Die mysteriöse Bestie

Von Adrian Franke
28. Januar 201516:50
Marshawn Lynch trifft mit den Seahawks im Super Bowl auf New Englandgetty
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Marshawn Lynch ist das Herz und die Seele der Seahawks-Offense. Doch der NFL ist er trotzdem ein Dorn im Auge. Dabei zeichnet ein Blick hinter die Kulissen ein anderes Bild von Seattles Running Back, der im Super Bowl gegen die New England Patriots seinen zweiten Ring gewinnen kann (Mo., 0.30 Uhr im LIVE-TICKER).

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Es war einer dieser seltenen Momente, in denen man das Gefühl hatte, dass sich Marshawn Lynch wirklich öffnet. "Ich würde gerne sehen, wie diese ganzen Kritiker in Sozialwohnungen aufwachsen, die ganze Zeit aufgrund ihrer Hautfarbe verurteilt werden, manchmal nicht einmal etwas zu essen haben und die gleichen verdammten Klamotten eine Woche lang in die Schule anziehen müssen", sagte der 28-Jährige vor einigen Jahren gegenüber "ESPN" im Rahmen eines größeren Interviews.

Mit Tränen in den Augen fuhr er fort: "Dann kommt plötzlich dieser unfassbare Wandel in ihrem Leben. Ihr Traum wird wahr und sie beginnen als 20-Jähriger ihre Profi-Karriere, wenn sie von nichts eine Ahnung haben. Ich würde gerne einige der Fehler sehen, die sie dann machen würden."

Unglücklich in Buffalo

Für Lynch war es gleichzeitig Teil seiner öffentlichen Aufarbeitung der eigenen Fehler. An zwölfter Stelle holten sich die Buffalo Bills den Running Back 2007 im Draft, einige Jahre später blickte Lynch, der sein ganzes Leben bis dahin in Oakland und im College in Berkeley verbracht hatte, zurück: "Ich wusste nicht, was ich erwarten sollte. Ich wusste nur, dass ich jetzt nach New York gehe." Schnee hatte er zuvor in seinem Leben noch nie gesehen, dennoch ließ der Einstand auf dem Platz kaum Wünsche offen.

Der damals 20-Jährige startete seine NFL-Karriere mit zwei 1000-Rushing-Yard-Seasons, doch es folgten Probleme. 2008 erwischte er einen Fußgänger mit seinem Auto und fuhr davon, ein Jahr später brachte ihm der illegale Besitz von Waffen eine Drei-Spiele-Sperre ein.

"Ich habe meine Familie, mich selbst und das ganze Team im Stich gelassen", sollte Lynch später sagen. Doch die Bills hatten genug von ihrem Running Back, zumal mit Fred Jackson sowie First-Round-Pick C.J. Spiller bereits zwei Alternativen mit den Hufen scharrten.

Zudem wurde Head Coach Dick Jauron, zu dem Lynch ein sehr gutes Verhältnis hatte, entlassen. Kurzum: Buffalo erhielt einen Viertrunden-Draft-Pick 2011 sowie einen Fünftrunden-Pick 2012 und gab Lynch dafür 2010 nach vier Saisonspielen an Seattle ab. Eine Business-Entscheidung, durch die sich Lynch zunehmend aus der Öffentlichkeit zurückzog. Dabei konnte es den Bills offenbar gar nicht schnell genug gehen: Angeblich waren die New Orleans Saints bereit, einen Drittrunden-Pick abzugeben, wurden aber nie kontaktiert.

Der Earthquake-Run

Seattle konnte sein Glück derweil kaum fassen. Head Coach Pete Carroll, der Lynch schon seit dessen High-School-Tagen kannte, machte dem Running Back klar, dass er sich an bestimmte Regeln hinsichtlich des Teams zu halten habe - sich aber abseits des Platzes nicht verstellen oder anpassen müsse. Und das bis dahin sechstschwächte Running Game der Liga hatte plötzlich einen neuen charismatischen Anführer.

Lynch erlief in dieser Saison für die Seahawks in 12 Spielen 573 Yards sowie fünf Touchdowns und hatte entscheidenden Anteil an der Playoff-Teilnahme trotz negativer Bilanz.

Unvergessen ist bis heute sein Beast-Mode-Signature-Run gegen die Saints im folgenden Wild-Card-Game, als Lynch das Team mit 131 Rushing-Yards trug. Die Fans im Stadion rasteten derart aus, dass Seismographen in dem Moment leichte Erdbeben-ähnliche Erschütterungen feststellten. Der "Earthquake-Run" war geboren.

"Beast Mode... auf dem Platz"

Sein Spitzname Beast Mode, längst auch vom Marketing für diverse Produkte ausgeschlachtet, reicht aber deutlich weiter zurück. Schon in der High School war der Running Back in und um Oakland ein Star und dafür bekannt, dass er kaum zu Boden zu bringen ist. In seinem letzten Spiel vor dem Schulabschluss gelangen ihm fünf Touchdowns. Als er kurz vor dem Draft zu seinem Spielstil befragt wurde, antwortete Lynch: "Beast Mode!" Nur um nach kurzem Zögern grinsend hinzuzufügen: "Auf dem Platz."

Müsste man Marshawn Lynch in einem Satz zusammenfassen, seine Selbstcharakterisierung ist wohl schwer zu schlagen. Denn so hart und rücksichtslos der Running Back mit Gegnern und mit sich selbst auch läuft, umso uneigennütziger ist er bei allem anderen. Lynch wuchs mit seinen drei Geschwistern in Goldenville, einem der gefährlichsten Bezirke Oaklands, auf, sein Vater verbrachte mehr Zeit im Gefängnis als zuhause.

"Du fängst irgendwann an, das Schlechteste in den Menschen zu sehen", gibt Lynch heute offen zu und betont, seinen Vater nie vermisst zu haben. Stattdessen hatte seine Mutter zwei Jobs, um die Familie durchzubringen, und füllte gleichzeitig die Rolle der Mutter sowie die des Vaters aus.

Doch selbst sie konnte an der Perspektivlosigkeit in dem harten Umfeld, das Lynch ohne Zweifel geprägt hat, wenig ändern: "Dort, wo ich aufgewachsen bin, sehen viele Leute das Licht am Ende des Tunnels nicht. Ich habe es auch nicht gesehen."

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"Haben viel Scheiße mitbekommen"

Immerhin durften Lynch und seine Geschwister das Grundstück häufig nicht verlassen, weil es schlicht zu gefährlich war. "Du wusstest nie, was passieren würde. Du hättest eine Schießerei sehen können, oder jemanden, der Drogen verkauft. Du konntest von der Polizei angehalten werden oder Prostituierte sehen. Wir haben viel Scheiße mitbekommen, die Kinder nicht sehen sollten", erzählt er noch heute.

Aber Lynch will nicht wegschauen und stattdessen etwas ändern. In jeder Offseason ist er in Oakland, mit Blick auf seine eigene Kindheit liegt ihm vor allem der Nachwuchs unglaublich stark am Herzen.

Wenn Lynch über irgendetwas auch nur ansatzweise gerne mit den Medien spricht, dann ist es seine Fam First Family Foundation, deren Ziel es ist, unterprivilegierten Kindern und Jugendlichen mit ihrem Selbstvertrauen und ihrer schulischen Ausbildung zu helfen.

"Ich liebe Kinder, deshalb bin ich immer dabei, wenn ich Kindern helfen kann", betonte der 28-Jährige jüngst und sieht darin auch seine Post-Karriere-Planung: "Wenn ich mehr Zeit haben werde, kann ich mich das ganze Jahr über mit diesen Kindern beschäftigen. Wir wollen ihnen grundsätzliche Fähigkeiten beibringen, die meiner Meinung nach viele nicht haben. Wie man mit Geld umgeht, wie man einen Lebenslauf schreibt, wie man Bewerbungen ausfüllt oder wie man selbstbewusst auftritt."

Große Verantwortung als Motivation

Es ist beeindruckend zu sehen, wie der sonst so verschlossene Running Back aufblüht, wenn er mit absoluter Überzeugung über die Kinder spricht, die häufig so aufwachsen wie er selbst. Man merkt, dass man es mit einem Menschen zu tun hat, für den der Sport, so viel Spaß er ihm auch macht, nicht an erster Stelle steht. Doug Hendrickson, seit 2007 Lynchs Berater, berichtete einst: "Bei unserem ersten Treffen hat er keine Fragen zum Vertrag oder Marketing gestellt. Sein Traum war es einfach, ein Jugendzentrum für Kinder in Oakland zu bauen."

Darüber hinaus spendet er etwa den Gemeinden an Thanksgiving hunderte Truthähne sowie an Weihnachten Geschenke, 600 Kinder sind jedes Jahr bei seinem Sommer-Football-Camp - kostenlos, versteht sich.

Bis heute hat Lynch, der nach wie vor ein Haus in der Bay Area hat, seine Wurzeln nicht vergessen und ermöglicht es immer wieder Kindern aus seiner Stiftung, Spiele im Stadion zu sehen und hinter die Kulissen zu blicken, ohne dabei großen medialen Wirbel darum zu machen.

Und er selbst sieht diese Verantwortung als Ansporn, nicht wieder auf die schiefe Bahn zu kommen: "Es war damals eine Erfahrung, die mich auf den Boden der Tatsachen geholt hat. Viele dieser Kinder dachten, ich könnte keinen Fehler machen. Ich würde nicht sagen, dass es ein Weckruf war. Davon hatte ich einige. Es ist vielmehr eine Motivation. Ich will keines dieser Kinder noch mal enttäuschen."

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Teamgeist pur

Sogar auf dem Platz hat Lynch gegenüber seinen Mitspielern ein großes Herz. Wie Justin Forsett, sein Backup im College und für kurze Zeit in Seattle, berichtete, täuschte Lynch in zahlreichen Spielen Erschöpfung vor, so dass er einige Snaps erhielt: "Hätte er das nicht gemacht, hätte ich wohl nie meine Chance erhalten." Bis heute hält Lynch daran fest: Als er in dieser Saison gegen die Giants seinen dritten Touchdown erzielte, gab er den Ball seinem Backup Robert Turbin.

"Er sagte mir: 'Ich will, dass du diesen Ball hast. Der ist für uns, für die Running Backs als Gruppe, um zu repräsentieren, wie wir jeden Tag arbeiten.' Aus irgendeinem Grund hat ihm dieser Touchdown viel bedeutet und er wollte, dass ich den Ball habe", so Turbin, der zudem einige Wochen später eine passende Beschreibung seines Mitspielers parat hatte: "Ich verstehe ihn auch nicht. Aber er ist auch nicht dafür gemacht, verstanden zu werden. Das müssen die Leute über ihn begreifen."

Defensive End Cliff Avril fügte hinzu: "Wenn das Spiel im dritten Viertel entschieden ist, sind ihm seine Stats oder Rekorde egal. Er wechselt sich selbst aus, damit die jüngeren Spieler Einsätze bekommen. Statistiken sind ihm egal, das ist etwas Einzigartiges für einen Offensiv-Spieler."

Immer Ärger mit den Medien

Einzigartig ist auch Lynchs knallharter Downhill-Running-Stil sowie sein unfassbar starker Stiff Arm. Beides ist in der NFL selten geworden. "Ich denke nicht, dass es schwierig ist, sich auf ihn vorzubereiten. Es ist einfach schwer, ihn zu tackeln", bringt es Vikings-Safety Harrison Smith gut auf den Punkt.

Gleichzeitig ist Lynch geduldig genug, um hinter der O-Line auf seine Lücke zu warten. In nunmehr fünf Jahren in Seattle bringt er es in der Regular Season auf 5930 Rushing-Yards sowie 54 Rushing-Touchdowns und ist Dreh- und Angelpunkt der Offense.

Dennoch war es unvermeidlich, dass der 28-Jährige mit seiner Art irgendwann auch in Seattle anecken würde. Nach dem Gewinn des Super Bowls im Vorjahr schwänzte er etwa den obligatorischen Trip ins Weiße Haus, seine Mutter erklärte anschließend: "Er hat einfach gesagt, dass er keine Lust hat. Es gab keinen besonderen Grund." Immer wieder kam er außerdem seinen Interview-Verpflichtungen nicht nach oder antwortete schlicht abwechselnd mit "Ja" und "Nein".

Zum Wochenbeginn beim Super Bowl Media Day beantwortete er jede Frage mit: "Ich bin nur hier, damit ich keine Strafe bekomme." Von der Liga wurde er schon mehrfach abgestraft und Gerüchte, wonach die Seahawks genug haben und ihn nach der Saison abgeben wollen, machten spätestens die Runde, seitdem Lynch im Zuge der Vertragsverhandlungen einige Tage des Trainingslagers schwänzte.

Die Antwort liegt auf dem Platz

"Ich weiß nicht, ob ich nach der Saison weg bin. Die Verantwortlichen reden viel in der Öffentlichkeit. Ich mache das nicht. Ich spiele einfach", erklärte der Running Back, angesprochen auf die Gerüchte, vor einigen Monaten.

Und genau das tat er, legte seit Saisonmitte seine vielleicht beste Spielzeit überhaupt hin und scheint kaum wegzudenken, auch wenn Lynch von der Öffentlichkeitsarbeit und den sozialen Medien nach wie vor herzlich wenig hält.

"Ich habe das Gefühl, dass ich nie dafür vorgesehen war, berühmt zu werden. Also wenn Leute alles, was ich tue, verfolgen wollen, das ist nicht wirklich mein Ding", stellte er im vergangenen September klar: "Ich verstehe, dass die Leute Profis oder Menschen, die in meiner Position sind, nicht häufig privat sehen. Aber letztlich stehen wir auch morgens auf, gehen aufs Klo, duschen und rasieren uns - wie jeder andere auch. Das ist meine Sichtweise darauf."

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Karriereende? Durchaus denkbar!

Insofern dürfte Lynch auch keine Probleme haben, wenn die Scheinwerfer nach Ende seiner aktiven Karriere plötzlich ausgehen und keine 70.000 Fans mehr in seinem Namen Erdbeben verursachen.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass der 28-Jährige, der über die letzten vier Spielzeiten nur eine Partie verpasst hat, seit Jahren mit Rückenproblemen kämpft. Gerade mit Blick auf seine Projekte neben dem Sport scheint es nicht zu weit hergeholt, dass er im Falle der Titelverteidigung am Sonntag seine Karriere beenden könnte.

Denn eines ist klar: Die Medien und die Kritiker würde er sicher nicht vermissen. Allerdings weiß Lynch gleichzeitig auch, welchen Einfluss er noch immer haben kann, wenn es um den Nachwuchs geht. "Als ich auf diesem Feld gespielt habe, hätte ich all das nie vorhersehen können", gab er beim Besuch seiner Alma Mater zu.

Er selbst nämlich habe "nicht groß genug geträumt. Hoffentlich sehen mich diese Youngster und erkennen, dass sie etwas positives erreichen können und nicht durch ihr Umfeld eingeschränkt sind. Natürlich ist es schön für mich, zurückzukommen und ihre Zuneigung zu spüren. Aber das alles geht mit einer großen Verantwortung einher."

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