Der Name Ion Tiriac wird im deutschen Sport vor allem mit der Karriere von Boris Becker verbunden. Zwischen 1984 und 1993 betreute der Star-Manager Tiriac den Tennis-Star Becker und machte ihn zum reichsten Sportler seiner Zeit. Im Interview mit SPOX erzählt der inzwischen 82-Jährige legendäre Boris-Geschichten.
Tiriac spricht außerdem über seine eigene Karriere als Eishockey- und Tennisspieler und erklärt, warum Guillermo Vilas für ihn der Größte aller Zeiten ist und warum er sich über Alexander Zverev wundert.
(Das Interview wurde erstmals im Mai 2021 veröffentlicht)
Herr Tiriac, viele Fans wissen gar nicht, dass Sie vor Ihrer erfolgreichen Tenniskarriere auch als Eishockeyspieler für Furore sorgten. Wie sind Sie denn in Rumänien zum Eishockey gekommen?
Ion Tiriac: Ich bin in Kronstadt geboren. Kronstadt ist eine von den Karpaten umgebene Stadt in Siebenbürgen. Ich bin in den Bergen aufgewachsen. Zwischen Mitte November und Mitte April hatten wir jedes Jahr einen sehr harten Winter. Zwei Meter Schnee, minus 20 Grad, minus 30 Grad. Und das Eishockeystadion lag nur 100 Meter von meinem Geburtsort entfernt. Schon mit 3 Jahren stand ich zum ersten Mal auf Schlittschuhen. Später bin ich wie viele meiner Freunde auf Schlittschuhen in die Schule gefahren im Winter, das war ganz normal. Eishockey wurde zu einer großen Leidenschaft und ich habe es schon ganz jung, da war ich 17 oder 18 Jahre alt, in die Nationalmannschaft geschafft. Und bevor Sie sagen, dass das in Rumänien nicht so schwer ist - wir waren zu dieser Zeit nicht so viel schlechter als die Bundesrepublik Deutschland. (lacht)
Sie hätten 1960 dann auch an den Olympischen Spielen in Squaw Valley in den USA teilnehmen sollen.
Tiriac: Richtig. Ich hatte sehr viel für diesen Traum investiert, aber es war damals die Zeit des Kalten Krieges. Eine Woche vor Beginn der Spiele entschied Rumänien, auf eine Teilnahme zu verzichten. Für mich persönlich war das ein Desaster. Aber es war eine politische Entscheidung und wir hatten zu gehorchen. Zum Glück konnte ich mir dafür 1964 in Innsbruck meinen Olympia-Traum erfüllen. Leider bekamen wir es in der Ausscheidungsrunde mit den starken Amis zu tun und verloren 2:7. Aber danach spielten wir eine gute Platzierungsrunde und schlugen unter anderem Österreich. Es war eine tolle Erfahrung, dennoch war für mich klar, dass ich nach den Winterspielen nie mehr Eishockey spielen würde. Ich wollte mich danach auf Tennis konzentrieren.
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Das gelang Ihnen sehr gut. Die Höhepunkte Ihrer Tenniskarriere lesen sich wie folgt: Mit Rumänien erreichten Sie dreimal das Davis-Cup-Finale, Sie waren ein herausragender Doppelspieler und gewannen mit Ilie Nastase die French Open. Wie würden Sie Ihre Zeit als Tennisprofi beschreiben?
Tiriac: Ich musste von Anfang an akzeptieren, dass ich nicht mit einem so großen Talent gesegnet war wie ein Nastase oder ein Borg. Ich musste viel härter arbeiten und viel mehr trainieren als diese Jungs. Wenn Nastase am Tag eineinhalb Stunden auf dem Platz stand, stand ich sechs Stunden auf dem Platz. Aber ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich erreicht habe. Nicht nur im Doppel. 1968 und 1969 stand ich auch im Einzel in den Top 10. Ich erinnere mich noch gut an die French Open 1968, dort führte ich im Viertelfinale mit 2:0-Sätzen gegen den großen Rod Laver. Ein Jahr später sollte Laver zum zweiten Mal den Grand Slam gewinnen und ich hatte ihn am Rande der Niederlage. Leider habe ich es nicht ganz gepackt, genauso wie wir es zwar dreimal ins Davis-Cup-Finale schafften 1969, 1971 und 1972, aber jedes Mal den ganz großen Coup verpassten. Und jedes Mal gegen die USA. Besonders das Finale 1972 war bitter, da spielten wir zuhause in Bukarest, Nastase war ganz oben angekommen, aber wir verloren knapp mit 2:3 gegen Stan Smith und Co. Dennoch kann ich mich insgesamt nicht beklagen.
gettyTiriac: "Sorry, aber da bin ich ganz unbescheiden"
Zumal Sie sehr früh dann die Seiten gewechselt haben und Coach und Manager wurden.
Tiriac: Ich war fasziniert davon, Spieler von einem ganz frühen Zeitpunkt an zu entwickeln. Ich wollte nie mit einem etablierten Spieler zusammenarbeiten. Ich wollte die Jungs aufbauen, formen und nach oben führen. Heutzutage sind Trainer Leute, die ihren Spielern die Wasserflasche reichen, den Schläger zum Bespannen bringen und einen Trainingsplatz mit einem Hitting-Partner buchen - und dafür einen Haufen Kohle kassieren. Und dann haben die Spieler oft noch einen Psychologen, Physiotherapeuten und was es sonst noch so gibt. Wenn sie heute zu einem Turnier reisen, sitzen da sieben Leute im Flugzeug.
Und damals?
Tiriac: Damals hatten wir niemanden. Der einzige Coach, von dem ich etwas gelernt habe, war Harry Hopman. Ich glaube, ich war nicht so schlecht. Wenn du einen Spieler einmal von ganz unten nach ganz oben führst, kann man vielleicht sagen, dass es Glück war. Aber wenn du das drei- oder viermal machst - über zehn bis 15 Jahre - so wie ich, dann muss ich wohl doch einiges richtig gemacht haben. Sowohl als Coach auch als Manager, was ich ja beides gleichzeitig gemacht habe. Sorry, aber da bin ich ganz unbescheiden. (lacht)
In Deutschland kennt Sie natürlich jeder wegen Ihrer Zeit mit Boris Becker. Auch er kam ganz jung zu Ihnen. Wann haben Sie ihn das erste Mal gesehen?
Tiriac: Das kam über meinen guten Freund Günther Bosch, der wie ich in Kronstadt geboren wurde. Er war zwei Jahre älter und hat nur 100 Meter von mir entfernt gewohnt. Er war damals Nachwuchstrainer beim Deutschen Tennis Bund. Eines Tages kam er zu mir und meinte: Ion, ich habe da einen Jungen, den musst du dir unbedingt anschauen. Ich war aber nicht sonderlich begeistert. Ich hatte den Spruch meines guten Freundes Horst Dassler im Kopf: "Die Deutschen sind richtig gut, wenn sie 13, 14 oder 15 Jahre alt sind. Aber irgendwann trinken sie nicht mehr zwei Bier, sondern vier. Aus vier werden acht und dann kannst du sie eh vergessen."
imago images"Ich sah einen Burschen, der über den Platz gestolpert ist"
Aber am Ende Sie sind doch hingegangen.
Tiriac: Ja, ich habe mir diesen Jungen dennoch angeschaut. Und ich sah einen Burschen, der nur so über den Platz gestolpert ist. Er konnte keinen Fuß vor den anderen setzen, seine Beinarbeit war so schlecht. Er hatte blutige Füße, weil er sich über den Platz geschmissen hat - weil er nicht wusste, wie er sich bewegen sollte. Aber dafür waren seine Schläge unglaublich und ich konnte in seinen Augen diesen unbändigen Willen sehen. Er hatte eine Gier, die nicht gewöhnlich war. Das hat man sofort erkannt.
Wie ging es dann weiter?
Tiriac: Ich fand Boris so interessant, dass ich ihn testen wollte. Ich wollte, dass er zu mir nach Monte Carlo kommt und einen Monat lang gegen Guillermo Vilas spielt. Jeden verdammten Tag. Vier Stunden lang. Ich arbeitete damals mit Vilas zusammen und für mich ist er der größte Spieler aller Zeiten.
Vilas?
Tiriac: Ja, Vilas ist der Größte. Und wissen Sie warum? Weil er nullkommanull Talent hatte. Was er daraus aber machte, war unfassbar. Vilas hat geschuftet wie ein Verrückter und sich jeden seiner Siege und Grand-Slam-Titel erkämpft. Ich wollte, dass Boris einen Monat lang Vilas erlebt und danach war ich mir sicher, dass er seinen Weg gehen würde. Ich bin zu seinen Eltern gegangen und habe ihnen gesagt, dass Boris morgen seinen Rucksack packen soll. Wir stellten ein Trainingsprogramm auf und machten einen Turnierplan. Boris war extrem jung damals, aber er hat zugehört und war bereit. Im Prinzip war das der Moment, als der Tennis-Superstar Boris Becker geboren wurde.
Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Becker charakterisieren in der gemeinsamen Zeit?
Tiriac: Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum man heutzutage ständig Psychologen braucht. Wenn du als Coach nicht gut genug bist, um deinen Spieler zu verstehen, bist du kein guter Coach. Ganz einfach. Ich habe Boris von Anfang an verstanden und ich wusste, wie ich mit ihm umgehen muss. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Eines Morgens traf ich Boris und die Unterhaltung lief so:
Ion: Guten Morgen, Boris!
Boris: Guten Abend!
Ion: Warum Guten Abend, Boris?
Boris: Weil es dunkel ist.
Ion: Aber Boris, draußen scheint die Sonne.
Boris: Nein, es ist dunkel.
Ion: Okay, Boris, dann ist es eben dunkel, guten Abend!
Das klingt schräg.
Tiriac: Natürlich, die Nummer war komplett lächerlich. Aber Boris hat jeden um ihn herum ausgetestet. Er war wie ein Kind, das seine Hand auf die Herdplatte legt, um mal zu schauen, was passiert. Natürlich musste ich auch von Zeit zu Zeit mal klare Ansagen machen, zumal Günther Bosch ein viel zu lieber Mensch war und zu oft nachgegeben hat. Aber solange wir dann das Programm durchziehen, was auf der Tagesordnung stand, habe ich ihn gewähren lassen und ließ mich darauf ein. Da fällt mir eine andere amüsante Geschichte ein.
Erzählen Sie.
Tiriac: Ich erinnere mich an ein Turnier in Hamburg. In der Stadt, in der es das ganze Jahr kalt ist und regnet. (lacht) Boris hat sich mal wieder auf dem Court herum geschmissen, seine Shorts waren komplett rot, sodass wir sie waschen mussten, weil wir keine zum Wechseln dabei hatten. Das Ende der Geschichte war, dass ich ins Badezimmer gerannt bin und seine Shorts gewaschen und getrocknet habe. Ich habe allen Spielern immer gesagt: Solange du mir das mit Leistung zurück zahlst, wasche ich dir auch die Unterhosen. Du brauchst so eine Beziehung zu deinem Spieler. Ich habe einfach gewusst, wie ich das Beste aus ihm rausholen kann.
"Boris war mit 17 der reichste Sportler auf dem Planeten"
Wie ging es weiter auf dem Weg zum ersten Wimbledon-Triumph?
Tiriac: Ein entscheidender Moment war dann in Johannesburg, als Boris sich nicht mal für das Hauptfeld qualifiziert hatte. Er hatte einen Sonnenstich bekommen und war völlig fertig. Er hat geweint. Er wollte den Erfolg so sehr, aber er wusste nicht, ob er es schaffen würde. Also habe ich ein Blatt Papier genommen und Boris gesagt: Ich male dir den Plan auf, wie du in zwei Jahren zu den Top 20 der Welt gehörst. Du musst nur unterschreiben. Vertraue mir. Top 20 hört sich vielleicht gar nicht so fantastisch an, aber für Deutschland war das im Tennis zu der Zeit wie fünf WM-Titel im Fußball. Ihr hattet ja niemanden. Da war weit und breit kein Megastar in Sicht. Ab diesem Zeitpunkt lief es. 1984 erreichte Boris schon das Viertelfinale der Australian Open und wir wissen alle, was 1985 in Wimbledon passieren sollte.
imago imagesWie überraschend kam der Triumph für Sie? Boris war ja immer noch erst 17.
Tiriac: Als er beim Vorbereitungsturnier in Queens im Viertelfinale Pat Cash schlug, wusste ich, dass er eine Chance hat, Wimbledon zu gewinnen. An dem Tag war ich noch in Buenos Aires, aber einen Tag später war ich schon in London. Ich ahnte, was kommen würde. Und was soll ich sagen? Boris gewann Wimbledon und war mit 17 Jahren der reichste Sportler auf dem Planeten zu dem Zeitpunkt. Ein Tennisspieler verdient vielleicht zehn bis 15 Prozent durch Preisgelder, der Rest kommt abseits des Courts. Boris hatte eine starke Persönlichkeit, Deutschland ist ein großer Markt - und ich hatte ein paar ganz gute Ideen, um ihn zu vermarkten.
Warum ging die Zusammenarbeit irgendwann zu Ende?
Tiriac: Die Zeit mit Boris war großartig. Wir hatten schöne Zeiten zusammen, wir hatten schlechtere Zeiten zusammen. Irgendwann kam der Punkt, an dem sich die Wege einfach trennen mussten, auch wenn ich noch einige millionenschwere Verträge auf dem Tisch hatte. Aber das ist egal, Geld ist nicht alles im Leben und ich habe es keine Sekunde bereut. Und was er danach alles gemacht hat, dafür war ich nicht mehr verantwortlich. Er hat sein Leben gelebt und ich meines. Aber wenn wir uns heute wiedersehen, trinken wir ein Bier zusammen und sprechen über unsere Kinder. Oder über das heutige Tennis. Aber nie über die Vergangenheit.
Boris Becker war wie Sie auch als Coach erfolgreich, wenn wir an die Zusammenarbeit mit Novak Djokovic denken.
Tiriac: Das hat mich gewundert. Ich bin sogar zu Djokovic und habe ihn gefragt: Nole, was zur Hölle willst Du denn mit Boris? Aber er meinte, dass Boris das Beste wäre, was ihm je passiert ist und er unglaublich glücklich ist, ihn um sich herum zu haben. Nole hat auf Boris gehört, das ist das Wichtigste. Also habe ich meine Meinung revidiert und musste sagen: Mein Respekt, Boris. Aber ich glaube nicht, dass Boris nochmal als Coach auf die Tour zurückkehrt. Trainer sind heutzutage Marionetten der Spieler. Es ist ein sehr schwieriger Job.
Wie meinen Sie das?
Tiriac: Es ist ganz entscheidend, dass ich als Trainer nicht abhängig von meinem Spieler bin. Der Spieler sollte abhängig von mir sein. Wie soll ich sonst meine Arbeit richtig machen? Wenn wir zwei Stunden auf dem Platz stehen und ich als der Trainer der Meinung bin, dass wir noch eine dritte Stunde dranhängen müssen, dann muss ich mich das trauen können. Es gibt Spieler, die dann sagen: Du hast mir gar nichts zu sagen, ich bezahle dich, ich will keine dritte Stunde trainieren, ich bin müde, wir hören auf. Was willst du dann antworten, wenn du davon abhängig bist, dass du jeden Monat dein Gehalt bekommst, um die Schulbücher für deine Kinder bezahlen zu können? Das ist ein schwieriges Thema.
"Keine Ahnung, warum Zverev nicht die Nummer eins ist"
Alexander Zverev hat sein Team in diesem Jahr neu aufgestellt und setzt noch stärker auf die eigene Familie. Was halten Sie von seiner Entwicklung?
Tiriac: Zverev hat alles, was man braucht, um Grand Slams zu gewinnen und die Nummer eins der Welt zu werden. Er ist groß, er hat einen starken Aufschlag - ich habe keine Ahnung, warum er nicht längst die Nummer eins oder zwei der Welt ist. Da sollte er eigentlich stehen mit seinen Möglichkeiten.
Wie schauen Sie generell auf die Tennisszene?
Tiriac: Tennis ist ein reines Business geworden. Wir müssen uns doch nur die Dimensionen der Preisgelder anschauen. Wenn ich in Wimbledon in der ersten Runde verliere, bekomme ich etwa 60.000 Dollar. Für das Verlieren in der ersten Runde! Als ich Roland Garros gewonnen habe im Doppel, bekam ich 100 Dollar. Als Santana in den 60er sich den Wimbledon-Titel holte, bekam er einen 50-Pfund-Gutschein für ein paar Schuhe im Shop. Die Welt hat sich verändert und Tennis ist zu teuer geworden, wenn sie mich fragen. Ich weiß nicht, wer da alles überleben wird.
imago imagesAber Sie sind selbst erfolgreicher Turnierdirektor in Madrid.
Tiriac: Madrid ist das mit Abstand beste Masters-Turnier, auch das sage ich ganz unbescheiden. So wie die Events in Hannover oder Stuttgart früher. Von mir aus kann man sagen, dass ich nicht der beste Spieler, Coach oder Manager war, von mir aus, aber wenn ich etwas verstehe, dann große Turniere auszurichten und sie erfolgreich zu machen. Deutschland müsste eigentlich ein Land sein, in dem ein ganz großes Turnier stattfindet. Für mich wäre München mit dem Olympiapark der perfekte Standort.
München? Wirklich?
Tiriac: Ja. Schließen Sie doch einfach mal die Augen und stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn sich einige der großen Firmen aus München zusammentun und gemeinsam ein Tennis-Turnier pushen würden. In neun Monaten könnte in München ein Wimbledon entstehen. Die große Frage ist nur, ob der politische Wille dazu da ist. Aber eines muss jeder wissen: So ein Turnier zahlt sich aus. Du musst sehen, welch einen Effekt so ein Turnier als Werbung für die Stadt haben kann. Das ist zehnmal mehr wert als das Investment. Vielleicht findet sich ein Jüngerer als ich, der das Projekt angehen will. Ich bin ehrlich gesagt müde geworden vom Tennis.