Gregor Schlierenzauer ist mit 53 Weltcup-Erfolgen der siegreichste Skispringer aller Zeiten. Im September beendete er nach knapp 15 Jahren seine Karriere. Im Interview mit SPOX sprach das einstige "Jahrhundert-Talent" über die mentale Einstellung während seiner Karriere und seinen Abschied von der großen Skisprung-Bühne.
Außerdem spricht der 31-jährige Österreicher über die anstehende Vierschanzentournee (Quali in Oberstdorf ab 16.30 Uhr im LIVETICKER), seine Comebacks nach schweren Knieverletzungen sowie seine Taubheit auf dem linken Ohr.
Herr Schlierenzauer, Sie haben das Gefühl in der Luft zu liegen einmal als Sucht beschrieben. Wie halten Sie diese Sucht seit Ihrem Karriereende unter Kontrolle?
Gregor Schlierenzauer: Mit dunkler Schokolade. (lacht) Es ist nicht so extrem. Im Winter gibt es schon Tage, wo ich das Adrenalin vermisse. Aber es gibt ja auch andere Sportarten, wo man ins Schwitzen kommt.
Das Skispringen fasziniert die Menschen seit über 200 Jahren. Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, mit zwei Skiern einen Berg hinunter zu fahren und anschließend über 100 Meter durch die Luft zu fliegen?
Schlierenzauer: Da war etwas Zufall dabei. Ich war immer ein sportbegeisterter junger Bub. Ich habe Tennis, Fußball und Skifahren probiert und bin später über einen Fußballfreund beim Schnuppertraining zum Skispringen gekommen. Seitdem hat mich der Mythos und das Gefühl des Fliegens nicht mehr losgelassen.
Würden Sie Skispringen als Extrem-Sportart bezeichnen?
Schlierenzauer: Es ist sicher etwas Besonderes, weil es nicht jeder machen kann. Man braucht auch wirklich viel Zeit, um ein Niveau zu erreichen, mit dem man von Olympiaschanzen springen kann. Das ist sicher einzigartig und extremer als andere Sportarten. Schließlich gibt es nur ein paar hundert Leute auf diesem Planeten, die dieses Gefühl kennen.
gettySchlierenzauer: "Da muss ein Vogel zeigen mal dazugehören"
Schauen wir auf Ihre Karriere. Es ist die altbekannte Story: Sie kamen mit 16 Jahren in den Weltcup und gewannen auf Anhieb zwei Springen bei der Vierschanzentournee - fortan waren sie das "Jahrhundert"-Talent. Wie bekommt man Jugend und Legendenstatus eigentlich unter einen Hut?
Schlierenzauer: Man kann das nicht wirklich vorbereiten, sondern man muss selbst diese Erfahrung machen. Mit allem, was dazu gehört. Du musst versuchen, deinen Weg zu gehen und diesen möglichst gut zu meistern. Daran wächst man dann.
Ein Jahr nach ihrem Profi-Debüt standen sie bereits bei fünf Weltcup-Siegen. Hätten Sie sich mehr Jugendzeit gewünscht?
Schlierenzauer: Nein, das würde ich so nicht sagen. Es war gut, wie es gekommen ist.
Aber haben Sie sich zwischendurch nicht auch mal gedacht, dass der Hype wieder vorbei sein könnte?
Schlierenzauer: Ja, das war mir immer schon bewusst, dass es nicht nur nach oben geht. Skispringen ist sehr sensibel. Da kann es schnell in die andere Richtung gehen. Das habe ich auch oft genug in den Interviews betont.
In den Folgejahren galten Sie als der Springer, den es zu schlagen gilt. 2009 sprangen Sie in Lillehammer auf 150,5 Meter und stürzten. In Vikersund ging es bis auf 224 Meter und Sie konnten den Sprung aufgrund der hohen Weite erneut nicht stehen. Daraufhin zeigten Sie den Kampfrichtern den Vogel.
Schlierenzauer: Ja, diese Geschichte wurde mir schon öfters vorgehalten. (lacht) Das sind Emotionen, die hat jeder Mensch. Mir war es in jungen Jahren immer wichtig, so authentisch wie möglich zu sein. Da muss auch so ein Vogel zeigen mal dazugehören. Wenn viele Dinge emotional, mental und technisch zusammengreifen, kann man in seiner Sportart eine gewisse Dominanz erreichen. Dann schwebt man auf einer Welle und kann mit seinen Weiten auch außer Kontrolle geraten. Das ist aber im Skispringen nichts Neues. Das hat es immer wieder gegeben.
gettyAls Folge Ihrer unfassbaren Weiten wurde auch die Wind-Gate-Regel eingeführt. Egal, wie weit die Springer damals an den Schanzenrekord herankamen, oben saß noch ein junger Österreicher, um den man wegen seines Talents fast Angst haben musste.
Schlierenzauer: Ich habe die Situation so wahrgenommen, dass es immer weit gehen kann. Ich wollte ja auch immer so weit wie möglich springen. Das war immer mein Ziel. Oft hatte man dann schon ein Bauchgefühl, ob es heute weit geht oder nicht.
Dennoch blieben auch einige Rückschläge nicht aus. Sie rissen sich mehrfach die Bänder im Knie. Wie fühlt man sich in so einem Moment?
Schlierenzauer: Das ist nie eine einfache Situation und gehört im Leben eines Spitzensportlers leider dazu. Das ist die Kehrseite der Medaille. Im Endeffekt muss man versuchen, das Beste daraus zu machen. Und solange das Feuer brannte und das Wissen da war, dass ich gewinnen konnte, habe ich mich wieder hochgekämpft.
Was hat Ihnen Mut gemacht?
Schlierenzauer: Schlussendlich war es immer die Liebe zum Sport. Die Passion. Und vor allem die positive Besessenheit, das ausüben zu wollen.
In der vergangenen Saison infizierten Sie sich mit dem Coronavirus. Wie haben Sie diese Zeit wahrgenommen?
Schlierenzauer: Das kam ziemlich unerwartet, auch auf die gesamte Welt gesehen, und war sehr komisch. Diese Zeit hat sicher auch sehr viel Energie gekostet. Unterschätzen sollte man dieses Virus nicht. Ich habe auch am eigenen Leib gespürt, dass ich beim Sport später träge war und nicht mehr so voller Energie. Ab und zu bilde ich mir ein, dass ich wellenartig Nachwirkungen spüre. Beispielsweise habe ich manchmal mit Konzentrationsschwierigkeiten zu kämpfen. Ausschlaggebend für mein Karriereende war die Infektion aber nicht.
Schlierenzauer: "Mental war es sicher der größte Erfolg"
"Der leise Abschied eines ganz Großen" wurde Ende September nach Ihrem Karriereende getitelt. Hätten Sie sich einen anderen Abschied gewünscht?
Schlierenzauer: Ich bin sehr im Reinen mit mir. Man stellt sich ja immer vor, dass man seine Karriere mit einem sportlichen Erfolg abschließt. Aber was ist Erfolg? Schlussendlich definiert das jeder selbst. Wenn ein Athlet spürt, neue Wege gehen zu wollen, dann ist das mehr als legitim. Und in Wahrheit ist es auch vollkommen egal, ob man gewinnt oder nicht. Die heutige Welt ist sowieso sehr vergänglich und schnelllebig.
Kurz vor Ihrem Karriereende, nach Ihrem erneuten Kreuzbandriss, haben Sie aber gemeinsam mit Werner Schuster noch einmal einen Angriff versucht.
Schlierenzauer: Ja, ich kann mir selbst vorhalten, dass ich alles versucht habe. Wir haben trotz all der Regeländerungen versucht, noch einmal ein Paket zu schnüren, das konkurrenzfähig ist. Von der sportlichen Seite ist mir das dann nicht mehr zu 100 Prozent gelungen. Aber mental war es sicher der größte und schönste Erfolg, nach dieser schweren Verletzung wieder zurück gewesen zu sein.
Auf Ihrem Instagram-Profil ist zu sehen, dass Sie sich mittlerweile sehr viel mit Architektur beschäftigen. Diese Leidenschaft haben Sie nun auch zu Ihrem Beruf gemacht. Wie viel Kontakt haben Sie überhaupt noch zum Skispringen?
Schlierenzauer: Ich verfolge den Sport nach wie vor. Skispringen wird auch immer einen Platz in meinem Herzen haben. Natürlich verfolge ich es aber nicht mehr so fanatisch. Ab und zu - und das ist auch gut so. Ich schließe derzeit meine Ausbildungen im Immobilienbereich ab und versuche da meinen eigenen Weg zu gehen.
IMAGO / Eibner EuropaTaubheit auf dem linken Ohr: "Hat meine Sinne geschärft"
Schon während Ihrer aktiven Zeit haben Sie offen über Ihre Taubheit auf dem linken Ohr gesprochen. Ist das heute immer noch ein Tabuthema?
Schlierenzauer: Früher war man mit Brille direkt eine Brillenschlange. Heute ist es cool, wenn man eine trägt. Es ist eine Art Lifestyle-Accessoire. Bei Hörapparaten sehe ich eine ähnliche Entwicklung. Ich selbst habe aber keinen, weil das bei mir nicht funktioniert. Die Taubheit gehört zu mir dazu - es hat aber auch Ihre positiven Seiten, wenn man nicht alles hört. In der Gesellschaft ist es aber leider immer noch ein Tabuthema, wo man schleunigst etwas machen sollte.
Hatte Ihre Taubheit überhaupt einen Einfluss auf Ihre Karriere als Skispringer?
Schlierenzauer: Ich habe es von Geburt an und kenne es nicht anders. Vor allem in Räumen, wo es sehr laut war, musste ich mich extrem konzentrieren beim Zuhören. Das hat mich müde gemacht. Oder wenn ich von ehemaligen Teamkollegen oder Betreuern von der falschen Seite angesprochen wurde und sehr langsam reagiert habe, wurde mir das oft als arrogant ausgelegt. Auf der anderen Seite war es aber nie ein Problem beim Sport. Im Gegenteil. Ich glaube sogar, dass es meine anderen Sinne geschärft hat.
Olympia? "Wo nicht immer derselbe regiert"
Im kommenden Jahr finden die Olympischen Winterspiele in China statt. In Deutschland wurde die Austragung in China bereits häufig kritisiert. Wie blickt man in der Wintersport-Nation Österreich auf dieses Thema?
Schlierenzauer: Hier habe ich deutlich weniger Kritik gehört. Aber Österreich ist auch kleiner als Deutschland. Ich persönlich bin sicher ein Fan von Olympischen Spielen mit Werten. Wo man etwas spürt, wo Emotionen im Land gegeben sind. Wo Menschenrechte geschützt sind und nicht immer derselbe regiert. Ein Punkt, den das IOC schnellstens überdenken sollte. Das ist aber nichts Neues.
Wie meinen Sie das?
Schlierenzauer: Ich persönlich habe an drei Olympischen Winterspielen teilgenommen. Die ersten Spiele in Vancouver waren die schönsten und familiärsten. Die anderen in Sotschi und Pyeongchang waren so la la. Es sollte einfach Auflagen geben, wonach die Veranstaltungsorte nicht nach Geld, Glanz und Glamour ausgesucht werden, sondern beispielsweise nach Nachhaltigkeit, Nachwuchs und Menschenrechten. Insgesamt ist Olympia aktuell auf dem falschen Weg.
Würden Sie in Peking antreten, wenn Sie noch aktiv wären?
Schlierenzauer: Das muss jeder selbst wissen. Sportler, die schon eine Olympia-Medaille geholt haben, werden das sicher differenzierter sehen. Für einige Skispringer ist das aber ein Lebenstraum und eine einmalige Chance.
Abschließend, welche Chancen hat Karl Geiger, die Vierschanzentournee zu gewinnen?
Schlierenzauer: Ich denke die Chancen stehen für alle gleich. (lacht) Alle Jahre wieder ist es ein Thema. So intensiv habe ich diese Saison nicht verfolgt, aber ich gehe davon aus, dass Geiger, Kobayashi, Granerud und Lanisek die größten Favoriten sind. Die Österreicher um Jan Hoerl sind nicht Topfavorit, aber mit dem nötigen Glück ist alles möglich. Sag niemals nie.
Gregor Schlierenzauer: Seine Karriere in Zahlen
Geburtsdaten | 7. Januar 1990 in Fulpmes (Österreich) |
Verein | SV Innsbruck-Bergisel |
Weltcup-Debüt | 12. März 2006 |
Persönliche Bestweite | 243,5 Meter (Vikersund 2011) |
Weltcup-Siege | 53 |
Weltcup-Gesamtsieg | zwei (2008/09 und 2012/13 |
Olympische Medaillen | vier (Gold, Silber, zweimal Bronze) |
WM-Medaillen | zwölf (sechsmal Gold, fünfmal Silber, Bronze) |
Skiflug-Weltcup-Gesamtsieg | drei (2008/09, 2010/11, 2012/13) |
Vierschanzentournee-Gesamtsieg | zwei (2011/12, 2012/13) |
Karriereende | 21. September 2021 |