Radsport - Dominik Nerz im Interview: "Ich kann mich in Per Mertesackers Lage perfekt hineinversetzen"

Dominik Geißler
03. Juli 201914:12
Dominik Nerz beendete seine Radsport-Karriere mit 27 Jahren.imago
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Depressionen und Magersucht haben Dominik Nerz mit nur 27 Jahren zum Karriereende gezwungen. Bis dahin war er einer der aufstrebenden deutschen Radsportler und nahm unter anderem zwei Mal an der Tour de France (ab Samstag im LIVETICKER) teil. Heute, rund zweieinhalb Jahre später, hat der gebürtige Allgäuer nichts mehr mit dem Profisport zu tun und arbeitet als Küchenchef fernab der Öffentlichkeit.

Im Interview spricht Nerz über den Beginn seiner Karriere. Er erklärt, wie ihn seine Krankheit mit der Zeit beinahe zugrunde gerichtet hätte und wie er doch noch einen Weg zurück in ein normales Leben fand. Außerdem äußert er sich zum großen Druck im Profigeschäft und verrät, warum er nicht mit Fußballern wie Per Mertesacker tauschen wollen würde. Und: Der 29-Jährige begründet seine Abneigung gegen Social Media.

Herr Nerz, Sie litten mehrere Jahre unter starken physischen und psychischen Problemen. Erfahrungen, die der Journalist Michael Ostermann in Ihrer Biografie "Gestürzt: Eine Geschichte aus dem Radsport" aufgeschrieben hat. Wie kam es zu diesem Buch?

Dominik Nerz: Michael hat ein Interview mit mir geführt und nach einem langen Gespräch gefragt, ob ich nicht Interesse an einem Buch über mich hätte. Ich habe mir zwei Tage Bedenkzeit gegeben und dann zugestimmt. In der Folge hatten wir sehr, sehr viele Sitzungen, in denen wir das Material zusammengetragen haben, wobei er als Autor natürlich die Schreibarbeit übernommen hat. Für mich ist es ein Meisterstück, auch wenn ich bis heute nur Auszüge kenne.

Warum nur Auszüge?

Nerz: Aktuell würde es mir nicht guttun, das ganze Buch zu lesen. Das möchte ich erst in zwei Jahren - auch wenn ich schon heute über meine Geschichte sprechen kann.

Dann lassen Sie uns vorne anfangen. Wie sind Sie eigentlich zum Radsport gekommen?

Nerz: Mein Vater ist hobbymäßig Rennrad gefahren, sodass ich auch unbedingt eins wollte. Also hat er mich bei der Rad-Union Wangen angemeldet, wo ich sofort Feuer und Flamme war. Einfach die Möglichkeit zu haben, den persönlichen Horizont zu erweitern, irgendwohin zu fahren und neue Regionen zu entdecken, fand ich mit 13 Jahren toll. Nach einiger Zeit bin ich dann meine ersten Rennen gefahren.

Und das ziemlich erfolgreich. Nachdem Sie in verschiedenen Juniorenklassen Meister wurden, haben Sie 2009 Ihren ersten Profivertrag bei Milram unterschrieben. Wie haben Sie diese Zeit wahrgenommen?

Nerz: Vorher konnte man im Prinzip trainieren, wann und wo man wollte. Als Profi musst du. Und das viel härter, in größerem Umfang - egal, ob du die Motivation gerade hast oder nicht. Aber dieser Wow-Effekt als Profi ist natürlich trotzdem da. Man bekommt mehrere Räder, Ausrüstung und ähnliches gestellt, hat plötzlich Zuschauer um sich, die einen feiern. Das war eine neue Welt, die mich wahnsinnig begeistert hat.

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Dominik Nerz im Steckbrief

Geburtstag25. August 1989
GeburtsortWangen im Allgäu
TeamsMilram (2009-10), Liquigas (2011-12), BMC (2013-14), Bora (2015-16)

Dominik Nerz: "Wie soll ein Außenstehender damit umgehen?"

In Ihrem Buch wird beschrieben, wie sich das Denken über Ihren eigenen Körper mit der Zeit mehr und mehr verändert hat. Beim italienischen Team Liquigas, wohin Sie 2011 wechselten, gab man Ihnen das Gefühl, zu viel zu wiegen, auch Ihre Fahrerkollegen aßen weniger als Sie. Begann da Ihre später diagnostizierte Magersucht?

Nerz: Ja und nein. Magersucht ist ein schleichender Prozess. Ich habe damals aber eine neue Seite des Radsports kennengelernt, durch die ich mir erstmals Gedanken darüber gemacht habe, was ich esse, ob ich zu dick oder zu dünn bin. Ich habe nie ausgesehen wie ein 50-Kilo-Kolumbianer oder Christopher Froome und Bradley Wiggins, an denen man gemessen wurde. Ich war kräftig gebaut - ein Punkt, den ich nie so richtig akzeptieren konnte. Also dachte ich, dass ich auch so aussehen muss und dann in der Lage wäre, gut über die Berge zu kommen.

Wie ging es bei BMC und Bora, wo Sie sogar Kapitän waren, weiter?

Nerz: Am Ende meiner Zeit bei BMC gab es die ersten ernsthaften Tendenzen einer Magersucht. Das hat sich bei Bora noch verschlimmert, weil der Druck zunahm. Ich sollte bei der Tour de France 2015 in die Top 10 fahren und habe dann wieder an meine Zeit in Italien gedacht, wo ich gelernt hatte, schnell an Gewicht zu verlieren. Dass das natürlich Blödsinn war, wurde mir leider erst bewusst, als es fast schon zu spät war.

Wurde der Sport in dieser Phase mehr zur Belastung als zu einem positiven Element in Ihrem Leben?

Nerz: Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich bis Bora eine unbeschwerte Zeit hatte. Aber der Spaß hat immer überwogen. Natürlich habe ich meine Tätigkeit auch bei Bora noch geliebt, aber die Belastung nahm mehr und mehr zu ...

... und mündete in einer Depression. Haben Sie damals mit anderen Menschen über Ihre Probleme gesprochen?

Nerz: Ja, mit meiner Familie und meinen zwei engsten Freunden. Aber man überfordert sein Umfeld mit so etwas komplett, denn wie soll ein Außenstehender damit umgehen? Auf der einen Seite sieht er, dass es mir nicht gut geht. Auf der anderen Seite kennt er mein Ziel. Das richtig einzuschätzen, ist schwierig. Zumal ich ein sehr ehrgeiziger Mensch bin und mir da ohnehin nicht hätte reinreden lassen. Das nehme ich voll auf meine Kappe.

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Dominik Nerz über seinen schlimmsten Sturz

Aus dem Jahr 2015, als der Sport immer härter für Sie wurde, gibt es ein eindrückliches Foto, auf dem Sie vor Schmerz schreiend auf dem Boden sitzen. Wenige Augenblicke zuvor waren Sie bei der Dauphine-Rundfahrt in einem Tunnel gegen eine Wand gerast und gestürzt. Was war schlimmer: der körperliche oder der psychische Schmerz?

Nerz: Auf jeden Fall war dieser Sturz das Epizentrum des Schmerzes. Der physische Schmerz war extrem stark, wobei ich an den ja irgendwie gewohnt war. Daher war der psychische Schmerz wohl schlimmer. Zumal es das erste Rennen nach einer Krise war, in dem ich wieder selbstbewusst aufs Rad gestiegen bin und Licht am Ende des Tunnels gesehen habe. Leider kam ich im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Tunnel nicht mehr heraus. Dann zu wissen, dass ich vielleicht die Tour verpasse und die Ziele meines Teams in dem Jahr nicht erreiche, war hart. Das drückt dieses Foto schon ganz gut aus.

Sie erlitten bei dem Sturz eine Gehirnerschütterung. Eine Pause kam trotzdem nicht infrage, weil Sie Leistung auf der Strecke zeigen mussten. Wie kritisch sehen Sie das Thema Druck in diesem Zusammenhang?

Nerz: Es gibt da ganz klare Unterschiede. In großen Teams wie BMC oder Sky spürt man natürlich auch Druck, aber die haben die finanziellen Mittel, um das nötige Personal zur Seite zu stellen und so einen Ausgleich zu schaffen. Für kleinere Teams geht es nur ums Überleben. Da hat man nicht die Ressourcen, um auf jeden Fahrer persönlich einzugehen.

Machen Sie jemandem Vorwürfe?

Nerz: Das wäre völliger Quatsch. Jeder hat nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und alles versucht, um mir zu helfen. Jetzt kann man natürlich fragen, warum das nicht geschafft wurde, aber da habe ich auch keine Antwort. Vielleicht fehlte die Expertise. Eine bessere Betreuung war jedenfalls nicht möglich und entsprechend ungerecht wäre es von mir, jetzt draufzuhauen. Das ist mir ohnehin ganz wichtig: Ich möchte niemanden an den Pranger stellen und ihm die Schuld geben, dass ich in die Magersucht gerutscht bin. Das ist alles auf meinem Mist gewachsen. Die Entscheidungen habe ich getroffen, dazu stehe ich.

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Dominik Nerz: "Als Fußballer brauchst du ein brutal dickes Fell"

Dennoch ist gerade die Problematik um das Gewicht im Radsport besonders akut.

Nerz: Definitiv. Das Thema ist ein weit verbreitetes und trotzdem unausgesprochenes. Natürlich gibt es das Problem auch zum Beispiel im Skispringen, nur sitzen wir eben sechs Stunden auf dem Sattel und da ist es egal, ob es schneit, 40 Grad hat oder ein Hagelsturm über einen fegt. Wir fahren trotzdem. Um das auszuhalten, muss man sich an den Schmerz gewöhnen. Nur so konnte ich meinen Körper herunterwirtschaften und trotzdem funktionieren.

Fußball-Weltmeister Per Mertesacker hat letztes Jahr in einem Interview mit dem Spiegel zugegeben, selbst stark unter dem großen Druck im Profi-Business gelitten zu haben. Er sprach von Würgereiz, bis ihm die Tränen kamen und wollte irgendwann lieber auf der Tribüne sitzen als zu spielen. Ihrer Meinung nach verständlich?

Nerz: Zu 100 Prozent, ich kann mich in die Lage perfekt hineinversetzen. Natürlich war bei mir der mediale Andrang nicht so groß wie bei einem Mertesacker, aber da würde ich auch nicht tauschen wollen. Klar verdienen Fußballer Millionen, aber ich sehe das eher als eine Art Schmerzensgeld. Allein, wenn ich an die fanatischen Fans denke, denen du mit einer Niederlage eine ganze Woche verhageln kannst. Da hackt der ganze Fanblock auf dir herum, die Presse stürzt sich auf dich ... da brauchst du ein brutal dickes Fell.

Man kann aber auch der Held der Nation sein.

Nerz: Klar, aber seien wir ehrlich: Deutschland ist da schon besonders gut drin - die feiern dich ohne Ende, wenn du gut bist, und zerreißen dich, sobald du nur eine kleine Schwäche zeigst. Ich bin froh, dass das bei mir nie so war.

Ist zu viel Leistungsdruck ein generelles Problem unserer Gesellschaft? Gerade in Zeiten von Social Media scheint die positive Darstellung nach außen immer wichtiger zu werden.

Nerz: Für mich ist das alles ein Wahnsinn. Ich kapiere es nicht. Wieso müssen sich schon Jugendliche auf Instagram und Facebook produzieren? Warum geht es nur noch darum, schöner, besser, stärker zu sein als der andere? Wieso zählt das am meisten? Das ist total traurig. Wenn man zu den Leuten nach Hause geht, sieht die Realität bei 95 Prozent von denen ganz anders aus. Die leben in einer Traumwelt, weil sie es von außen so gespiegelt bekommen. Das ist doch Bullshit und führt zu gar nichts.

Sind Sie trotzdem in den Sozialen Medien angemeldet?

Nerz: Ja, weil meine Teams das damals wollten. Aber ich war nie wirklich aktiv und nie der Typ, der versucht hat, möglichst viele Likes zu bekommen. Für was auch? Für mich ist es 1000 Mal wertvoller, wenn mir irgendjemand auf der Straße ein Kompliment macht als 20.000 Gefällt-mir-Angaben unter einem Bild. Diese Likes geben die Leute auch nur, um selbst wieder Likes zu bekommen. Für mich ist diese - Entschuldigung, wenn ich das so sage - ganze Social-Media-Scheiße reine Heuchelei.

Lassen Sie uns nochmal zurück zum Radsport kommen. Eine alles überschattende Thematik ist hier immer wieder Doping. Sind Sie selbst damit in Berührung gekommen?

Nerz: Vielleicht war ich da immer etwas zu blauäugig oder habe meine Augen vor gewissen Dingen verschlossen, aber ich habe nie direkt etwas mitbekommen. Ich will auch immer ehrlich sein und habe eine enge Verbundenheit zu meiner Heimatregion. Wenn ich gedopt hätte und das wäre herausgekommen, hätte ich mich dort nie wieder blicken lassen können. Das kam deshalb für mich nie infrage. Selbst in Italien, wo man viel Schlechtes hört, kam ich damit nie in Kontakt.

Dominik Nerz über seinen Rücktritt und die Zeit danach

Ende 2016 haben Sie Ihre Radsport-Karriere im Alter von nur 27 Jahren beendet. Wie kam es schlussendlich zu dieser Entscheidung?

Nerz: Nachdem ich mehrfach schwer gestürzt bin, hatte ich in dem Jahr eine Untersuchung in der Charite Berlin. Dort hat man mir gesagt, dass das mit dem Radsport nichts mehr wird. Ich habe zwar noch versucht, weiter zu machen und wollte den Ärzten beweisen, dass ich stark genug bin. Aber letztlich war das aussichtslos.

Wie waren die Reaktionen im Team, im privaten Umfeld, aber auch in der Öffentlichkeit?

Nerz: Im Team wusste jeder zu der Zeit, wie es um mich steht. Ich bin vorher quasi kein Rennen mehr zu Ende gefahren und war chronisch erschöpft, da war die Überraschung also nicht so groß. In meinem privaten Umfeld sowieso nicht. Nur für die Öffentlichkeit und meine kleine Fan-Base, die ich mir aufgebaut hatte, war es ein Schock. Da herrschte Bestürzung.

Würden Sie im Nachhinein sagen, dass der Schritt zu spät kam?

Nerz: Ich denke, mit gewissen Einschränkungen habe ich mich gerade noch im letzten Moment gerettet. Ich hätte mir einiges erspart, wenn ich all diese Erkenntnisse ein Jahr früher gehabt hätte. Auf der anderen Seite konnte ich von diesem schwierigen Weg auch einiges Positives mitnehmen und Dinge lernen, die mir heute noch helfen.

Bereuen Sie die Entscheidung, Profisportler geworden zu sein?

Nerz: Überhaupt nicht. Es gibt nur eine Sache, die ich bereue: Dass ich den Leuten, die mir nahe standen, sehr viel Kummer bereitet habe. Da war ich vielleicht ein bisschen zu selbstsüchtig.

Wie ging es nach Ihrem Karriereende weiter?

Nerz: Ich bin direkt danach in eine Klinik gegangen. Zuvor hatte ich mich immer gesträubt und das Training als Vorwand hergenommen, dort zeitlich gar nicht hin zu können. Mir einzugestehen, dass ich zu schwach war und es nicht selbst hinbekommen habe, war in gewisser Weise eine Erniedrigung. Jetzt hatte ich aber keine Ausrede mehr und musste in die Klinik gehen - im Endeffekt die beste Entscheidung, die ich treffen konnte.

Trotzdem war der Weg zurück in den Alltag langwierig.

Nerz: Ja, die Nachwirkungen waren schon heftig. Das größte Problem war eigentlich, dass ich auf einmal so viel Zeit hatte. Ich musste erstmal wieder mit meinem Leben klarkommen. Ich habe nach der Klinik noch ambulante Therapien gemacht und mein eigenes Regenerationsprogramm erstellt, um meinen Körper abzutrainieren. Weil ich nicht mehr auf einem Rad sitzen wollte, bin ich ins Fitnessstudio gegangen.

Dominik Nerz: "Die Küche war meine endgültige Heilung"

Beruflich haben Sie anschließend verschiedene Dinge ausprobiert, zuletzt haben Sie zusammen mit Ihrer Mutter ein Restaurant am Bodensee betrieben und dort als Küchenchef gearbeitet.Wie kam das zustande?

Nerz: Dass ich mit meiner Mama zusammenarbeite, war eigentlich immer der Plan. Dass es mich in die Küche gezogen hat, war aber eher Zufall. Und für mich die endgültige Heilung, auch was das Thema Essen angeht. Ich kann meinen Gästen ja nichts anbieten, was ich vorher nicht probiert habe. (lacht)

Was kochen Sie am liebsten?

Nerz: Ich bevorzuge die traditionell österreichische Küche, hübsche die Gerichte aber auf und bringe sie in andere Formen. Letztlich sollen auf dem Teller Omas Gerichte neu interpretiert zu finden sein. Mein Anspruch ist es, die Leute zu überraschen. Aktuell habe ich aber eher anderes zu tun ...

Warum?

Dominik Nerz: Wir mussten unseren Betrieb leider kürzlich schließen, weil die Erbengemeinschaft, der das Haus gehörte, ausgetreten ist. Wir konnten nichts dafür, trotzdem ist das natürlich ein herber Schlag. Die Suche nach einem neuen Restaurant macht aber auch Spaß und gibt Einblicke in eine ganz andere Welt. Da lernt man viel in Sachen Management.

Viel Erfolg bei der Suche! Zum Abschluss noch eine Frage: Werden Sie die anstehende Tour de France verfolgen?

Nerz: Wahrscheinlich nicht, weil es mir schon noch schwerfällt, die ehemaligen Kollegen und das ganze Drumherum zu sehen. Das ist ein Reizpunkt für mich, der die Sehnsucht wachsen lässt und mich wieder zum Nachdenken bringt. Ich sehe mir die Bilder lieber nicht an, auch wenn es mich natürlich teilweise schon noch interessiert. Zum Glück gibt es das Internet, da kann man die Ergebnisse einfach nachlesen.