Das vierköpfige Monster

Von Adrian Franke
26. Januar 201523:52
Die Legion of Boom ist das Prunkstück der Seattle Seahawksspox
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Wenn die Seattle Seahawks ihren Super-Bowl-Titel als erstes Team seit den New England Patriots 2004 und 2005 verteidigen wollen, muss gegen ebenjene Pats ein erneutes Meisterstück der Defense her. Höchste Zeit für eine Detail-Analyse der Legion of Boom - inklusive des möglichen X-Faktors für den Super Bowl.

SPOXWeite Pässe, spektakuläre Catches und Touchdowns sind die Stichwörter, die die NFL längst beschreiben und mit denen sie vor allem assoziiert werden will. Die Regeln bevorteilen seit Jahren das Passspiel und halten Teams dazu an, offensiv zu spielen und dadurch Zuschauer anzuziehen. Doch Seattle fungiert hier als eine Art Gegenpol.

Seitdem die Defense ihre Verletzungssorgen aus der ersten Saisonhälfte überwunden hatte, ließen die Hawks in den letzten sechs Spielen der Regular Season im Schnitt nur unfassbare 6,5 Punkte pro Spiel zu. Wie schon im Vorjahr trug die Defense das Team in den Super Bowl und steht kurz davor, eine mögliche neue Dynastie einzuleiten. Immerhin sind fast alle Säulen der Defensive langfristig gebunden.

Es ist eine Defense, die über die Drafts von 2010 bis 2012 ihren entscheidenden personellen Schliff bekam, als Earl Thomas, Kam Chancellor, Richard Sherman, K.J. Wright, Malcolm Smith, Bobby Wagner und Bruce Irvin auf drei Jahre verteilt aus dem College nach Seattle kamen. Doch wie bringt Seattle seine PS auf den Rasen - und wie könnte das gegen die Patriots aussehen?

1. Die Basis-Defense

SPOXSeattle spielt prinzipiell eine 4-3 Under Formation, ein System, das Head Coach Pete Carroll bereits in Arkansas als Assistent von Monte Kiffin aus erster Hand lernte. Carroll übernahm das System sowohl bei den Vikings als auch bei USC und brachte es schließlich nach Seattle mit. Einfach gesagt bedeutet das: Es stehen vier D-Line-Men sowie drei Linebacker auf dem Platz, wobei aber häufig ein Hybrid-LB-DE dabei ist - sodass es sich vom Personal her auch um eine 3-4-Defense handeln könnte.

Die meisten Spieler an der Line sind nur für eine Gap verantwortlich. Markenzeichen sind außerdem Aggressivität, Geschwindigkeit und Flexibilität - die Defense kann ihren Fokus auf beide Richtungen verlagern (also auch "Over" spielen) und für Überzahlsituationen sorgen. Die Seahawks interpretieren es meist so, dass mit Bruce Irvin, dem Sam-LB, ein Outside Linebacker in Richtung der Strong Side der Offense verschiebt und so der Eindruck einer 5-2-Front entsteht (und diese ohne Zweifel auch nach dem Snap wie eine 5-2-Front agieren kann).

Flexibilität und Geschwindigkeit sind dabei auch das Thema in der Secondary. Seattle spielt gerne aus dieser Formation heraus entweder eine Cover 3, oder eine Cover-1-Robber-Defense. Letzteres heißt: Ein Safety (Earl Thomas) sichert gegen weite Pässe ab und bleibt hinten, während sich der zweite Safety (der deutlich physischere Kam Chancellor) zwischen den Linebackern und dem tiefen Safety postiert.

So verbreitet er Angst und Schrecken bei Crossing Routes - wie etwa bei seinem Hit früh im Super Bowl der vergangenen Saison gegen Demaryius Thomas. Gleichzeitig kann er aber auch innerhalb von Sekunden die Line of Scrimmage angreifen, sollte der Gegner einen Lauf-Spielzug versuchen, oder aber als QB-Spy fungieren, etwa wenn ein robuster QB wie Cam Newton Option-Lauf-Spielzüge versucht.

Thomas und Kam Bam: Das Herz

Generell ist Seattles All-Pro-Safety-Duo Herz und Seele der Legion of Boom, wenngleich Richard Sherman ob seiner dominanten Persönlichkeit die meiste mediale Aufmerksamkeit erhält. Kaum eine Advanced Stat symbolisiert das besser, als die Positive Expected Points Added der beiden.

Hierbei geht es um den Einfluss eines Verteidigers auf einzelne Spielzüge, wobei nur für die ganze Defense positive Plays berücksichtigt werden, also solche Plays, bei denen die Defense den Offense-Raumgewinn geringer hält, als statistisch (berechnet aus Down, Distance und Field Position) zu erwarten ist. Unter allen Safeties der Liga rangieren Thomas (44,4 Punkte) und Chancellor (43,7) in diesem Jahr in der Top Fünf.

Die beiden verfügen außerdem über unfassbare Instinkte sowie enorm hohes Spielverständnis und werden dementsprechend nahezu perfekt eingesetzt: Chancellor liegt unter den drei besten Safeties, was Success Count, also die Anzahl der Plays, in denen er direkten Einfluss auf ein positives Defense-Play hatte, angeht (56). Darüber hinaus hat kein Safety mehr Fumbles erzwungen als Thomas (4), der enorme Freiheiten genießt und überall auf dem Platz zu finden ist.

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Der Tackling-Maschinenraum

Thomas ist derzeit der wohl beste Free Safety der Liga, der durch seinen hohen Football-IQ enorm viel Raum decken kann, weil er Spielzüge gut liest. Zwischen Sherman sowie dem zweiten Cornerback Byron Maxwell agiert er als ein klassischer Center Fielder in der Mitte, gleichzeitig tackelt er, obwohl Thomas physisch deutlich weniger furchteinflößend als etwa Chancellor oder Sherman wirkt, knallhart. Der 25-Jährige hatte die zweitmeisten Tackles aller Hawks-Spieler in dieser Saison (71, nur Linebacker K.J. Wright hatte noch zwei mehr).

Darüber hinaus genießt er mehr als nur den Respekt der gegnerischen Quarterbacks. Nur alle 23,6 Snaps wird ein Ball in seine Richtung geworfen und das kommt nicht von ungefähr: Thomas lässt nur alle 41,7 Snaps einen Catch zu. Chancellor dagegen lebt deutlich stärker von seiner Physis. Auf dem Platz wirkt er häufig wie ein zu groß geratener Linebacker in der Secondary, der Gegner nicht nur unnachgiebig abräumt, sondern auch mit großen Receivern oder Tight Ends etwa bei Slant Routes mithalten kann.

Stößt er, wie im Schaubild unter anderem angedeutet, in Richtung der Line of Scrimmage vor, gibt er den Seahawks eine Art 5-3-Front. Exakt 81,3 Prozent seiner Snaps verbrachte er in dieser Saison innerhalb der Box, also nicht weiter als acht Yards von der LoS entfernt, und verzeichnete 24 Run-Stops (zweitbester Wert aller Safeties hinter Rams-Safety T.J. McDonald). Chancellor könnte im Super Bowl eine mitentscheidende Rolle zukommen.

Interception-Monster Sherman

Komplettiert wird die Legion of Boom durch Maxwell und Sherman. Die beiden bilden eines der besten CB-Duos der Liga, wobei Sherman zweifellos innerhalb Seattles Secondary für das meiste Aufsehen sorgt: Seitdem der 26-Jährige in der NFL ist, konnte kein Spieler mehr Picks verzeichnen als Sherman, dem in vier Jahren unfassbare 24 Interceptions gelangen. Dabei hat Sherman auch bewiesen, dass er, wenn nötig, auch einen gegnerischen Receiver über den Platz verfolgen kann.

Gegen Green Bay begleitete er Jordy Nelson etwa mehrfach auch bei Inside Routes, seine Stärke bleibt aber klar: Die rechte Angriffsseite und den sich dort befindenden Receiver aus dem Spiel zu nehmen. Sherman spielt physisch an der Line of Scrimmage, und kaum ein Cornerback deckt Receiver enger, wie zuletzt zu sehen bei seinem Pick gegen die Packers.

In Shermans Richtung wird nur selten geworfen (im Schnitt nur bei gut jedem achten seiner Coverage-Snaps), und wenn doch, zahlen Quarterbacks dafür häufig einen hohen Preis. Doch auch er ist nicht ohne Schwäche: Der aggressive Stil sowohl des Cornerbacks individuell, als auch der ganzen Seahawks-Defense, sorgt dafür, dass Sherman er versucht, eine Route zu durchbrechen und sich den Pick zu schnappen. Mit Double Moves, etwa einer Out-and-Up, kann man seine Aggressivität gelegentlich bestrafen.

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Maxwell gegen Edelman?

Maxwell ist indes abseits des Gridiron das genaue Gegenteil zu seinem Gegenüber auf dem Platz. Der 26-Jährige ist ein ruhiger Zeitgenosse, der seine Taten auf dem Platz sprechen lässt und die Legion of Boom hervorragend ergänzt - zumal er deutlich häufiger geprüft wird als Sherman: Bei gut jedem fünften Coverage-Snap fliegt ein Ball in seine Richtung.

Eine seiner größten Stärken ist die Vielseitigkeit: In der Regular Season versuchten die Seahawks den explosiven, beweglichen Maxwell immer mal wieder im Slot - primär in ihren Nickel-Packages - wo er ebenfalls gut verteidigte und es auch mit kleineren, wendigen Receivern aufnehmen kann.

Defensiv ist es aus Hawks-Sicht durchaus denkbar, dass die Partie gegen die Kurzpass-lastigen Patriots genau hier im Slot entschieden wird. Somit ist es alles andere als auszuschließen, dass Maxwell einige kurze Pässe gegen Julian Edelman verteidigen darf, während Sherman etwa Brandon LaFell beschäftigt.

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2. Der Super Bowl: Die Gronk-Taktik

Die Frage wird sein: Kann die Defense auch gegen New England das Spiel an sich reißen, wie sie es schon so häufig in dieser Saison und vor allem im vergangenen Super Bowl gegen Denver geschafft hat? Der Fokus, wie bereits angesprochen, wird auf der Mitte des Feldes liegen, und das aus gleich zwei Gründen. Zum einen spielt Seattle häufig eine Art Press Cover 3 mit einigen Variationen, aber nicht unbedingt direkte Manndeckung. Das bedeutet, dass sich in der Mitte für kurze Pässe Räume ergeben können, während die Seiten meist versorgt sind.

Umgekehrt könnte das New England genau in die Karten spielen. Rob Gronkowski, Edelman und Shane Vereen bilden das wohl beste Trio für kurze Pässe in der gesamten NFL, wenn es um Tight End, Slot Receiver und Pass-Catching-RB geht. Darüber hinaus ist Tom Brady ein Meister darin, eine Defense mit kurzen Slants oder Pässen in die Flats in den Wahnsinn zu treiben - und die Seahawks ließen bei Pässen unter 10 Yards eine Completion Percentage von 72 Prozent (!) zu. Nur fünf Teams waren schlechter.

Bei Pässen unter 10 Yards haben die Patriots derweil im Schnitt den zweitschnellsten Release (2,11 Sekunden vor dem Pass) sowie die ligaweit drittbesten Werte was QBR (75,8), Touchdowns (24) und Third-Down-Conversion-Rate (48 Prozent) angeht. New England verzeichnete in der kompletten Saison nur 54 Pässe von mindestens 20 Yards und damit weniger als etwa die Tennessee Titans (58) oder die Tampa Bay Buccaneers (60) - nur zehn Teams hatten noch weniger Big Plays im Passing Game.

Neue Ideen für Slant-Pässe?

Slot DefensespoxDoch gerade Crossing Routes waren auch die absolute Top-Waffe der Broncos im vergangenen Super Bowl und Seattle hat über die vergangenen Jahren einige Wege gefunden, diese effektiv zu verteidigen. Mit Maxwell als möglichem Slot-Defender hat der Titelverteidiger sogar eine weitere Option dazugewonnen und ihm dort Spielpraxis gegeben.

Tharold Simon ersetzt Maxwell in dem Fall außen, Jeremy Lane ist als Slot-Defender ebenfalls eine Option. Seattle verteidigt Slot-Pässe in jedem Fall geschlossen als Team. Die Cornerbacks gehen zwar noch häufig in 1-on-1-Manndeckung, im Zentrum aber wird im Verbund gearbeitet. Zwar nutzen die Seahawks in bestimmten Situationen gerne zwei Linebacker für den Pass-Rush, in dem Fall haben aber alle Linebacker bestimmte Zone-Verantwortungen.

Chancellor kommt zudem aus dem Halbfeld in die Nähe der Box und liest den Spielzug, um festzustellen, zu wem der kurze Pass gehen könnte. Darüber hinaus nutzt Seattle seine agilen, schnellen D-Line-Men, von denen sich einer fallen lässt und so einen ganz schnellen Pass über die Mitte verhindern kann. Dadurch verhindert Seattle gleichzeitig, dass Spieler ihre Gegner quer über den ganzen Platz verfolgen müssen und sich womöglich gegenseitig behindern.

Free Release verboten

Hier wird es spannend sein zu sehen, welchen Ansatz Carroll und Defensive Coordinator Dan Quinn am Sonntag wählen. Eines dürfen sich die Seahawks in keinem Fall leisten, nämlich dass Gronkowski nach dem Snap einen Free Release hat, sprich ohne Kontakt loslaufen kann. Eine Möglichkeit wäre, den Pass-Rushing-LB an Gronk zu orientieren.

So kann er den Release stören, ehe dann ein Middle Linebacker (Wright beispielsweise) oder Chancellor den Tight End der Patriots übernimmt. Spätestens wenn es aber weiter das Feld runter geht, muss Chancellor oder ein Cornerback Gronk beschäftigen und hier ist die Übergabe entscheidend.

Philadelphias Zach Ertz schlug Wright mit Free Release im Duell in der Regular Season mit einer relativ simplen Route an der Seitenlinie ohne Probleme zum Touchdown, Chancellor war bei dem Spielzug beschäftigungslos in der Mitte des Feldes.

Chancellor als X-Faktor

So dürfte auch Chancellor selbst häufig an der Line auftauchen, um es direkt mit Gronkowski aufzunehmen und ihn anschließend auch zu verfolgen. Kein Seahawks-Spieler wäre physisch dafür wohl besser geeignet. So oder so: Dem Safety wird eine entscheidende Rolle im Duell am Sonntag zukommen, genau wie der ganzen Secondary.

In der zweiten Hälfte gegen Green Bay, als Seattles Defense das Team in der Partie hielt, spielten die Seahawks bei Passsituationen fast durchgehend Press-Man-Coverage und schlugen Green Bay mit ihrer starken Secondary. Mit Thomas und ihren Cornerbacks haben sie gegen weite Pässe auf die Receiver einen klaren Vorteil, doch darauf werden die Patriots auch nicht aus sein.

Chancellor wird, ob in Zone Coverage oder auch in Man Coverage gegen Gronkowski die Mitte des Feldes wie gegen die Broncos vor einem Jahr dominieren müssen und dürfte wie kaum ein anderer Spieler der Legion of Boom von den Patriots gefordert werden. Doch wer will Kam Bam ernsthaft sagen, dass er dieser Herausforderung nicht gewachsen ist.

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