SPOX: Herr Meißner, am 3. August 2003 im Spiel des VfB Stuttgart gegen Hansa Rostock ist Philipp Lahm in der 76. Minute für Sie eingewechselt worden. Es war sein erstes Spiel in der Bundesliga.
Silvio Meißner: Was für eine Ehre. (lacht)
SPOX: Was verbinden Sie mit dieser Partie?
Meißner: Ich kann mich noch gut daran erinnern. Vor dem Spiel habe ich mit ihm gesprochen. Ich habe ihn noch einmal daran erinnert, dass er seine Schienbeinschoner und das Trikot mit rausnehmen und sich später gut aufwärmen soll. Dann habe ich gesagt: "Wenn Magath dich ruft, mach nicht den Entenmarsch, sondern gib Gas."
SPOX: Letzteres war in dem Spiel ein entscheidender Tipp.
Meißner: Genau. Es war so, dass der Trainer eigentlich Alex Hleb gerufen hatte. Aber er kam eben an wie eine Ente, ganz langsam. Da ist Felix Magath ausgerastet und hat gesagt: "Setz dich hin, ich hole mir lieber den Lahm." Er ist gekommen und war direkt startklar.
SPOX: Dieser Zufall war der Beginn einer großen Karriere.
Meißner: Das konnte damals keiner von uns ahnen. Man dachte, da kommt ein kleiner Jugendspieler. Aber er hat aus seinen Möglichkeiten das Maximale herausgeholt und schon in der Vorbereitung angedeutet, dass er ein sehr guter Fußballer ist.
SPOX: Im Laufe seiner Karriere zeichnete sich Lahm durch seine Vielseitigkeit aus, spielte hinten links, hinten rechts und im Mittelfeld. Hat sich diese Flexibilität schon damals angedeutet?
Meißner: Angedeutet auf jeden Fall. Er hatte schon in jungen Jahren ein hohes Spielverständnis und eine große Flexibilität. Er ist die Linie hoch und runter gerannt. Als er auf der linken Seite spielte, wusste jeder, dass er immer nach innen geht, aber er hat es durch seine Wendigkeit trotzdem immer hinbekommen, sich durchzusetzen. Darüber hinaus hat er kaum Fehlpässe gespielt und war sehr clever im Zweikampf. Damals hat er erzählt, dass er in der Jugend viel auf der Sechs gespielt hat. Später bei den Bayern hat man dann ja auch gesehen, dass er auch als Sechser nicht verkehrt war.
SPOX: Sie sind zehn Jahre älter als Lahm und gehörten in der Truppe der "Jungen Wilden" bereits zu den erfahrenen Stützen. Waren Sie zu Beginn ein Ansprechpartner für ihn?
Meißner: Philipp hat bei mir um die Ecke gewohnt, zwei Dörfer weiter. Da ist es ganz logisch, dass ich ihm anfangs ein paar Tipps gegeben habe, wo er gut essen oder einkaufen gehen kann. Wir haben uns auch im Training ausgetauscht. Bei Magath war es nicht so einfach, das Training sofort durchzustehen. Aber er hat das direkt gut gemeistert und nicht allzu lange meine Hilfe gebraucht. Seine Entwicklung ging ja auch schnell voran.
SPOX: Er ist bereits im September Stammspieler geworden.
Meißner: Das war in dieser kurzen Zeit nicht selbstverständlich. Wir waren eine gestandene Bundesligamannschaft, sind im Jahr davor Vizemeister geworden und er kam aus einer zweiten Mannschaft zu uns. Aber Hermann Gerland, den ich aus meiner Bielefelder Zeit gut kenne, hatte damals schon ein sehr gutes Auge für Talente.
SPOX: Wobei Gerland selbst erzählte, er habe Lahm angeboten "wie Sauerbier"...
Meißner: ...und keiner wollte ihn. Ja, das habe ich auch gehört.
SPOX: Magath hat angebissen und ihn im Sommer 2003 auf Leihbasis verpflichtet. War das eine Schlüsselentscheidung für Lahms Werdegang?
Meißner: Philipp ist im richtigen Moment zum VfB gekommen. Er hatte vorher bei Bayern unter Ottmar Hitzfeld schon mal ein Champions-League-Spiel gemacht. Aber die Perspektive bei uns war besser. Nach wenigen Monaten war er Stammspieler. Plötzlich stand er gegen Manchester United in der Startelf, weil Heiko Gerber angeschlagen war und es keinen richtigen linken Verteidiger gab. Er hat es richtig gut gemacht und mit dazu beigetragen, dass der VfB Manchester United geschlagen hat. Das wird es nicht mehr so oft geben in den nächsten Jahren.
SPOX: Wie schnell bekam er Akzeptanz in der Kabine?
Meißner: Wir hatten uns innerhalb von zwei Jahren vom Abstiegskandidaten zum Vizemeister entwickelt. Deshalb waren die Stimmung und das Mannschaftsklima ohnehin gut. Philipp hat mit Leistung überzeugt und war darüber hinaus ein witziger Typ, ein typischer Bayer, der auch mal seine Späßchen gemacht hat. Deswegen war er schnell integriert, aber das war in der überragenden Truppe auch einfach.
SPOX: Am 15. Spieltag der Saison 2003/2004 waren Sie sogar ungeschlagener Tabellenführer. Was war das Erfolgsgeheimnis?
Meißner: Wir hatten uns seit dem Abstiegskampf individuell weiterentwickelt, aber der Mannschaftsgedanke stand über allem. Den Grundstein dafür haben wir sicherlich in der Trainingsarbeit gelegt. Felix Magath hat das Team fit gemacht, doch er war natürlich auch nicht einfach. Es gab Situationen, in denen wir uns gedacht haben: "Was ist eigentlich mit dem Trainer los?" Aber über solchen Geschichten wächst eine Truppe auch menschlich zusammen.
SPOX: Woran denken Sie da beispielsweise?
Meißner: An einem Dienstag lud uns Felix abends nach zwei harten Trainingseinheiten in die Staatsgalerie ein. Dort haben wir uns die Bilder angeschaut - ein bisschen Kultur kann ja nicht schaden - und anschließend gab es Essen. Das hat allerdings über eine Stunde auf sich warten lassen. Jeder war hundemüde und hatte Hunger. Die Leute fingen schon an, unruhig zu werden und auf den Tisch zu klopfen.
SPOX: Wie ging es weiter?
Meißner: Als das Essen vorbei war, sind alle ziemlich schnell nach Hause gegangen. Davon war Felix dermaßen beleidigt, dass er danach vier Wochen gar nicht mit uns gesprochen hat. Das Training hat komplett sein Co-Trainer Seppo Eichkorn geleitet und er hat sich an den Zaun zu den Fans gestellt und mit denen gequatscht. Er hat nur vor dem Spiel die Ansprache gehalten und die Aufstellung bekanntgegeben. Das war das Einzige, was er über die ganze Woche mit uns geredet hat. Doch in dieser Phase haben wir alle Spiele gewonnen.
SPOX: Wie hat sich die Situation letztlich aufgelöst?
Meißner: Irgendwann hat sich das wieder normalisiert, ohne dass er es noch einmal groß thematisiert hätte. Aber die Ergebnisse haben ihm ja auch Recht gegeben. Manchmal sind solche irrsinnigen Aktionen von Trainern förderlich.
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SPOX: Magath haftet in der Öffentlichkeit der Ruf des Schleifers an. Zu Recht?
Meißner: Das kommt ja nicht von ungefähr. Wir haben uns jedenfalls immer gefreut, ins Sommertrainingslager nach Sylt zu fliegen. (lacht) Das bedeutete immer dreimal Training am Tag. Morgens ging es eine Stunde zum Laufen in den Wald. Mittags stand Strand auf dem Programm. Die Urlauber sind erstaunt stehen geblieben, als sie gesehen haben, was wir alles im Sand veranstaltet haben.
SPOX: Und zwar?
Meißner: Wir haben Autoreifen gezogen, Medizinbälle herumgetragen, sind über Hürden gesprungen, haben Kraftkreise gemacht. Nachmittags gab es noch eine Einheit auf dem Platz oder ein Freundschaftsspiel. Die Woche war schon immer brutal. Da war Quälix angesagt.
SPOX: Wie sind Sie persönlich mit ihm klar gekommen?
Meißner: Ich habe unter ihm eigentlich immer gespielt, deswegen sehr gut. Ich war ein Spieler, der fit war und immer viel für die Mannschaft gekämpft hat. Das hat er gemocht. Andere hatten da mehr Schwierigkeiten mit ihm.