Bei den Stuttgarter Fans löste die obligatorische Bekanntgabe der Aufstellung im Stadion am vergangenen Samstag längst nicht mehr die vielleicht erwartete Verwunderung aus.
Einige wussten es bereits, andere ahnten es, aber ein kleiner Teil war dennoch überrascht als VfB-Stadionsprecher Holger Laser nicht wie gewohnt an erster Stelle den Namen Sven Ulreich auf die Ränge rief. Proteste gab es aber nicht, denn der Einsatz von Thorsten Kirschbaum gegen Hannover war eigentlich nur eine logische Schlussfolgerung und Grundsatzentscheidung.
Für Ulreich dürfte es nach mehr als vier Jahren Nummer-Eins-Status Deja-vu-Charakter gehabt haben, denn schon im Jahr 2008 nahm ihn ein gewisser Armin Veh aus dem Kasten. Damals hatte der Meistertrainer den 19-Jährigen vor dem zweiten Spiel der Rückrunde zur neuen Nummer eins erklärt, um ihn dann, nach zwei Patzern gegen Leverkusen zehn Spiele später, wieder durch Raphael Schäfer zu ersetzen.
Die Art und Weise wie Veh seinen Keeper damals öffentlich demontierte, stieß auf Kritik und veranlasste Robert Enke sogar zu einem aufmunternden Anruf beim Torwartkollegen Ulreich. "Um ein Großer zu werden, muss er auch mit Druck fertig werden. Er wird ja schließlich auch gefeiert, wenn er gut hält", hatte Veh damals kritisiert. Auch Bruno Labbadia hatte 2011 Zweifel an Ulreichs Qualitäten. Dieser galt als abgesetzt, doch Marc Ziegler verletzte sich in seinem ersten Spiel als neue Nummer eins schwer und so kehrte "Ulle" ins Gehäuse zurück.
Anspruch ungleich Ausstrahlung
Der frühere U-Nationalspieler hatte durch die Rückschläge lange mit mangelndem Selbstvertrauen und Zweifeln zu kämpfen, wirkt seit einiger Zeit aber mental gefestigter als in früheren Jahren. Beim VfB will er eigentlich Führungsspieler sein, lieferte in engen Spielen auch wichtige Paraden, wenn er gebraucht wurde. Sogar die Nationalmannschaft wurde durch Fredi Bobic und Ulreich selbst zwischenzeitlich zum Thema gemacht, wie es zuletzt auch bei Antonio Rüdiger der Fall war.
Die Ansprüche waren und sind hoch, doch der 26-Jährige schafft es nicht seine Ausstrahlung auf dem Platz dementsprechend anzupassen. Zu oft agierte er unentschlossen und zögerlich. Nicht selten wurden seine Innenverteidiger, in dieser Saison vor allem in Person von Rüdiger, ihm gegenüber laut. Schon zu Zeiten von Serdar Tasci oder Mathieu Delpierre waren ähnliche Szenen zu beobachten.
Die defensive Viererkette erwartet mehr Kommunikation, mehr klare Ansagen von ihrem Keeper. Gegen Dortmund versuchte Rüdiger einige Male Ulreich wach zu rütteln, schrie und gestikulierte wild, um sich dann doch mit einem Kopfschütteln abzuwenden.
Ulreich stand aufgrund seiner Vereinsverbundenheit und Verdienste lange trotzdem nicht zur Disposition, doch sein Fehler gegen den BVB lieferte dem neuen Trainer den passenden Vorwand und die nötige Legitimation für eine große Veränderung auf einer sensiblen Position im Mannschaftsgefüge.
Rationale Entscheidung von Veh
Auch wenn Armin Veh bei der Begründung des Torhüter-Wechsels von einem "Bauchgefühl" sprach, ist er durchaus eine rationale Entscheidung des Trainers. Nicht nur bei den Fans hat sich das Standing des Stuttgarter Stammkeepers über die Jahre verändert. Charakterlich ist Ulreich kein Vorwurf zu machen, er ist als echter Stuttgarter und VfB-Eigengewächs Identifikationsfigur bei den Schwaben. Doch auch beim patriotischsten Anhänger zählt irgendwann in erster Linie der sportliche Erfolg.
Den hat nicht alleine Sven Ulreich gefährdet, doch die Art seines Torwartspiels trug, gerade bei Heimspielen, auch nicht zur Stabilisierung der Mannschaft bei und sorgte oft für Unmutsäußerungen von den Rängen. Zudem schaffte es das Eigengewächs bisher nicht eine komplette Saison auf demselben Niveau abzuliefern.
Sven Ulreichs OPTA-Statistiken in der Bundesliga
Seine Stärken hat der 26-Jährige auf der Linie und im Bereich der Sprungkraft, in Sachen Strafraumbeherrschung und vor allem dem fußballerischen Teil des Torwartspiels klaffen dagegen enorme Defizite. Nahezu jede Spieleröffnung des Keepers wird zu einem hohen, unkontrollierten und damit neutralen Ball, bei dem meist die gegnerischen Defensivspieler aufgrund ihres Stellungsspiels im Vorteil sind.
"Die Position des Torhüters ist diejenige, die sich im Fußball am meisten verändert hat", sagt DFB-Torwarttrainer Andreas Köpke und das bekommt auch Ulreich zu spüren. Da Stuttgart in der Defensive ohnehin fast schon chronische Probleme hat das Spiel aufzubauen, wird der Torhüter oft mit eingebunden. Das führt dazu, dass eben jene Defizite auf Seiten des Keepers noch stärker ins Gewicht fallen.
"Sven muss besser Fußballspielen"
Die Außenverteidiger gelten beim VfB als unsichere Anspielstationen, also wählte Ulreich aufgrund seiner limitierten technischen Fähigkeiten fast immer den sicheren, aber ineffektiven Ball. "Sven muss lernen, ein Spiel besser zu lesen. Er muss besser Fußballspielen, das Spiel schneller eröffnen. Das wird immer wichtiger", hatte Veh vor der Saison gefordert und damit eigentlich schon begründet warum nun Thorsten Kirschbaum im Tor steht.
Der 27-Jährige kam vor etwas mehr als einem Jahr aus Cottbus zum VfB und stellte gleich zu Beginn klar: "Ich will Nummer eins in der Bundesliga werden." Bis zur Partie gegen Hannover musste er sich mit der Rolle als Ulreich-Ersatz zufrieden geben, hinterließ im Training aber wohl schon länger Eindruck.
Veh war schon bei seinem Amtsantritt davon überzeugt, dass "Kirschbaum von der Leistung her kein zweiter Mann" ist. Nun soll der Linksfuß mit seinem Spielverständnis und seinen technischen Fertigkeiten die Grundausrichtung im Aufbauspiel der Stuttgarter stabilisieren.
In seinen bisher fünf Pflichtspiel-Einsätzen für die Schwaben strahlte er bei seinen Pässen viel Ruhe aus und lieferte zwischen den Pfosten unauffällige, aber souveräne Leistungen ab. Nun erhält er dauerhaft den Vorzug vor Ulreich.