Anderson Silva dominiert das Mittelgewicht der UFC seit Oktober 2006 und hält als Weltmeister seiner Gewichtsklasse etliche Rekorde. Wie viele Spitzensportler ist er nicht unumstritten - er gilt gemeinhin als arrogant, nicht fannah und äußerst schwierig in der Zusammenarbeit. Keine Frage: Der Weltmeister ist ein vielschichtiger Mensch. SPOX geht dem brasilianischen Ausnahmeathleten auf den Grund.
Der Volksmund sagt, Niveau wirke aus der falschen Perspektive oft wie Arroganz. Im übertragenen Sinne trifft dies auf den amtierenden Weltmeister im Mittelgewicht der UFC, Anderson Silva, zu - doch seine Beweggründe sind andere. Manch einem intelligenten Menschen, der nicht dazu fähig ist, "normale" Gespräche zu führen, wird unterstellt, er sehe von oben auf andere herab und wolle nicht mit ihnen reden. Tatsächlich ist es oft nicht der Wille, sondern die Fähigkeit, die Konversationsebene zu wechseln, die zu diesen für alle Seiten frustrierenden Ergebnissen führt.
Anderson Silvas Sprache ist der Kampfsport, seine Gespräche sind Kämpfe im Octagon, und seine Intelligenz entspricht einer einmaligen Begabung für koordinierte Bewegungsabläufe mit maximaler Wirkung. So richtig zur Hochform läuft er nur dann auf, wenn er sich von seinem Gegner richtig gefordert fühlt... und dies geschieht selten. Hat er das Gefühl, seine Herausforderer spielten nicht in derselben Liga, dann lässt er dies alle Welt spüren.
Gruppe: MMA@SPOX
Die UFC hat Schwierigkeiten, ihn dazu zu bekommen, für bestimmte Gegner zu unterschreiben. Die Medien tun sich schwer, dem Brasilianer auch nur einen verwertbaren Satz zu entlocken. Silvas Manager Ed Soares bekommt seinen Schützling teilweise wochenlang nicht ans Telefon. Und am Ende sehen die Fans fünf Runden lang ungläubig zu, wie der Weltmeister mit seinem Gegner spielt wie eine Katze mit der Maus.
Faible für Big Macs
Schon seit frühester Kindheit hat Anderson Silva den Wunsch gehabt, in allem, was er tut, der Beste zu sein. Im Alter von nur drei Jahren schob seine Mutter ihn und seinen älteren Bruder zu ihrer Schwester nach Curitiba ab, die in der Folgezeit dann fünf Kinder vom Polizistengehalt ihres Mannes ernähren musste.
Dass Anderson von Onkel und Tante genau so behandelt wurde wie ihre eigenen Kinder, prägte ihn fürs Leben. Noch heute sagt er in ruhigen Minuten, wie dankbar er ihnen ist, dass sie ihm trotz aller finanzieller Schwierigkeiten gezeigt haben, dass man mit der richtigen Arbeitseinstellung und den richtigen Werten alles schaffen kann, was man sich vornimmt.
Als Jugendlicher kam Anderson Silva zum Kampfsport, als er Nachbarn beim Jiu-Jitsu-Training beobachtete und wissen wollte, ob er diese gelenkigen Bewegungen auch selbst schaffen könnte. Da das notwendige Geld für eine professionelle Jiu-Jitsu-Schule fehlte, trainierte er erst einmal mit den Nachbarn weiter.
Es folgten Schwarzgurte im Taekwondo und Judo sowie eine gelbe Kordel im Capoeira. Anderson arbeitete parallel zum Training bei McDonald's und sparte sich so die nötigen Kursgelder zusammen. Sein Faible für Big Macs stammt übrigens noch aus dieser Zeit.
Anfangs nur Mittelmaß
Seinen ersten MMA-Kampf gegen Fabricio Marango verlor der Mann mit dem Spitznamen The Spider nach eigenem Bekunden, doch in den offiziellen Rekordbüchern ist davon nichts zu finden. Offiziell verlor Anderson Silva seinen Debütkampf gegen Luiz Azeredo nach Punkten.
In seinen ersten Jahren im MMA-Sport war Silva an sich ein mittelmäßiger Kämpfer ohne große Höhen und Tiefen. Bei der japanischen Liga PRIDE gewann er drei Kämpfe und verlor danach zwei in Folge. Es folgt ein Wechsel zum englischen Veranstalter Cage Rage, wo Silva drei Siege in Serie einfuhr und einen Weltmeistertitel einheimste, den er nie im Käfig verlor.
Während dieser bewegten Zeit war UFC-Matchmaker Joe Silva auf den drahtigen Brasilianer aufmerksam geworden und bot ihm für die Ultimate Fight Night 5 im Juni 2006 einen Kampf gegen den damals aufstrebenden Ultimate-Fighter-Star Chris Leben an, der bei den vier Ultimate Fight Nights davor jeweils erfolgreich war und schon für einen Titelkampf gegen Mittelgewichts-Meister Rich Franklin gehandelt wurde.
49 Sekunden - gnadenlos im Abschluss
Als Silva Leben nach nur 49 Sekunden Kampfzeit die erste vorzeitige Niederlage seiner Karriere durch Knockout bescherte, wusste noch niemand, welch dominante Siegesserie an jenem Abend eingeleitet worden war. Doch der dynamische Striker Silva war anders als alles, was man bis dato im Octagon gesehen hatte: grazil, unglaublich technisch, schnell, präzise und gnadenlos im Abschluss. In den Titelkampf gegen Franklin bei UFC 64 ging er trotzdem als Außenseiter.
Mein erster persönlicher Kontakt mit Silva war am Nachmittag des 14. Oktober 2006 - eine Geschichte, die ich bei passender Gelegenheit gern erzähle. Ich ging durch die Katakomben des Mandalay Bay Events Centers in die noch leere Halle und sah den Herausforderer, wie er wenige Stunden vor dem wichtigsten Kampf seiner Karriere am Octagon saß und die brasilianische Version von Harry Potter las. Obwohl ich an sich Rich Franklin in dem Kampf vorn gesehen hatte, machte ich auf dem Absatz kehrt, ging ins Sports Book und setzte einige Dollar auf den Herausforderer, denn wer so kurz vor einem Titelkampf so ruhig ist, weiß etwas, das ich nicht weiß.
Anderson Silva machte mit Rich Franklin kurzen Prozess und wurde nach nur 2:59 Minuten der ersten Runde der neue Weltmeister im Mittelgewicht. Der Noch-Champion hatte gefühlte hundert Kniestöße aus dem Muay-Thai-Clinch zum Gesicht genommen und konnte sich aus dem Griff der Spinne nicht mehr befreien.
Enttäuchende Zuschauerzahlen
Es folgten vorzeitige Siege gegen Travis Lutter und Nate Marquardt, in denen Silva zwar brillierte, doch das Publikum schien den Brasilianer nicht anzunehmen. Die Zuschauerzahlen, die er zog, waren enttäuschend. Daran änderte auch ein dominanter Rückkampf gegen Rich Franklin und ein Sieg gegen Dan Henderson wenig. Silva, der sich beständig weigerte, Englisch zu sprechen, obwohl er der Sprache durchaus mächtig war, kam beim Publikum trotz seiner spektakulären Siege nicht an. Noch schlimmer: Die ersten Stimmen wurden laut, die sich fürchterlich darüber aufregten, dass ein Weltmeister einer Sportart, die weltweit präsent ist, sich weigert, die Weltsprache Englisch zu sprechen und stattdessen seinen Manager übersetzen lässt.
Auch hinter den Kulissen meldete sich der Brasilianer vermehrt zu Wort und versuchte, Einfluss auf die Gegnerauswahl zu nehmen. Während es aus anderen Sportarten durchaus bekannt ist, dass man versucht, so einfache Gegner wie möglich zu bekommen, suchte Silva das genaue Gegenteil davon: eine Herausforderung. Ihm wurde es - einfach gesagt - zu dumm, gegen Kämpfer ins Octagon zu steigen, von denen er sich sicher war, dass sie ihn nicht in Bedrängnis bringen könnten.
Da passende Gegner aber nicht auf Bäumen wachsen, einigte man sich, dass der Mittelgewichts-Meister fortan auch einzelne Kämpfe in der nächsthöheren Gewichtsklasse, dem Halbschwergewicht, annehmen können würde. Den Anfang machte ein mit Spannung erwartetes Duell mit dem gefährlichen Striker James The Sandman Irvin, der sich ebenso als völlig chancenlos entpuppte und nach 1:01 Minuten abgefertigt war.
Seite 2: Das Duell mit Chael Sonnen
Silva wurde gezwungen, seine Mittelgewichts-Meisterschaft drei Monate später gegen den designierten Herausforderer Patrick Cote zu verteidigen. Im Vorfeld dieses Kampfes zeichnete sich bereits ab, dass Silva absolut keine Lust hatte, sich auf den Kanadier vorzubereiten. Im Octagon tänzelte der Weltmeister drei Runden lang um den Herausforderer herum und tat genug, um dem Publikum zu zeigen, dass Cote völlig chancenlos war. Er weigerte sich aber, den Kampf zu beenden, bis der Herausforderer sich in der dritten Runde eine Knieverletzung zuzog und seinerseits den Kampf abbrechen lassen musste.
"Ich könnte - aber ich will nicht"
Während die Veranstaltung, bei der die nächste Titelverteidigung stattfand, mit dem Namen Redemption untertitelt wurde, war der Hauptkampf alles andere als eine Erlösung. Im Gegenteil: Er war der mit Abstand schlechteste Titelkampf der UFC-Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt mit einem Herausforderer, der sich ständig auf den Rücken warf, um den Weltmeister dorthin zu locken und einem Anderson Silva, der sichtlich gelangweilt wenig tat, außer seinen Gegner mit schnellen Luftschlägen zu verhöhnen. Frei nach dem Motto: "Ich könnte ja, wenn ich wollte - aber ich will nicht."
Die UFC-Offiziellen waren stinksauer auf Anderson Silva und steckten ihn zur Strafe in einen Halbschwergewichts-Kampf gegen den früheren Weltmeister dieser Gewichtsklasse, Forrest Griffin. Die Intention war klar: Man wollte dem Brasilianer eine Lektion erteilen und ihm etwas Demut lehren. Doch der Schuss ging nach hinten los.
Denn dieser Fight motivierte den Mittelgewichts-Meister, und er lieferte den bis dato dominantesten Kampf seiner Karriere ab. Er ließ Griffin nicht nur schlecht aussehen - er deklassierte ihn so, dass sich weder seine Popularität noch seine Karriere bis heute von dieser Abreibung erholt haben. Teils hatte man das Gefühl, Szenen aus dem Film "Die Matrix" zu sehen: Schläge, denen um wenige Millimeter ausgewichen wird, die aber trotzdem nur Luft erwischen.
Dana White stinksauer auf Anderson Silva
Nun steckte die UFC doppelt im Dilemma: Es war offensichtlich, dass Anderson Silva im Mittelgewicht durch nichts mehr zu motivieren war. Gleichzeitig machte es aber auch keinen Sinn, ihn im Halbschwergewicht die Leiter empor klimmen zu lassen, denn der amtierende Weltmeister war Lyoto "The Dragon" Machida, seines Zeichens ein Teamkollege Silvas beim "Black House"-Trainingscamp. Ein Fight der beiden war somit komplett ausgeschlossen.
Als nächstes sollte Silva seinen Titel im Wüstenemirat Abu Dhabi gegen seinen früheren Trainingspartner Vitor Belfort aufs Spiel setzen, doch Belfort verletzte sich... zumindest offiziell. So kam der Grappler Demian Maia an einen Titelkampf, den er zu dieser Zeit noch überhaupt nicht wollte... und Silva war stinksauer.
In der Konsequenz lieferte er den bis heute schlechtesten Titelkampf der UFC-Geschichte ab. Es war klar, dass Maia ihm nichts anhaben konnte, aber Silva weigerte sich trotzdem, etwas zu tun und tänzelte fünf Runden lang um seinen Gegner, während er Maia verbal aufforderte, sich doch zu trauen und etwas zu probieren.
UFC-Präsident Dana White war nach dieser Vorstellung so wütend, dass er seine Anwälte prüfen ließ, ob man Silva nicht einfach aus seinem Vertrag entlassen könne. Er war es einfach leid, einen Weltmeister zu haben, der kaum mit etwas zufrieden zu stellen ist.
Das Duell mit Chael Sonnen
Noch während die Gespräche liefen, eilte ein Mann zur Rettung, der einen Fight gegen Silva als seine ganz große Chance sah, der Bedeutungslosigkeit zu entrinnen: Chael Sonnen. Der Weltklasseringer und frühere Olympia-Ersatzmann hatte gerade die beiden Topherausforderer Yushin Okami und Nate Marquardt überraschend ausgeschaltet und forderte nach der Blamage von Abu Dhabi seinen Titelkampf ein. Er versprach, er würde Silva dazu zwingen zu kämpfen und dass er den Champion ausknocken würde, wenn er wie ein Clown vor ihm hin und her spränge.
Doch Sonnen machte dort nicht Halt. Er nutzte die vier Monate bis zu seinem Titelkampf, um im Internet, im Radio und im Fernsehen alles zu beleidigen, was Anderson Silva hoch und heilig ist: sein Team, seine Trainer, seine Fähigkeiten und seine Ehre. Obwohl der Weltmeister öffentlich die Verbalinjurien seines Herausforderers gütig belächelte, kochte er innerlich und trainierte so hart für die Titelverteidigung gegen Sonnen, wie er noch nie für einen Fight trainiert hatte.
Es stellte sich heraus, dass er zu hart trainierte und sich eine Woche vor dem Kampf einen schwere Rippenverletzung zuzog, die ihn bei jedem anderen Gegner dazu gebracht hätte, aus Verletzungsgründen abzusagen. Doch Sonnen hatte Silva inzwischen so in Rage geredet, dass der Weltmeister ihm seine sportlichen Grenzen aufzeigen wollte - um jeden Preis.
Am Rande der Niederlage
Sonnen hatte das Jiu-Jitsu der Nogueira-Brüder beleidigt, indem er sagte, ein Schwarzgurt unter ihnen habe in etwa den Wert eines Spielzeugs aus einem Happy Meal. In Anderson Silvas Welt war das Herabwürdigen seiner Trainer eine Todsünde, die er rächen wollte. Er wollte seinen Herausforderer unbedingt auf der Matte mit einer Jiu-Jitsu-Technik zur Aufgabe zwingen.
Doch beinahe wäre es nie soweit gekommen. Der krasse Außenseiter Sonnen zeigte über viereinhalb Runden die beste Leistung seiner Karriere. Er deklassierte Anderson Silva auf den Beinen und am Boden. Der Weltmeister wirkte zum ersten Mal in seiner UFC-Karriere schlagbar und schien kein Bein auf den Boden zu bringen. Nur zwei Minuten vor Ende der fünften Runde - und damit vor einem völlig verdienten Punktsieg und Titelwechsel - bekam Silva den Arm seines Herausforderers zu fassen und setzte einen Triangle Choke aus der Unterlage an, in dem Chael Sonnen schließlich abklopfen musste.
Ausgerechnet Chael Sonnen hatte Anderson Silva so weit an den Rand einer Niederlage getrieben, dass der Weltmeister alles geben musste, um am Ende doch noch zu gewinnen. Dieser Kampf gilt heute als einer der besten Fights der UFC-Geschichte und wurde von etlichen internationalen Publikationen zum Kampf des Jahres 2010 gewählt. Anderson Silva musste erst kurz davor stehen, alles zu verlieren, um seinen Legendenstatus zu zementieren.
Anderson Silva: eine Koryphäe seines Sports
Seit diesem Kampf wird Silva von den Fans und der Presse wieder anders gesehen. Mit seiner Leistung an jenem Abend waren alle unmotivierten Leistungen der beiden Jahre davor verziehen. Seine Titelverteidigung gegen Vitor Belfort im Februar spielte vor ausverkauftem Haus in Las Vegas und zog ein mediales Interesse, wie es dem Mittelgewichts-Meister in den Jahren davor noch nie zuteil geworden war.
Es scheint so, als habe die Welt verstanden, wer Anderson Silva ist: ein Genie, eine Koryphäe seines Sports, ein Mensch, der gefordert werden will, um motiviert zu sein. Am 27. August steht er in Rio de Janeiro bei UFC 134 das nächste Mal im Octagon und wird seine Weltmeisterschaft im Mittelgewicht gegen Yushin Okami aufs Spiel setzen, den letzten Kämpfer, der auf dem Papier einen Sieg gegen Silva hält.
Doch irgendwo in den hintersten Winkeln seines Gehirns ist der Weltmeister überzeugt davon, dass Okami nur eine Zwischenstation darstellt auf dem Weg zum finalen Showdown: einem Rückkampf gegen Chael Sonnen. Denn so deklassiert zu werden, kann ja überhaupt nicht angehen. Willkommen in der Welt von Anderson Silva.
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