Vor dem Großen Preis von Spanien (alle Sessions im LIVETICKER) hat Red Bull einen mutigen, heiß diskutierten Schritt gewagt: Daniil Kvyat wurde ins Toro-Rosso-Team degradiert, Max Verstappen rückt im Tausch zu den viermaligen Formel-1-Weltmeistern auf. Doch was ist der wahre Grund für diese Entscheidung? Was heißt das für Kvyat und den Fahrermarkt? Und was ist eigentlich bei Toro Rosso los? SPOX klärt auf.
Was ist der wahre Grund für den Fahrertausch?
Nach Daniel Kvyats verpatztem Heim-GP in Russland, in dem er nicht nur Vettels, sondern auch Daniel Ricciardos und sein eigenes Rennen ruiniert hatte, kündigte Red-Bull-Motorsportberater Dr. Helmut Marko Konsequenzen an.
Und der Österreicher ließ Taten folgen: Vier Tage nach dem "Tag des Desasters für Red Bull" wurde Kvyat aus dem Hauptteam geschmissen und mit sofortiger Wirkung in die B-Mannschaft von Toro Rosso zurückversetzt. Verstappen erhält im Gegenzug die Chance beim Topteam.
"Ich habe auf der Couch gelegen und eine Serie geschaut, da klingelte das Telefon", erzählt Kvyat, wie er von seinem Schicksal erfahren hat.
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Der Grund für diesen radikalen Schritt? "Es war in erster Linie eine Maßnahme, um den Druck von Daniil wegzunehmen, der dieses Jahr vorhanden war", erklärte Marko im Interview mit Motorsport-Total.com: "Gerade vor Strecken wie Montreal und Monte Carlo. Die verzeihen keine Fehler. Also ist es besser, sich in Barcelona an das jeweilige Auto zu gewöhnen, denn dort gibt es Auslaufzonen."
So zumindest die offizielle Begründung. Hinter der Entscheidung steckt jedoch viel mehr.
Kvyat, der 2015 Vettels Platz bei Red Bull eingenommen hatte, war Ricciardo in den ersten vier Rennen der aktuellen Saison hoffnungslos unterlegen - darüber kann auch das (glückliche) Podium in China nicht drüber hinwegtäuschen.
Im Schnitt fehlten dem 22-Jährigen rund zwei bis drei Zehntel pro Runde auf seinen Teamkollegen, wie Marko vorrechnet. Im Qualifying belief sich der Abstand teils auf acht Zehntel oder umgerechnet auf zehn Startplätze. Welten in der Formel 1 und ein Rückstand, der in einem Topteam so auf Dauer nicht hinnehmbar ist.
Mit Verstappen hatte Red Bull zudem das wohl größte Talent der Motorsportwelt in petto. "Max hat bewiesen, dass er ein herausragendes Talent ist. Seine Leistungen bei Toro Rosso waren beeindruckend und wir geben ihm liebend gerne die Chance, für Red Bull zu fahren", lobte Teamchef Christian Horner seinen Schützling. Mit ihm erwartet sich Red Bull langfristig, zwei absolute Topfahrer an den Start bringen zu können - eine Konstellation, die man sich Stand jetzt mit Kvyat nicht zutraut.
Warum wurde dieser Zeitpunkt gewählt?
Obwohl nach den Aussagen von Marko im Anschluss an das verkorkste Rennen in Sotschi mit Konsequenzen für Kvyat zu rechnen war, überraschte der Moment des Fahrertauschs.
Natürlich, Kvyat fährt bislang keine gute Saison. Doch es sind eben auch erst vier Rennen gefahren. Und im Vorjahr schlug der Russe seinen Stallgefährten mit 95 zu 92 Punkten. Wenn beide Fahrer dabei in die Top 10 fuhren, kam Kvyat fünf Mal vor Ricciardo ins Ziel. Andersherum war das nur vier Mal der Fall.
Die reine Leistung kann also nicht den Ausschlag gegeben haben. Auch der Doppel-Abschuss in Russland war nicht Ursache für den jetzigen Wechsel. Aber: Er war die perfekte Gelegenheit. Die Entscheidung, Kvyats Platz im Red Bull zu räumen, ist nämlich viel mehr als Politikum zu verstehen. Das Team aus Milton Keynes verfolgt einen Plan - und im Mittelpunkt dessen befindet sich Max Verstappen. Kvyat ist sozusagen nur Bauernopfer.
Der Überflieger soll unbedingt in der Red-Bull-Familie gehalten werden. Mit seinem enormen Grundspeed, seiner Cleverness und seinen Überholmanövern machte Verstappen die Konkurrenz bereits auf sich aufmerksam. Mercedes wollte ihn schon zu seiner Formel-3-Zeit 2014 verpflichten. Ferrari-Teamchef Maurizio Arrivabene bezeichnete den 18-Jährigen als "interessanten Jungen", den man wohl gerne als Nachfolger von Kimi Räikkönen sehen würde.
Mit diesem Wissen machte Vater Jos entsprechend Druck auf Red Bull. Denn betrachtet man die Karriere des Teenagers, sieht man eine Kurve, die stets steil nach oben zeigt. Stagnation oder Rückschläge? Fehlanzeige. Damit das so bleibt, sollte der Sprung in ein Topteam eher heute als morgen geschehen.
"Ich war bei Red Bull immer glücklich. Es gab für mich nie einen Grund für einen Wechsel", äußerte sich Max zu den Gerüchten, um dann aber vielsagend zu ergänzen: "Durch diese Gelegenheit [Beförderung zu Red Bull; Anm. d. Red.] bleibt das auch so."
Bis 2017 hätte sich Familie Verstappen wohl noch geduldet, spätestens dann hätte Red Bull handeln müssen. "Max macht einen hervorragenden Job und wird uns in ein bis zwei Jahren Kopfzerbrechen bereiten", sagte Horner noch im September in Anspielung auf eine mögliche Beförderung ins besetzte A-Team. Diese Sorge ist man nun - dank Kvyats Aussetzer - erst einmal los.
Welche Folgen hat Kyvats Degradierung für seine Karriere?
"Es ist keine Hinrichtung von Kvyat, sondern eine tolle Chance, seine Karriere und sein Talent weiterhin unter Beweis zu stellen", stellte Marko nach der Entscheidungsverkündung klar. Horner bestätigte: "Dany darf seine Entwicklung bei Toro Rosso fortsetzen. Er erhält die Gelegenheit, sich wieder in Form zu bringen und sein Potenzial zu zeigen."
Ja, Kvyats Weg in der Formel 1 ist noch nicht zu Ende. Die Degradierung ins B-Team aber ist ein harter Schlag für den jungen Mann aus Ufa. "Die Entscheidung war für mich ein Schock", gab er auf der Pressekonferenz vor dem Spanien-GP zu: "Ich finde, dass ich alles für Red Bull getan habe".
Die Chance auf eine Rückkehr zu Red Bull? Gering. "Ich bezweifle es", gestand auch Kvyats Managerin Oksana Kossatschenko gegenüber der russischen Nachrichtenagentur TASS ein.
Marko gab sich zwar hoffnungsvoller und sagte, dass die Möglichkeit "ganz klar" vorhanden sei, "sonst hätten wir ihn ja nicht zu Toro Rosso gesetzt". Dass es an Alternativen mangelt, die die nötige Qualität besitzen, um mitten in der Saison in die Formel 1 einzusteigen, verschwieg er aber.
Mit Verstappen und Ricciardo hat Red Bull zudem seine Wunschbesetzung. Einzig ein Abgang des Australiers würde Platz schaffen. Doch selbst dann scheint Kvyats erneuter Aufstieg eher unwahrscheinlich.
Seine einzige Chance: Ab jetzt Ergebnisse liefern, seinen neuen Teamkollegen Carlos Sainz Jr. in den Schatten stellen und zurück zu alter Stärke finden. Dass er das nötige Potenzial in sich trägt, hat die Vergangenheit gezeigt.
Darüber hinaus muss man Kvyat insoweit in Schutz nehmen, als dass er mit Ricciardo einen Fahrer als direkten Gegner hatte, der zweifelsfrei zu den Top-5-Piloten im gesamten Feld gezählt werden kann. "Wir haben einen fantastischen Fahrer verloren - und einen fantastischen Fahrer bekommen", sieht Toro-Rosso-Renndirektor John Booth den Fahrertausch dementsprechend entspannt: "Das sieht man, wenn man sich anschaut, was er in der GP-Serie gemacht hat."
Kann Kvyat daran nicht anknüpfen, könnte auch das Kapitel Toro Rosso nach der Saison beendet sein. Mit Pierre Gasly hätte das Team aus Faenza einen talentierten Youngster in der Hinterhand. Und dass Marko und Co. vor Radikalentscheidungen nicht zurückstecken, wurde in den vergangenen Jahren mehrfach deutlich: Jean-Eric Vergne, Jaime Alguersuari und Sebastien Buemi - sie alle mussten ihren Hut nehmen. Dann müssen sich Managerin Kossatschenko und ihr Schützling bei anderen Teams umsehen: "Für uns ist das Wichtigste, dass er im Formel-1-Fahrerlager bleibt. Und er wird bleiben."
Was bedeutet der Wechsel für den Fahrermarkt?
In diesem Jahr kommt die "Silly Season" nicht richtig in Fahrt. Mit Verstappens Aufstieg zu Red Bull dürfte sich das nicht ändern. Im Gegenteil: Das viermalige Weltmeisterteam zieht allen Spekulationen um das heißeste Eisen im Fahrerlager vorzeitig den Stecker und verhindert ein mögliches Wettbieten zwischen Ferrari und Mercedes im Sommer.
Stattdessen könnten die beiden Topteams nun ihren Fokus mehr auf Ricciardo setzen. Auch der hat zwar noch langfristigen Vertrag, wie Marko erst kürzlich bestätigte, doch Ablösesummen wären in der Formel 1 nichts Neues.
Allerdings: Red Bull wird mit allen Mitteln versuchen, Ricciardo zu halten. Denn traditionell setzen die Österreicher auf den eigenen Nachwuchs. Für das vakante Cockpit kämen dann mit Sainz und dem eben erst geschassten Kvyat nur zwei unliebsame Alternativen in Frage. Der Spanier gilt zwar durchaus als talentiert, doch ob man ihn erneut neben Rivale Verstappen aufstellen will?
Viel hängt auch davon ab, ob Mercedes und Ferrari mit der aktuellen Fahrerpaarung in die neue Saison gehen wollen. Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff erklärte vor Saisonbeginn, dass weder Rosberg, dessen Vertrag zum Saisonende ausläuft, noch Hamilton zu 100 Prozent gesetzt seien, wenn sie weiter den "Krieg der Sterne" ausleben.
Hamilton macht darüber hinaus aktuell eher mit wilden Partybesuchen inlusive Alkohol und Stripperinnen Schlagzeilen als mit Erfolgen auf der Rennstrecke - für die PR-Maschine Mercedes sicherlich alles andere als eine Idealsituation. Rosberg liefert mit vier Siegen nach vier Rennen massig Argumente für eine Vertragsverlängerung.
Bei Ferrari sitzt Vettel fest im Sattel. Räikkönens Lage für 2017 ist hingegen noch völlig offen. Man könnte sich bei der Scuderia mehr oder weniger nach Alternativen umsehen. Romain Grosjean gilt als aussichtsreichster Kandidat.
Was ist bei Toro Rosso los?
Nachdem am Morgen des 5. Mai der Fahrertausch verkündet wurde, sorgte am Abend eine weitere Personalie für eine Überraschung: Verstappens bisheriger Renningenieur Xevi Pujolar und Toro Rosso gaben die sofortige Trennung bekannt. Der Spanier, der seit 2002 in der Formel 1 tätig ist, suche eine "neue Herausforderung", wie er via Twitter mitteilte.
In Wirklichkeit dürfte dieser Schritt aber weit tiefere Ursachen haben. Im Toro-Rosso-Team brodelt es seit Monaten hinter den Kulissen. Der Grund: die Konkurrenzsituation von Verstappen und Sainz. Immer wieder gerieten die beiden Youngster auf der Strecke aneinander, stritten um die richtige Strategie und letztlich die Vormachtstellung im Team.
Diese Rivalität ging auch an den Boxenmannschaften nicht spurlos vorbei. Dem Vernehmen nach sollten sich bei den Italienern zwei Lager gebildet haben. Pujolar unterstützte dabei Verstappen und stellte sich so gegen das Sainz-Team. Dass der Renningenieur also ganz freiwillig gegangen ist, darf zumindest angezweifelt werden.
Damit macht auch Verstappens Wechsel gleich mehrfach Sinn. "Es gab eine ziemliche Unruhe bei Toro Rosso zwischen Verstappen und Sainz. Wir haben mit dem Tausch intern mehrere Probleme erledigt", gab Marko unumwunden zu.
Der Formel-1-Kalender 2016 im Überblick