Jahrelang wurden die Curler für das, was sie tun, ausgelacht. Putzfrauen seien sie, nicht wert, Sportler genannt zu werden. Doch seit einiger Zeit entwickelt sich das Schach auf dem Eis zum Quotenrenner und Kultsport. SPOX wollte genau wissen, was hinter dem Phänomen Curling steckt, und hat das deutsche Olympia-Team um Skip Andreas Kapp in Oberstdorf besucht.
Es ist ein wundervoller Tag in den Allgäuer Alpen. Das Nebelhorn erstrahlt im Sonnenlicht, die Skifahrer strömen in Richtung Lift.
Ich nicht. Ich stapfe vom Parkplatz aus in die Eishalle. Kaum Tageslicht, Kälte, grauer Beton. Drinnen schieben Menschen Steine über eine Eisfläche und schreien dabei so laut sie können, andere schrubben mit Besen in höchstem Tempo übers Eis. Curling, deutsche Meisterschaften.
Als hätte man an einem solchen Tag nichts Besseres zu tun! So sehen es wohl auch fast alle potenziellen Zuschauer. 18 - in Worten: achtzehn - Fans stehen und sitzen in der Halle, um dem Treiben zuzusehen.
"Für unsere Verhältnisse ist hier schon eine Menge los", sagt Holger Höhne beim gemeinsamen Mittagessen mit SPOX. Er ist Mitglied der deutschen Olympia-Mannschaft um den Kapitän, den so genannten Skip Andreas Kapp. Kapp, Höhne und die beiden anderen Stammkräfte Andreas Kempf und Andreas Lang sehnen sich nach besseren Curling-Zeiten. Sie sehnen sich nach Vancouver, "denn die Kanadier haben schon bei ihren nationalen Meisterschaften über 50.000 Zuschauer gehabt. Dort ist Curling eine ganz große Nummer", sagt Höhne.
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"Schauen Sie auch Curling, den neuen Quotenrenner?"
Aber auch in Europa gewinnt Curling immer mehr an Ansehen. Das Schachspiel auf dem Eis, bei dem jede Menge Taktik, Gefühl und Nervenstärke gefragt sind, begeistert immer mehr Leute. 18 Zuschauer bei deutschen Meisterschaften sind da beileibe kein repräsentatives Bild.
"2002 ging das los, als die 'Bild'-Zeitung plötzlich über eine ganze Seite Curling-Berichte gebracht hat. Nach dem Motto: 'Schauen Sie auch Curling, den neuen Quotenrenner?'", sagt Kempf. Kapp ergänzt: "Vor 30 Jahren wurdest du richtig belächelt. Mittlerweile ist die Akzeptanz als Sportart aber in die Höhe geschnellt."
Unrühmlicher Spitzname: "Putzfrauen"
Curling ist Kult. So ähnlich wie Darts, aber irgendwie auch ganz anders. Denn Curling ist körperlich richtig anspruchsvoll und anstrengend.
Da ist zum einen die Herausforderung, einen 18 Kilo schweren Stein über mehr als 40 Meter genau in einen kleinen Zielkreis zu manövrieren. "Nimm einen Bierdeckel, gehe auf den Parkplatz, stelle dich 42 Meter entfernt davon hin und dann rolle einen Stein im Bogen auf diesen Bierdeckel drauf", schlägt Kapp potenziellen Spöttern vor.
Dazu kommt das Wischen, das den Curlern den unrühmlichen Spitznamen "Putzfrauen" eingebracht hat. Das Wischen bildet vor dem Stein einen Wasserfilm, mit dem die Länge der Gleitphase kontrolliert wird. Und das geht mächtig auf die Kondition. "Geh mal in die Küche und wische 20 Sekunden lang mit mehr als 50 kg Druck so schnell wie möglich auf einer Stelle. Dann merkst du, wie lang 20 Sekunden werden können", erklärt Lang.
"Bei anderen Olympioniken voll akzeptiert"
Der Kampf um jeden Zentimeter auf dem Eis steht trotz aller wachsenden Akzeptanz auch heute noch für den Kampf um vollwertige Anerkennung.
"Es gibt zwei Extreme. Entweder, die Leute finden es super, oder sie können nichts damit anfangen, weil bei uns niemand in die Bande gerammt wird", sagt Kapp. Das gilt sogar im Curling-Mutterland Kanada. "Dort gibt es den Kleinkrieg zwischen Curlern und Eishockey. Die Hockey-Spieler sagen heute noch zum Curling: 'Was soll das denn, das ist doch kein Sport'", sagt Lang. Aber Höhne betont: "Gerade bei den anderen Olympioniken sind wir voll akzeptiert."
Medaille bei Olympia ist der Traum
Apropos Olympia. Dort fahren beide deutschen Teams, sowohl die Männer als auch die Frauen, mit Medaillenchancen hin. Kapp und Co. waren 2007 immerhin Vize-Weltmeister. Die Frauen um Skip Andrea Schöpp holten 2009 sogar völlig überraschend den EM-Titel.
"Wir wollen das beste Curling spielen, das wir drauf haben. Danach können wir stolz auf uns sein", sagt Kapp bescheiden und nennt Kanada, Norwegen, Schweden, Schottland und die Schweiz als Favoriten. Aber Höhne gibt zu: "Zu einer Medaille würden wir sicher nicht nein sagen."
Lang erklärt gleich mal, wie das funktionieren kann: "Du kannst gegen jede Mannschaft gewinnen, aber du musst es schaffen, konstant auf so einem Niveau zu spielen. Vielleicht ist Top-Favorit Kanada gerade zu Hause zu schlagen. Denn die müssen Gold holen, da gibt es nichts anderes. Genau da sind sie angreifbar."
So funktioniert Curling
Konstanz ist natürlich auch in Vancouver der Schlüssel. In zwölf Vorrunden-Sessions ermitteln zehn Teams vier Halbfinalisten, die dann direkt um die Medaillen spielen.
Jedes Spiel geht über zehn so genannte Ends, in denen jedes Team versucht, so viele seiner acht Steine wie möglich näher an die Mitte des Zielkreises zu bringen als der Gegner. Dafür gibt es Punkte, die über Sieg und Niederlage entscheiden. Kondition und Konzentration der Teams müssen manchmal für zwei Spiele pro Tag reichen, bei kleineren Turnieren sind es sogar oft drei.
15.000 Kilometer nur für Trainingsfahrten
Um perfekt auf Olympia vorbereitet zu sein, trainieren Kapp und seine Crew hart. Und das, obwohl sie nicht ansatzweise von ihrem Sport leben können. Curling ist ein Hobby.
"Ich brauche einen Beruf, von dem ich leben kann. Für Curling-Wettkämpfe muss ich Urlaub nehmen. Wenn der irgendwann aufgebraucht ist, brauche ich einen Chef, der Verständnis für mein Hobby hat", erklärt Kempf, der in München arbeitet und zum Training immer nach Füssen ins Allgäu pendelt. "Ich stehe an normalen Trainingstagen um 5.30 Uhr auf und gehe zur Arbeit. Um 23.30 Uhr bin ich dann wieder zu Hause. Das macht im Jahr 15.000 Kilometer nur für Trainingsfahrten."
Kampf um noch mehr mediale Beachtung
Wer so viel Zeit für das Curling opfert, hat verständlicher Weise keine Lust, sich regelmäßig verspotten zu lassen und ein Dasein in der Versenkung zu fristen. Über diese Phase ist der Sport zwar dank starker Präsenz beim TV-Sender "Eurosport" mittlerweile hinaus.
Aber es ginge noch deutlich besser. "Ich verstehe nicht, dass größere TV-Sender nicht auch auf die Idee kommen, dass Curling gute Quoten bringt und auch ab und zu einmal gezeigt werden könnte", sagt Höhne. "Curling hat riesiges Vermarktungspotenzial. Es kostet quasi nichts, sich einzukaufen, und man hat wie bei einer Aktie gute Chancen, dass der Wert steigt. Für das Geld, für das ich mich in einen Fußball-Viertligisten einkaufe, könnte ich die ganze Curling-Nationalmannschaft sponsern."
Wenigstens bei Olympia werden "ARD" und "ZDF" nicht drum herum kommen, auch über Curling zu berichten. Dafür kommen die Kommentatoren extra zum Kapp-Team, um sich den Sport erklären zu lassen.
Damit sie bloß nicht nur von wischenden Putzfrauen berichten.