"Trainer wie Tedesco haben Jahre Vorsprung"

Jochen Tittmar
14. August 201712:05
Christian Heidel mit dem neuen Schalke-Trainer Domenico Tedescogetty
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Christian Heidel geht in seine zweite Bundesliga-Saison als Manager des FC Schalke 04. Eine Spielzeit, in der der 54-Jährige nach dem enttäuschenden Vorjahr und der Entlassung von Markus Weinzierl unter besonderer Beobachtung stehen wird. Im Interview vor dem Auftakt im DFB-Pokal beim BFC Dynamo (18.30 Uhr im LIVETICKER) spricht Heidel über seine Eindrücke des neuen Trainers Domenico Tedesco, den Wandel des Trainerberufs und die Risiken für S04 in der neuen Saison.

SPOX: Herr Heidel, kennen Sie den Fußballtaktikblog spielverlagerung.de?

Christian Heidel: Ja.

SPOX: Sagt Ihnen diese detaillierte Auseinandersetzung mit dem Spiel zu?

Heidel: Ich finde es nicht uninteressant und bin auch schon über Artikel dort gestolpert. Mich würde es wundern, wenn so etwas bei einem populären Sport wie dem Fußball nicht existieren würde. Es gibt viele Menschen, die sich sehr genau und explizit mit der Materie auseinandersetzen.

SPOX: Könnte der neue Schalke-Trainer Domenico Tedesco auch Abhandlungen zur Taktik im Fußball schreiben?

Heidel: In der Vergangenheit schon, aber in der Zukunft nicht mehr. (lacht) Vom Typ her könnte ich mir aber gut vorstellen, dass er interessante Expertisen über Fußballtaktik beisteuern könnte.

SPOX: Der Eindruck täuscht also nicht, dass sich Tedesco auf Schalke gleich voll ins Getümmel geworfen hat?

Heidel: Nein. Sein Tag ist meist von 8 bis 23 Uhr durchgeplant. Und einen großen Teil seiner Zeit widmet er dem Thema Taktik. Sie sollten einmal die Gemälde sehen, die im Trainerbüro an den Wänden hängen. (lacht)

SPOX: Wann sind Sie das erste Mal auf Tedesco aufmerksam geworden?

Heidel: Da liegt zunächst eine persönliche Entwicklung zugrunde: Ich habe in meiner Karriere schon viele Trainer eingestellt und beschäftige mich seit langem intensiv mit den Anforderungen des Trainerberufs. Mit der Zeit habe ich, vor allem durch die Verpflichtung von Jürgen Klopp, einen ganz anderen Blick darauf bekommen. Und mit der Installierung von Thomas Tuchel hat sich das noch einmal verfeinert.

SPOX-Redakteur Jochen Tittmar sprach mit Christian Heidel in Mittersillspox

SPOX: Mit dem Ergebnis, dass große Namen mit toller Spielerkarriere nicht mehr viel zählen?

Heidel: Ich bin dabei zumindest auf den Trichter gekommen, dass es nicht mehr so wichtig ist, ob ein Trainer 300 Bundesligaspiele absolviert hat. Insbesondere die Erfahrungen aus mehreren Jahren Arbeit in einem Nachwuchsleistungszentrum können vielleicht sogar wichtiger sein. Das führte dazu, dass ich mich früh mit Julian Nagelsmann beschäftigt habe. Sein Name wurde innerhalb der Branche immer wieder genannt, weil er als taktisch sehr versiert beschrieben wurde. So bin ich dann auch das erste Mal auf Domenico gestoßen. Ich sah mir dann in Mainz ein Spiel zwischen unserer U19 und der von Hoffenheim an, die er trainiert hat. Es war beeindruckend, wie er die Mannschaft spielen ließ. Seitdem habe ich seinen Werdegang ein wenig verfolgt.

SPOX: Hat es in der Bundesliga mittlerweile Einzug erhalten, dass nicht nur Spieler, sondern auch Trainer gescoutet werden?

Heidel: Natürlich, wieso sollte man das auch nur bei Fußballern tun? Ich hatte in Mainz das Ziel, Trainer auszubilden und zu entwickeln. Wir sind dort so etwas wie ein Vorreiter dafür geworden, dass man mittlerweile mit anderen Augen auf die Trainer aus den Leistungszentren schaut. Diese hohe Fluktuation war vor zehn Jahren ja noch völlig undenkbar. Es wurde erkannt, dass diese Trainer im Vergleich zu den Ex-Spielern, die nach der Karriere als Trainer beginnen, den Vorteil mitbringen, bereits über viele Jahre Erfahrung im Umgang mit Mannschaften und Spielern zu verfügen.

SPOX: Sie hatten kürzlich einen Zwist mit Peter Neururer, der behauptete, Tedesco habe noch keinen "ausführlichen Arbeitsnachweis".

Heidel: Das ist der größte Irrglaube. Damit wird verkannt, dass Domenico schon zehn Jahre Trainererfahrung mitbringt. Das heißt, Peter erkennt es nicht als Erfahrung an, wenn jemand die U17 oder U19 eines Bundesligisten trainiert hat. Das hat Domenico richtigerweise nicht vor 60.000 Zuschauern getan, aber er hat den Beruf von der Pike auf gelernt. Ich bin der Überzeugung, dass man dies nicht durch einen Trainerlehrgang ausgleichen kann. Hinzu kommt seine berufliche Vita: Er hat einen Master in Innovationsmanagement und bereits zwei Jahre Berufserfahrung gesammelt. Das sind Dinge, die kein Nachteil sind, weil sie einen Blick über den Tellerrand hinaus ermöglichen.

SPOX: Haben Sie denselben Eindruck wie Ralf Rangnick, wonach sich allmählich die Erkenntnis durchsetze, dass der Trainerberuf mit dem des Spielers außer der Sportart nichts zu tun habe?

Heidel: Das wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen, aber es geht klar in diese Richtung. Wenn man sich heute die Trainer der 18 Bundesligaklubs anschaut, haben schon viele keine Vorerfahrung als Profi. Aber es gibt natürlich auch top Trainer, die erfolgreiche Fußballer waren.

SPOX: Mehmet Scholl hat das Wort Laptoptrainer kreiert. Hat er diesen allumfassenden Ansatz, den man dieser Spezies gerne zuschreibt, nicht oder legt er seine Prioritäten schlicht auf andere Dinge?

Heidel: Mehmet sieht andere Prioritäten für den Trainerberuf als ich. Ich schätze ihn sehr und kann Ihnen sagen, dass wir schon häufig miteinander über diese Thematik diskutiert haben. Wir unterhielten uns schon im Detail über den Trainerberuf und seine Anforderungen und haben dabei schon teilweise unterschiedliche Auffassungen. Sein Ansatz ist eher der des Miteinanders, der Gruppe, der Motivation und sozialen Kompetenz.

SPOX: Und Ihrer?

Heidel: Für mich genießt zunächst das taktische Know-how die oberste Priorität, danach folgen soziale Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit. Fehlende Erfahrung kann durch Intelligenz und eine gute Auffassungsgabe schnell ausgeglichen werden. Ich habe mich jetzt nach der Verpflichtung von Domenico mit Mehmet über unsere Entscheidung unterhalten. Es ist trotz teils unterschiedlicher Auffassungen immer total spannend und interessant mit ihm. Ich bin sicher, dass er ein sehr guter Trainer ist.

SPOX: Sie sagen selbst, dass gute Trainer bisweilen anstrengend und kompliziert sein können. Welche Begründung haben Sie dafür?

Heidel: Viele dieser Trainer bringen ein anderes Wissen mit und kümmern sich auch um Dinge, die für andere völlig zweitrangig sind. Sie können im Sinne der Sache deshalb sehr fordernd sein, weil sie Perfektionismus an allen Stellen erwarten. Ich spüre jetzt schon, dass Domenico dazu gehört.

SPOX: Inwiefern?

Heidel: Schlaf, Ernährung, psychologische Betreuung, die Länge der Busfahrten - alles wird abgedeckt und will genau geplant sein. Nicht nur das Spiel auf dem Feld spielt eine Rolle, sondern auch der Mensch, der es ausführen soll. Für den Staff kann das auch mal anstrengend sein. Ich sehe das absolut positiv, denn ich will ja das Gefühl haben, dass alle Bereiche ständig optimiert werden.

SPOX: Fehlt manchen Trainern auch schlicht die Offenheit für gewisse Themen, die auf den ersten Blick nicht wirklich mit Fußball assoziiert werden, für das Gesamtpaket mittlerweile aber großen Wert haben?

Heidel: Ich würde das auf gar keinen Fall verallgemeinern wollen. Es gibt wirklich sehr viele und sehr gute Trainer, die nicht die Nachwuchsleistungszentren durchlaufen haben. Kloppo zum Beispiel war auch in keinem NLZ. Trainer wie Domenico haben letztlich jedoch viele Jahre Vorsprung auf diesen Gebieten, da sie durch ihre Ausbildung in diesen Zentren wesentlich länger herangeführt worden sind. Viele haben diese Themen, die Sie ansprechen, schon jahrelang gelehrt. Trainer mit vorheriger Spielerkarriere haben währenddessen sicherlich sehr viel gelernt, aber sie haben das lehren noch nicht gelernt. Nicht jeder gute Schüler ist ein guter Lehrer, aber natürlich kann er es sein.

SPOX: Tedesco hat eine neue Herangehensweise und andere Ideen im Umgang mit der Mannschaft als Vorgänger Markus Weinzierl. Sind seine Eigenschaften also die besseren?

Heidel: Nein, das kann man so überhaupt nicht sagen. Markus Weinzierl war ja mit seiner Herangehensweise in Augsburg überaus erfolgreich und er wird es auch wieder sein. Aber so wie es Domenico angeht, passt es in meinen Augen besser zu unserer Situation und unserem Kader.

SPOX: Sie sagten, Tedesco habe die Schalke-Spiele der letzten Saison beinahe seziert. Wie lief das genau ab?

Heidel: Ich hatte ihn gebeten, sich alleine zwei, drei unserer Spiele anzuschauen und mir seine Eindrücke mitzuteilen. Er hatte sich zunächst sogar gewunden, denn er wollte nicht den Eindruck vermitteln, dass er auf Anhieb etwas deutlich besser machen könne als sein Vorgänger. Auch das hat mir imponiert.

SPOX: Zu welchem Ergebnis kam Tedesco?

Heidel: Er hat mir beispielsweise Trainingsübungen genannt, die dabei helfen, Automatismen einzustudieren, damit die ihm aufgefallenen Fehler nicht mehr passieren. Diese Automatismen müssen im Kopf der Spieler entstehen. Das Training sollte für sie sehr schwierig und herausfordernd sein, damit sie das Spiel am Wochenende zumindest gefühlt als leichter empfinden. Wenn man bei uns auf den Trainingsplatz guckt, denkt man erst: Da landet doch gleich ein Flugzeug. (lacht) Überall Hütchen, Stangen, Linien und Tore. Man erkennt dennoch sofort, was er trainieren lässt und zu welchem Ergebnis das führen soll. Auch die Spieler vermitteln mir das Gefühl, genau zu wissen, was sie gerade tun - auch wenn man nicht davon ausgehen sollte, dass auf Anhieb alles perfekt laufen wird.

SPOX: Wie wird die künftige Spielweise von S04 aussehen: Könnte es auch sein, dass sie sich stark von der Herangehensweise im Vorjahr unterscheidet?

Heidel: Wir werden uns mehr am Gegner orientieren, zumindest wird das eine größere Rolle spielen. Domenico ist der Ansicht, dass nicht jede Spielweise zum jeweiligen Gegner passt. Ansonsten werden die Grundprinzipien nicht großartig verschieden sein. Wir wollen stark pressen und offensiv mit Mut verteidigen. Im Vorjahr haben wir das nur leider nicht so wie gewünscht auf den Platz bekommen. Wir hoffen, dass dies künftig kontinuierlich erkennbar sein wird.

SPOX: Um noch einmal auf Neururer zurück zu kommen: Wie können Sie sich sicher sein, dass Tedesco auch bei einem emotionalen Verein wie Schalke funktioniert, bei dem der Trainerberuf nicht nur fußballerische Theorie und Praxis, sondern auch umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit beinhaltet?

Heidel: Die Frage ist: Was kann man lernen und was muss man schon können? Das Wichtigste ist für mich die Arbeit mit der Mannschaft. Das Drumherum, das Medienaufkommen oder Spiele vor 60.000 Zuschauern, das kann sich ein intelligenter Trainer sehr schnell erarbeiten. Ich traue es Domenico mehr als zu, dass er das hinkriegt. Wenngleich es auch Teil meines Jobs ist, ihm Hilfestellungen anzubieten und den Rücken frei zu halten. Mir wird dieses Thema aber insgesamt zu hoch gehängt.

SPOX: Tedesco auf Schalke ist aber nicht nur Chance, sondern auch Risiko - stimmen Sie zu?

Heidel: Natürlich. Jede Verpflichtung eines Spielers oder Trainers birgt auch Risiken. Das ist doch das Interessante am Fußball. Ich habe ein gutes Gefühl, dass es kein zu großes Risiko ist.

SPOX: Manche sagen: Sollte Tedesco nicht einschlagen, seien Sie auf Schalke bereits gescheitert.

Heidel: Da denke ich keine Sekunde an mich. Ich hätte es mir doch ganz einfach machen können: Es war ja nicht so, dass alle den Kopf des Trainers gefordert haben. Würde es mir nur um mich gehen, hätte ich nichts verändern dürfen. Wer meinen Werdegang verfolgt hat weiß, dass ich Risiken noch nie aus dem Weg gegangen bin. Als ich mit Jürgen Klopp einen Spieler über Nacht zum Trainer gemacht habe, hat mich ganz Deutschland für verrückt erklärt. Gleiches Spiel, als ich mit Jörn Andersen den Aufstiegstrainer durch den A-Jugend-Coach ersetzt habe. (lacht) Wäre ich mit meinen Überzeugungen schon 17 Mal falsch gelegen, könnte ich meinen Job nicht - aber das Risiko an sich scheue ich nicht, wenn ich überzeugt bin. Fakt ist, dass ich selbstverständlich die Verantwortung zu tragen habe.

SPOX: Ist die emotionale Wucht von Schalke größer, als man es von außen annimmt?

Heidel: Die emotionale Wucht des Umfelds und der Fans ist unproblematisch. Ich habe so viele tolle Menschen auch aus der Fanszene kennengelernt, die zwar geradeheraus kritisieren und direkt sind, aber nie unfair. Das mag ich sehr. Eine komplett andere Welt ist vor allem die mediale Wucht. Man lechzt hier nach Kleinigkeiten, die sofort bundesweit ein Thema sind. Es interessieren sich zum Glück so viele Menschen für Schalke. Und die müssen stündlich mit Neuigkeiten, die ja dann auch gelesen, gesehen und gehört werden, versorgt werden.

SPOX: Mussten Sie den Umgang mit dieser "neuen Welt" erst lernen?

Heidel: Na klar, weil die Dimensionen einfach andere sind. Aber ich habe sehr schnell verstanden, dass man nicht immer sofort auf alles reagieren darf. Sonst wird eine kleine Meldung, die keine ist, schnell zu einer großen Meldung, die immer noch keine ist - über die aber jeder redet.