Tomislav Stipic kam vor 25 Jahren als Flüchtling nach Deutschland und beschritt seitdem einen Erfolgsweg, der ziemlich einzigartig im deutschen Fußball ist. Im Interview spricht der 36-Jährige über die Flucht aus Ex-Jugoslawien und den Zufall, der ihn zum FC Ingolstadt führte. Außerdem erklärt Stipic, weshalb er Aue Mourinho vorzog und warum er bei den Sachsen nach dem Abstieg wieder aufhörte.
SPOX: Herr Stipic, Sie sind im Alter von zehn Jahren zusammen mit Ihrer Mutter und sieben Geschwistern wegen des Bürgerkriegs in Ex-Jugoslawien nach Deutschland gekommen. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit noch?
Tomislav Stipic: Ich habe als Kind anfänglich die Spannungen des Bürgerkriegs nicht wahrgenommen. Am eindrücklichsten in Erinnerung ist mir eine Nacht, in der meine Mutter in unser Kinderzimmer gekommen ist und gesagt hat, dass wir alles zusammen packen sollen, weil wir fliehen würden. Da habe ich ihre Angst erstmals gespürt und mir gedacht: Um was geht es hier eigentlich wirklich?
SPOX: Sind Sie noch in derselben Nacht geflohen?
Stipic: Ja, wir sind um fünf Uhr in der Früh in den Bus Richtung München eingestiegen. Mein Vater war bereits seit 1968 in Deutschland. Er hat zunächst als Straßenarbeiter sein Geld verdient und wollte ursprünglich nach zwei, drei Jahren wieder zurückkehren, um mit dem verdienten Geld ein Haus in Kroatien zu bauen. Wir sind damals an Kriegsgebieten vorbeigefahren, so dass mir allmählich klar wurde: Jetzt verändert sich mein Leben. Am Hauptbahnhof in München wartete mein Vater und hat uns in Empfang genommen.
SPOX: Welche Eindrücke hatten Sie von Deutschland?
Stipic: Ich dachte: Hier haben alle Menschen alles. Bis wir für unsere Familie ein geeignetes Haus gefunden haben, wohnte ich dann monatelang bei meiner Tante, die wie auch einige meiner Onkel schon länger in Deutschland lebte. Ich sprach zwar kein Wort Deutsch, aber es ging relativ schnell los mit dem Schulbesuch und der Integration in die neue Umgebung. Mein Vater war da sehr penibel.
SPOX: Inwiefern?
spoxStipic: Er achtete darauf, dass jedes seiner Kinder in der Spur blieb. Meine Eltern haben in der Anfangszeit darauf bestanden, dass wir keinen Kontakt zu anderen Landsleuten suchten. Selbst meine Tanten und Onkel sahen wir dann nur noch punktuell. Mein Vater schaute sich auch bewusst nach einem Haus in einer Umgebung um, in der man gezwungen war, Deutsch zu sprechen und deutsch zu leben. Innerhalb von sechs Monaten konnte ich die Sprache fast fließend.
SPOX: Und nebenbei spielte der Fußball eine große integrative Rolle?
Stipic: Natürlich. Wir waren in Kroatien in jeder freien Minute auf der Wiese und haben gebolzt. In Deutschland meldeten mich meine Eltern sofort beim TSV Oberhaunstadt an. Nach zwei Jahren bin ich in die D-Jugend des TV 1861 Ingolstadt gewechselt und von dort in die B-Jugend des MTV Ingolstadt. Ich spielte als defensiver Mittelfeldspieler in der Bayernliga gegen den FC Bayern, 1860 und Nürnberg - das war damals die höchste Liga in dieser Altersklasse.
SPOX: Weshalb haben Sie es nicht bis zum Profi geschafft?
Stipic: Aus heutiger Sicht als Trainer kann ich rückwirkend urteilen, dass mein Gesamtpaket als Spieler nicht ausgereicht hätte. Es gab schon beim MTV ein paar Spieler, die besser waren als ich. Ich bin dann als 19-Jähriger in die Bezirksliga zum FC Dörndorf-Bitz gegangen und habe ein Haus in Hitzhofen gebaut. Als ich 25 war, kam mein Nachbar auf mich zu und fragte mich, ob ich nicht als Spielertrainer in der Kreisklasse beim FC Hitzhofen-Oberzell arbeiten möchte.
SPOX: Sie haben zugestimmt. Wussten Sie, auf was Sie sich da genau einlassen?
Stipic: Nein. Mir war aber klar, dass ich als Trainer in der Kreisklasse Menschen für eine gemeinsame Idee begeistern muss. Aber ob ich das kann? Ich wollte mich auf jeden Fall nicht blamieren und habe mich deshalb so schnell wie möglich ausbilden lassen. Anfang 2006 hatte ich die C-Lizenz inne, später kam noch die B-Lizenz hinzu. Das war mein Einstieg als Coach. Mein Nachbar machte mich letztlich zum Trainer.
SPOX: Nach zwei erfolgreichen Jahren bekamen Sie bereits erste Angebote. Mit 27 gingen Sie dann für eine Saison erneut als Spielertrainer zum SV Denkendorf in die höhere Kreisliga.
Stipic: Ja. Wir haben damals als einzige Mannschaft Raumdeckung gespielt, was für die Zeit und die Liga völlig untypisch war. Doch damit gewannen wir mehrere Spiele sogar zweistellig. Diese strategische Arbeit als Trainer, aber auch das Führen einer Gruppe, hat mich plötzlich enorm ausgefüllt. Ich war in den drei Jahren als Spielertrainer vor allem als Menschenfänger gefragt. Das war eine extrem wichtige Erfahrung für meinen weiteren Werdegang.
SPOX: Was meinen Sie mit Menschenfänger?
Stipic: Du übernimmst Verantwortung und begeisterst dein Team für ein gemeinsames Ziel. Ein Beispiel: Wir haben immer sonntags gekickt. Die Versuchung für meine Spieler, am Samstagabend feiern zu gehen, war natürlich groß. Ich war zu Hause, bin schlafen gegangen und habe mir um 2 Uhr nachts den Wecker gestellt, weil ich wusste, dass meine Jungs in der Disko sind, die hier in der Nähe war. Ich bin dann dort rein, habe alle zusammen getrommelt, noch ein Getränk mit ihnen getrunken und sie dann nach Hause ins Bett gebracht. Meine Frau hat mich für verrückt erklärt.
SPOX: Nachvollziehbar, oder?
Stipic: Ein bisschen positive Verrücktheit gehört dazu. (lacht) Ich habe mit der Zeit als Trainer eben eine immer größere Motivation entwickelt, unbedingt und unter allen Umständen gewinnen zu wollen. Dazu musste ich die Spieler, die ja wie ich selbst nebenbei noch einer normalen Arbeit nachgingen, mitnehmen. In der Rückschau war es für mich sehr prägend, dass ich innerhalb einer Mannschaft all diese menschlichen Faktoren, die in den unteren Ligen an der Tagesordnung waren, mitbekommen habe. Sie sind mir auch jetzt im Profibereich enorm wichtig.
SPOX: Apropos Arbeit: Sie sind gelernter Schreiner, haben bei Ihrem Vater im Straßenbau mitgeholfen und später neben Ihren Trainertätigkeiten 15 Jahre als Industriemechaniker bei Audi in Ingolstadt gearbeitet - selbst bis vor zwei Jahren noch. Wie haben Sie das alles unter einen Hut gebracht?
Stipic: Dass ich während dieser Zeit auch noch als Ausbilder in der ganzjährigen Fußballschule des FC Ingolstadt gearbeitet habe, ließ ich bis jetzt bewusst unter den Tisch fallen. (lacht) Ich habe die letzten zehn Jahre bei Audi von 22 bis 6 Uhr in der Nachtschicht gearbeitet. Mittags war ich häufig mit der Fußballschule beschäftigt, am Abend leitete ich das Training meiner Mannschaft und danach bin ich in die Arbeit gegangen. Es gab viele Tage, an denen ich morgens um 7 ins Bett ging, zwei Stunden später wieder aufstand und den ganzen Tag auf dem Platz verbrachte. Ich habe das getan, um als Trainer in die Situation zu kommen, in der ich mich jetzt befinde. Ich bin einfach davon überzeugt, dass man eine unglaubliche Energie entwickeln kann, wenn man etwas unbedingt will.
SPOX: Hört sich dennoch auch irgendwo ungesund an.
Stipic: Wichtig ist, dass man immer und zu jedem Zeitpunkt weiß, wofür man den Aufwand betreibt. Ich bin währenddessen ja auch Vater von insgesamt vier Kindern geworden. Ich befand mich oft in der Zwickmühle zwischen Familie, Fußball und Arbeit. Als Spielertrainer mit drei Einheiten pro Woche ging das noch. Als ich jedoch beim FC Ingolstadt im Leistungsbereich die U17 übernahm, war jeden Tag Training - und nebenbei weiterhin die Fußballschule. Das war dann deutlich intensiver. Mir half es, dass ich es bei Audi zu meiner eigenen Werkstatt in der Instandhaltung gebracht habe. Dadurch wurde der Job nicht mehr von dieser Pausenlosigkeit bestimmt, die noch als Bandarbeiter vorherrschte.
SPOX: Wie sind Sie denn überhaupt zum FCI gekommen?
Stipic: Ich habe mich dort mehrere Jahre lang um einen Posten im Leistungsbereich beworben. Ich wollte ja längst Profitrainer werden. Anfangs hagelte es die Absagen. Mir wurde klar, dass sie nur auf mich aufmerksam werden, wenn ich als Amateurtrainer eine überzeugende Arbeit abliefere und mich nebenbei über die Fußballschule empfehle. Dass es letztlich geklappt hat, lag am Zufall und einer intelligenten Entscheidung von Dirk Behnke, dem Leiter der Fußballschule.
SPOX: An welcher?
Stipic: Es gab ein Oster-Camp, für das sich fast alle Kinder der Ingolstädter Vereinsoberen angemeldet hatten. Dirk meinte, wenn ich dort die Kinder begeistere und sie dann gegenüber ihren Eltern von mir schwärmen, dann geht vielleicht etwas. Die entscheidende Person war letztlich der Bruder von Geschäftsführer Harald Gärtner, der den gesamten Tag über am Rande des Trainingsplatzes zuschaute. Er kam im Anschluss auf mich zu und wollte mich kennenlernen. Ich dachte, er sei einfach der Vater eines der Kinder. Er meinte, als Journalist habe er bereits viele Trainer beobachten können, doch von meiner Ausstrahlung sei er besonders begeistert gewesen. Deshalb wollte er auch wissen, welche Mannschaft ich beim FCI trainieren würde.
SPOX: Keine, mussten Sie antworten.
Stipic: Genau, eine Woche zuvor hatte ich die letzte Absage erhalten. Er meinte dann: Mein Bruder ist nicht ganz dicht. (lacht) Ich: Welcher Bruder? Er: Harald Gärtner. Ich: Du lieber Himmel, sagen Sie ihm bloß nichts. Ich habe doch erst ganz frisch eine Absage bekommen. Noch am selben Abend aber klingelte mein Telefon und der Leiter des Nachwuchsleistungszentrums war am Apparat. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag, an dessen Ende ich dann neuer Trainer der U17 war.
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SPOX: Die U17 war damals so etwas wie das Sorgenkind der FCI-Jugendteams. Man spielte nur in der Landesliga, der dritthöchsten Spielklasse. Nach Ihrer ersten Saison stand der Aufstieg in die Bayernliga mit 18 Punkten Vorsprung...
Stipic: Und dort sind wir erst hinter Jahn Regensburg Zweiter geworden, im Jahr darauf aber in die U17-Bundesliga aufgestiegen.
SPOX: Das alles während der Nachtschicht, dem ständigen Training, der Fußballschule, dem Hausbau und Ihrer eigenen Familie.
Stipic: Ja. Nebenbei habe ich im Blockunterricht in Kroatien auch noch meinen Fußballlehrerschein gemacht. Der FCI hat mir deshalb während der zweiten Bayernliga-Saison auch die Arbeit bei der Fußballschule sozusagen verboten. Die dachten, ich sei verrückt. Bei mir fand auch ein Umdenken statt: Als sich abzeichnete, dass wir den Aufstieg in die Bundesliga schaffen werden, wollte ich am Saisonende für ein Jahr aufhören. Ich hatte meine Familie in den Vorjahren einfach vernachlässigt und nur in mich und mein Ego investiert.
SPOX: Das fand aber der FCI nicht so prickelnd, oder?
Stipic: Harald Gärtner wollte das unter allen Umständen vermeiden. Er wollte mich stattdessen nach den zwei Aufstiegen mit der U17 belohnen und übergab mir im Juni 2013 die Verantwortung für die zweite Mannschaft. Zu diesem Zeitpunkt fanden wir auch mit Audi die Regelung, dass ich freigestellt und mein dortiger Arbeitsvertrag eingefroren wurde. Die Nachtschicht war damit Geschichte, die Fußballschule auch - ich konnte mich erstmals in meinem Leben vollumfänglich dem Trainerdasein widmen.
SPOX: Auch das hatte durchschlagenden Erfolg: Im ersten Jahr bei der Ingolstädter U23 spielten Sie in der Regionalliga mit 57 Punkten die beste Saison der Vereinsgeschichte. Anschließend verjüngten Sie die Truppe um ganze drei Jahre - und gingen nach zehn Spielen auf Platz zwei liegend zu Erzgebirge Aue, Ihrer ersten Profistation. War dies auch das erste Angebot, das Sie aus dem Profibereich bekamen?
Stipic: Im Grunde schon. Es gab nach dem ersten Jahr als U23-Coach bereits ein paar Anzeichen, dass man auf mich aufmerksam geworden war. Ich hatte mich auch mental für den Profibereich geeignet gefühlt und mir gewünscht, dass da etwas kommt. Meine gesamte Vita bis zu meiner Zeit als Spielertrainer, aber auch insbesondere die rund vier Jahre als U17- und U23-Trainer, in denen ich die strategische und systematische Entwicklung der sportlichen Fähigkeiten der Spieler und deren Persönlichkeiten intensiv kennenlernte, gaben mir die Stärke, den Weg im Profibereich künftig beschreiten zu können.
SPOX: Bis dato waren Sie mit all Ihren Teams überdurchschnittlich erfolgreich. Worin lag das Geheimnis Ihrer Spielidee?
Stipic: Es geht darum, Verständnis in den Köpfen der Spieler zu verankern, um Gedankengleichheit auf dem Platz zu erzielen. Hat man innerhalb der gesamten Mannschaft den selben Gedanken, erreicht man einen Bewegungsvorsprung vor dem Gegner und erzielt eine hohe Identifikation der Spieler mit dem Spiel. Ich glaube auch, dass man sich als Trainer durch Empathie und spezifische Übungs- und Spielformen auch mal überflüssig machen sollte. Die Dosis des Lehrens und die Intensität des Führens sind entscheidend, Langeweile dämmt Geschwindigkeit und Teamentwicklung.
SPOX: Den Kontakt nach Aue stellte Mirko Reichel her, der damals U23-Coach bei Greuther Fürth war. Wie haben Sie sich gefühlt, als Ihnen klar wurde, dass Sie nun wirklich die Chance haben, Trainer in der 2. Liga zu werden?
Stipic: Als Mirko anrief und mir erzählte, ich könnte zu einem Vorgespräch nach Aue kommen, stand meine Frau neben mir. Wir umarmten uns und sie meinte: Jetzt ist es so weit. Das werde ich nie vergessen.
SPOX: Wussten Sie, dass es zum damaligen Zeitpunkt in Aue drunter und drüber ging, man nach vier Spieltagen mit null Punkten Tabellenletzter war und neben dem Präsidenten auch zahlreiche Gremiumsmitglieder zurückgetreten waren?
Stipic: Nein. Ich habe auch die Trainerentlassung gar nicht mitgekriegt, da ich so auf meinen Job in Ingolstadt fokussiert war. Ich habe mich dann aber eingehend informiert und wurde vollends aufgeklärt.
SPOX: Beim anschließenden "Bewerbungsgespräch" mussten Sie sich vor allem gegenüber den Gebrüdern Helge und Uwe Leonhardt bewähren, die als Präsident und Aufsichtsratsmitglied die dominanten Figuren des Klubs sind. Sie wurden in Leonhardts Schlosshotel Wolfsbrunn in Hartenstein eingeladen und stundenlang im dortigen Keller befragt. Wie lief das genau ab?
Stipic: Man wollte alles über den Menschen und Trainer Tomislav Stipic wissen. Sie haben mich vier, fünf Stunden lang von oben bis unten gescannt und ich habe ihnen bereitwillig alles erzählt. Das war wie ein Verhör - einerseits irgendwie beängstigend, andererseits aber auch hochspannend. Am Ende sagten sie, dass sie mir nichts versprechen wollen, aber von mir überzeugt wären und es sehr gut für mich aussehen würde.
SPOX: Sie haben den Job bekommen - und dafür eine Hospitanz bei Jose Mourinho und dem FC Chelsea sausen lassen. Was hatte es damit auf sich?
Stipic: Der Kontakt entstand über Predrag Mijatovic. Jose Mourinho fand das, was er über mich hörte, spannend. Ich bekam eine Einladung nach Wien, um mich einigen Chelsea-Vereinsverantwortlichen vorzustellen. Daraufhin sollte ich im September oder Oktober für zwei Wochen nach London kommen - aber plötzlich landete ich in Aue.
SPOX: Und das erste Mal vor einer Mannschaft aus echten Profis, die wie beispielsweise Michael Fink schon enorme Erfahrung vorweisen konnten.
Stipic: Ich war so aufgeregt und voller Vorfreude, dass ich in der Woche, die zwischen dem ersten Anruf und dem ersten Training lag, acht Kilo abgenommen habe. (lacht) Als ich das erste Mal vor der Mannschaft stand, fielen viele neugierige Blicke auf mich. Nach dem Motto: Wer zum Teufel ist denn der Stipic? Die hatten mich ja noch nie gesehen. Ich habe dann ein paar kurze, prägnante Worte gesprochen und vor allem um eines gebeten: Vertrauen.
SPOX: Würden Sie sagen, dass Ihnen bereits bei Ihrer Amtsübernahme die Schwere der Aufgabe vollkommen bewusst war?
Stipic: Mir war bewusst, dass ich kein vor Selbstvertrauen, Spielwitz und Zusammenhalt strotzendes Team vorfinden werde. Sportdirektor, Athletiktrainer, Videoanalyst, Scoutingabteilung, all das hatten wir nicht - aber wir hatten ein kleines Team, das sich aufopferte und mit Herzblut arbeitete. An manchen Tagen habe ich über 100 Telefonate geführt. In dieser Intensität und ohne Komfortzone acht, neun Monate als 35-jähriger Trainer auf seiner ersten Profistation im Abstiegskampf zu verbringen, war eine Schule fürs Leben - und dafür bin ich Aue auch dankbar.
SPOX: Wie sah die Zusammenarbeit mit den in Aue allgegenwärtigen Leonhardt-Brüdern aus?
Stipic: Sie waren sehr direkt und hatten viel Selbstvertrauen. Es war andersartig, aber sehr kurzweilig und vor allem enorm respekt- und vertrauensvoll. Das sind echte Geschäftsleute, die niemanden im Stich lassen und sich einer Sache mit Leib und Seele verschreiben können. Helge Leonhardt kam nach jedem Abschlusstraining zu uns in die Trainerkabine und wollte den Matchplan für das kommende Spiel sehen. Er wollte genau wissen, wie wir spielen wollen und wo die Stärken und Schwächen des Gegners liegen. Er hat sich sogar Fotos von den Flipcharts und Videosequenzen gemacht. Ich habe ihn gebrieft wie einen Spieler. (lacht)
SPOX: Wäre es nur nach der "Stipic-Tabelle" gegangen, hätten Sie mit Aue auf Platz zwölf abgeschlossen. Am Ende wurde man jedoch Tabellensiebtzehnter und stieg ab. Sie sind daraufhin von Ihrem Amt zurückgetreten und argumentierten, Sie wollen sich nun den Dingen widmen, die zuvor zu kurz gekommen seien. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Stipic: Wenn ich etwas tue, dann gibt es für mich keine Grenzen und immer 100 Prozent Leistung und Konzentration auf die Aufgabe. Ich empfinde den Trainerjob als meine Berufung. In Aue wurde ich meinem eigenen Anspruch nicht mehr vollends gerecht und hatte das Gefühl, nicht in jedem Moment der beste Trainer sein zu können, den die Mannschaft braucht. Ich will aber der Beste sein, der ich sein kann - und nur noch an meiner Produktivität als Coach gemessen werden. Künftig darf es keine nebenbei laufenden Dinge mehr geben, die meinen Fokus verändern könnten. Darüber hinaus hat mich das Gefühl nicht losgelassen, mich meinen vernachlässigten Werten wie meiner Familie widmen zu wollen.
SPOX: In Aue waren Sie von Ihrer Familie getrennt. Wie werden Sie diese Entscheidung auf weiteren Stationen handhaben - oder ist es beschlossene Sache, dass die Familie künftig mitkommt?
Stipic: Sie wird mich ab sofort auf jeder Station begleiten. Ich erwarte viel von mir und muss leistungsfähig sein. Wenn ich mich als Trainer im Spiegel nicht anlachen kann, kann ich auch niemandem etwas geben. Das ist eine wichtige Erkenntnis, die mich die Zeit im Erzgebirge lehrte.
SPOX: Sie haben durch diesen Schritt auch eine neue Stufe der Prominenz erreicht und müssen sich auch zu verkaufen wissen. Wie haben Sie Ihre öffentlichen Auftritte reflektiert?
Stipic: Auch dafür hat die Pause gut getan, denn das war für mich persönlich die größte Veränderung. Die hohe Medienpräsenz, das Interesse an Randnotizen oder der gestiegene Zeitaufwand für Dinge abseits des Platzes sind Unterschiede, auf die ich nicht vorbereitet war. Man müsse sich eben gut verkaufen können, heißt es ja häufig. Diese Begrifflichkeit gefällt mir nicht so sehr. Ich möchte durch meine Arbeit, mein Wesen und mein natürliches Auftreten überzeugen. Ich will mich nicht verstellen müssen.
SPOX: Kurz nach Ihrem Ende in Aue hieß es, Sie seien ein Kandidat auf den Trainerposten bei Greuther Fürth. Wie wird es bei Ihnen nun weitergehen?
Stipic: Mir lagen nach dem Aus in Aue drei Anfragen vor, doch dafür waren die Zeit und ich selbst nicht reif. Meine Pause dauert nun seit drei Monaten an, ich habe bei einigen Vereinen hospitiert und viele interessante Gespräche mit Brancheninsidern führen können. Ich fühle mich gestärkt und motiviert und möchte meine Trainerkarriere gerne fortsetzen. Mal sehen, was passiert.
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