen anders machen würde. So findet man Wege, Dinge auf eine Art zu tun, mit der sich alle Beteiligten wohlfühlen."

Der nächste McVay? Viel Erfolg!

Die Idee, den "nächsten Sean McVay" zu finden, muss also viel mehr beinhalten als nur einen begnadeten jungen Offensiv-Taktiker. In Zeiten, in denen viele starke Offenses von Matchup-Waffen, diversen verschiedenen Formationen und Personnel-Gruppierungen leben, hat McVay mit dem Gegenteil Erfolg: kein Team spielt weniger verschiedene Formationen als die Rams, kein Team spielt ansatzweise so viel 11-Personnel (ein Running Back, ein Tight End, drei Wide Receiver).

Die Gefahr des Schemes der Rams-Offense liegt darin, wie ähnlich sich die Spielzüge sehen - weil fast alles mit den gleichen Formationen und Personnel Groupings beginnt. Und darin, wie McVay den Jet Sweep als Mittel benutzt, um Inside-Runs Platz zu verschaffen; auch hier ist kein Team konsequenter darin, was die generelle Nutzung des (angetäuschten) Jet Sweeps angeht. Es ist eine Offense, die für die Offense-Spieler nicht komplex und somit einfach umsetzbar ist, dennoch konstant für Defenses schwer lesbar bleibt.

Doch McVays Rolle geht weit darüber hinaus; diese Fähigkeiten würden ihn zunächst einmal "nur" zu einem begnadeten Offensive Coordinator machen. Es ist die Art, wie er mit den Spielern spricht. Wie er sich selbst nicht über sie stellt, gleichzeitig aber das Team anführt. Wie er sich vor seine Spieler stellt - etwa als vor allem in der Vorsaison darüber diskutiert wurde, wie drastisch der Einfluss von McVay ist, da die Rams schnell an die Line kommen und er so Goff vor dem Snap noch weitere Hinweise und Tendenzen über die Defense aufs Ohr sagen kann. McVay war irgendwann von dieser Diskussion genervt und rückte immer wieder seinen Quarterback in den Mittelpunkt.

Und wie er all seine Ideen an das Team vermitteln kann. Goff erinnert sich noch, was er bei McVay gleich zu Beginn besonders wahrnehmen konnte: "Die Art und Weise, wie er Dinge beschreibt und kommuniziert; wie er wirklich komplexe Dinge so einfach erscheinen lässt. Das war für mich ein "Wow"-Moment."

So dürfen die Verantwortlichen in Los Angeles berechtigt hoffen, dass sie etwas gefunden haben, das fast alle NFL-Franchises suchen und das den kommenden Gegner im Super Bowl seit fast 20 Jahren auszeichnet: eine Head-Coach-Quarterback-Kombination, die eine Basis für langfristigen Erfolg sein kann. Mit einem Coach-Phänomen, dessen NFL-Karriere gerade erst so richtig losgeht.