Die Baltimore Ravens haben weniger als einen Monat vor dem Saisonstart Safety Earl Thomas entlassen. Wie sehr schwächt dessen Abgang das Team? Und wer könnte den Safety nun ersetzen? Eine Analyse.
"Wir haben Earl Thomas' Vertrag wegen persönlichen Verhaltens, das die Baltimore Ravens negativ beeinflusst hat, entlassen." Es war eine knappe Mitteilung - gerade mal ein Satz, 16 Worte -, die die Baltimore Ravens am Abend des 23. Augusts auf ihren Social-Media-Kanälen verbreiteten. Die Auswirkungen dieses Statements könnten jedoch gravierend sein.
Es war eine Entscheidung, die sich in den Tagen und Stunden zuvor durch Berichte diverser Insider bereits angedeutet hatte und die im Moment der Veröffentlichung dennoch überraschte. Die Ravens, eines der besten Teams der Vorsaison und ein Top-Titelanwärter 2020, trennten sich von Thomas, einem der besten Safetys der Liga und schluckten gleichzeitig bis zu 15 Millionen Dollar Dead Money - über die genaue Höhe dürfte letztlich eine rechtliche Auseinandersetzung zwischen der Franchise und Thomas beziehungsweise der NFLPA entscheiden.
Lange Zeit war kein Wort über Thomas' Verfehlungen - er soll zahlreiche Meetings verpasst haben und zu mehreren Besprechungen erst verspätet erschienen sein - an die Öffentlichkeit gedrungen. Eine körperliche Auseinandersetzung mit Mitspieler Chuck Clark im Training Camp der Ravens brachte das Fass schlussendlich wohl zum Überlaufen. Die Führungsriege entschied, dass der Schaden durch Thomas' Fehlverhalten den Nutzen durch dessen Fähigkeiten auf dem Football-Feld überstieg.
Doch wie genau wird sich der Abgang des 31-Jährigen in der Defense der Ravens im kommenden Jahr bemerkbar machen? Dass die Ravens auf eine der aggressivsten und außergewöhnlichsten Defenses der NFL setzen, ist mittlerweile den meisten Football-Fans bekannt. Doch welche Rolle nahm Thomas darin genau ein? Und wie wichtig war er für die Funktion dieser einzigartigen Verteidigung?
NFL: Ravens blitzen mehr als jedes andere Team
Kein Team blitzte im Vorjahr auch nur annähernd so oft wie die Ravens. Bei 54,9 Prozent aller Snaps schickte Defensive Coordinator Don Martindale mindestens fünf Spieler in Richtung des gegnerischen Quarterbacks, kein anderes Team tat dies auch nur bei mehr als 45 Prozent, einzig die Tampa Bay Buccaneers blitzten überhaupt bei mehr als 40 Prozent ihrer defensiven Plays. Auch Cover-0-Blitzes - Blitzes mit sechs oder mehr Rushern ohne einen Safety als defensiver Absicherung - nutzte kein Team so häufig wie die Ravens.
"Unser Ziel ist es, so viel Druck wie möglich auf die Protection unserer Gegner auszuüben", erklärte Martindale seinen eigenen Ansatz in der vergangenen Saison. "Das Ziel ist, einen freien Runner in Richtung Quarterback zu bekommen. Jeder, der bei uns aus dem Bus steigt, kann für uns blitzen. Und das wissen unsere Gegner auch."
Die Resultate dieser Taktik waren nicht weniger als herausragend: Kein Team verzeichnete in Man Coverage weniger EPA (Expected Points Added) gegen sich als die Ravens. Baltimore war demnach das beste Cover-0-Team der Liga, bei Cover-1-Plays, also bei einem Blitz mit einem tief postierten Safety als Absicherung, belegte die Franchise ligaweit den zweiten Platz.
Natürlich war auch Thomas ein Teil der Blitzing-Maschinerie in Maryland. Der gelernte Deep Safety verbuchte im Vorjahr zwei Sacks und 57 Snaps als Pass-Rusher - beides Zahlen, die er in Seattle niemals auch nur annähernd erreicht hatte.
NFL: Secondary als große Stärke der Ravens
Martindale richtete sein Schema an den Stärken und Schwächen seiner Spieler aus. Mit Marlon Humphrey, Marcus Peters (ab dem siebten Saisonspiel) und Jimmy Smith verfügte er 2019 über eines der besten Cornerback-Trios der NFL, auch das Safety-Duo aus Thomas und Clark zählte ligaweit zu den besten.
Alle fünf Spieler waren ebenso wie Brandon Carr, der mehr als drei Viertel aller defensiven Snaps spielte, in der Lage, Gegenspieler konstant im Eins-gegen-eins zu verteidigen. Erst das ermöglichte es Martindale so häufig zusätzliche Spieler im Pass-Rush zu nutzen und seine im Vergleich eher zahnlose Defensive Line so zu unterstützen.
Baltimore belegte in Statistiken wie der Pass Rush Win Rate oder der Sack Rate ligaweit nur durchschnittliche Plätze, dank Martindales aggressiven Konzepten verbuchten die Ravens aber dennoch die meisten Quarterback Knockdowns und die drittbeste Pressure Rate der Liga - Faktoren, die in der modernen NFL so wertvoll sind wie nie zuvor.
NFL: Thomas in Baltimore mit herausragenden Statistiken
Tatsächlich war Thomas in diesem Scheme allerdings mehr als als nur ein potenzieller Blitzer unter vielen. Seine Rolle als Deep Safety aus Seattle-Zeiten mag stark modifiziert worden sein, vollständig abgeschafft wurde sie allerdings nie. Die häufigste Coverage der Ravens war 2020 Cover-1, die zweithäufigste Cover-3. Beides sind Play-Varianten mit einem tiefen Safety in der Mitte des Feldes - in den meisten Fällen war dies Thomas.
Der mehrfache All-Pro und Pro-Bowler war in Baltimore Teil einer deutlich flexibleren und auch komplizierteren Defense als er es aus seiner Seahawks-Zeit gewohnt war: Seattle spielte damals fast ausschließlich verschiedene Variationen von Cover-3. Eine Umstellung, die Thomas durchaus einige Probleme bereitete, wie er zu Beginn der vergangenen Saison auch unumwunden zugab. Doch trotz der Umstellung war Thomas in Baltimore deutlich mehr als ein Mitläufer.
Kein Safety ließ weniger Targets oder Completions zu als der 31-Jährige, niemand erlaubte eine niedrigere Completion Percentage Over Expection als Thomas' -24,9 Prozent. Auch seine zugelassene Success Rate von 23,1 Prozent war ligaweit der Bestwert. Pro Football Focus notierte bei ihm die zwölftbeste Coverage Grade aller Defensive Backs. Auch das ist ein elitärer Wert.
Thomas' Einfluss auf die gesamte Defense mag in Baltimore tatsächlich kleiner als früher in Seattle gewesen sein, wo er durch seine Kombination aus Instinkten und Geschwindigkeit praktisch beide Seams im Cover 3 ausschaltete. Seine Fähigkeiten in Coverage sind allerdings ganz offensichtlich nach wie vor herausragend - ebenso wie wie der Respekt der gegnerischen Quarterbacks vor ihm.
NFL: Kein Eins-zu-eins-Ersatz für Thomas bei den Ravens
Wie wird Baltimore diesen Verlust 2020 also auffangen können? DeShon Elliott steht wohl als direkter Nachfolger in den Startlöchern. Der Sechstrundenpick aus dem Jahr 2018 zeigte in der Vorsaison gute Ansätze, verpasste aufgrund eines Armbruchs sowie einer schweren Knieverletzung in zwei Jahren bislang allerdings auch 26 von 32 möglichen Spielen.
Geno Stone, Siebtrundenpick 2020, könnte durch Thomas' Entlassung ebenfalls früher Snaps bekommen. Auch Jimmy Smith, der durch die Rückkehr von Tavon Young wohl eher eine Rotationsrolle einnehmen wird, dürfte vor allem in Dime-Packages häufiger auf dem Feld stehen. Doch weder Elliott noch Stone oder Smith werden Thomas Eins-zu-eins ersetzen können. Einen gewissen Qualitätsverlust werden die Ravens auf der Safety-Position hinnehmen müssen.
Das bedeutet allerdings nicht, dass Baltimores Defense 2020 zwingend schlechter sein muss als im Vorjahr. Laut der Ajudsted-Games-Lost-Metrik von Football Outsiders hatten 2019 einzig die Jets defensiv mehr Verletzungspech als die Ravens zu beklagen. Die Rückkehr von Spielern wie Young oder auch Pernell McPhee wird Baltimore gut tun.
Vor allem aber könnte die Franchise über die vergangenen Monate eine ihrer Schwächen in eine Stärke verwandelt haben. Dank der Neuzugänge Derek Wolfe und insbesondere Calais Campbell dürfte die Defensive Line 2020 deutlich stärker besetzt sein als noch im Vorjahr. Die Ravens sollten in der kommenden Saison somit häufiger imstande sein, auch mit einem Vier-Mann-Rush erfolgreich zu sein und wären damit weniger auf die eigenen Blitzes angewiesen - was wiederum die eigene Secondary entlasten würde.
NFL: Thomas' Verlust ist eine große Schwächung
Martindale wird auch 2020 ein aggressiver defensiver Play-Caller bleiben und die Identität seines Teams nicht von heute auf morgen auf den Kopf stellen. Das Cornerback-Quartett aus Humphrey, Peters, Young und Smith ist vielleicht das beste der NFL, die Secondary ist auch nach Thomas' Abgang noch eine der Stärken der Ravens-Defense.
Head Coach John Harbaugh und die gesamte Ravens-Organisation sind bekannt dafür, Disziplin und Teamgeist einen hohen Wert zuzuschreiben. Sollten diese Werte bei einem Verbleib von Thomas ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen worden sein, wäre dessen Entlassung nachvollziehbar. Auch wenn die Entscheidung, Thomas zu entlassen, Harbaugh ebenso schwer gefallen sein dürfte wie General Manager Eric DeCosta und Teambesitzer Steve Bisciotti, so erscheint der Safety in Baltimore nicht unersetzlich - wenn auch eher im Verbund als durch einen einzelnen Spieler.
Dass Thomas' Entlassung eine Schwächung für das Team darstellt, ist allerdings unbestreitbar und der erste große Makel in einer ansonsten nahezu optimal verlaufenden Offseason.