Wie schwer war für Sie der Abgang von Leistungsträgern wie Marco Reus und die Tatsache zu verkraften, dass es als Gladbacher Coach schwierig ist, langfristig ein starkes Team aufzubauen?
Favre: Es ist immer die gleiche Geschichte: Man spielt eine fantastische Saison und verliert anschließend wichtige Spieler. Wir haben Dante, Reus und Neustädter abgegeben. Es war schwer, sie zu ersetzen, so dass wir in der Folgesaison Achter wurden. Wie gesagt: Es gibt keine Wunder. Wenn man wichtige Spieler verliert und sie nicht ersetzen kann, wird es schwer, dieselben Resultate einzufahren. Dante und Reus waren Stützen der Mannschaft. Dante war der Leader in der Kabine und auf dem Platz, weniger beim Training. (lacht) Reus war der Anführer der Offensive. Wenn man solche Spieler verliert, wird es danach automatisch schwerer, weil es nicht leicht ist, den gleichen Spielertyp zu finden. Man kann dann natürlich einen guten Spieler verpflichten, aber muss ihm Eingewöhnungszeit zugestehen, er muss die anderen kennenlernen. Das ist dann etwas komplett Unterschiedliches. Als wir uns 2013 mit Raffael aus Schalke, Max Kruse und Granit Xhaka verstärkt haben, hatten wir wieder eine gute Mannschaft und sind am Ende als Dritter direkt in die Champions League eingezogen.
Ärgert es Sie, dass diese Entwicklungen innerhalb einer Mannschaft nur wenige verstehen und die Öffentlichkeit vielmehr enttäuscht ist, wenn man Vierter und in der Folgesaison nur Achter wird?
Favre: So ist das eben heutzutage. Man muss auch sagen, dass das Ausmaß der Verluste auf Spielerseite meist sehr schlecht erklärt wird. Das ist wie in einer Firma: Wenn du kein gutes Produkt hast, wirst du es schwer haben. Man braucht gute Spieler und einen guten Trainer, aber muss vor allem dann sehr aufpassen, wenn man sehr gute Spieler verliert. Das ist logisch. Ich bin damals in Gladbach geblieben, weil wir wieder nach und nach eine Mannschaft aufgebaut haben. Wir sind erst Achter, dann Sechster und schließlich Dritter geworden. Ich war dort fünf Jahre, was für heutige Verhältnisse wirklich viel und selten ist.
Was meinen Sie damit, dass das schlecht erklärt wird?
Favre: Wenn die Leute nicht verstehen können, warum man in einer Saison Vierter wird, gute Spieler verliert und in der nächsten Saison Achter wird, dann muss ja etwas schlecht erklärt sein. Wenn ich das dann zweimal erkläre, erkläre ich es kein drittes Mal. Ich darf als Trainer keine Zeit mit ständigen Erklärungen verlieren. Man kann sich als Trainer auch nicht hinstellen und klar aussprechen, dass man deutlich schwächer geworden ist, weil man wichtige Spieler verloren hat und die Ergebnisse künftig weniger gut sein werden.
Welche Rolle für den Erfolg spielte die Tatsache, dass das Umfeld in Gladbach ein deutlich ruhigeres war als jenes in Berlin?
Favre: Das hatte auf mich keinen Einfluss. In Berlin ist das Umfeld sehr speziell, die Presse ist dort ziemlich bissig. In Gladbach waren die Leute aber auch schnell unzufrieden, wenn die Ergebnisse ausblieben. Ich erinnere mich gut, dass wir zwei, drei Monate nach meiner Ankunft ein schwieriges Heimspiel verloren haben und die Unzufriedenheit auf Seiten der Fans und Medien sofort da war. Das ist grundsätzlich so etwas wie ein Automatismus.
Sie waren zu dieser Zeit ein sehr begehrter Trainer. Es kamen auch Gerüchte auf, wonach Sie ein Kandidat beim FC Bayern gewesen seien. Gab es damals ein Angebot von Ihrem ehemaligen Mitspieler Rummenigge?
Favre: Es gab Gespräche.
Nach Ihrem Ende in Gladbach hieß es, Sie hätten zwischendurch immer mal wieder mit einem Rücktritt geliebäugelt. Stimmt das?
Favre: Nein, das ist einfach Unsinn. Niemand kennt die Geschichte dahinter genau. Das erfährt man erst, wenn ich mein Buch geschrieben habe. (lacht) Das sind einfach reine Geschichten. Es gibt Geschichten, die nicht wahr sind.
Hat es Sie damals überrascht, dass Ihr Rücktrittsangebot im September 2015 nach sechs aufeinanderfolgenden Pflichtspielniederlagen zum Saisonstart von den Gladbacher Verantwortlichen abgelehnt wurde?
Favre: Nein. Wir hatten fünf Jahre lang eine wunderbare Zeit und ich habe bis heute noch Kontakte nach Gladbach. Das zählt für mich. Ein solches Ende kann in einer Karriere vorkommen.
Warum sind Sie anschließend ins Ausland zu OGC Nizza gegangen und nicht in der Bundesliga geblieben?
Favre: Ich war acht Jahre lang in der Bundesliga. Ich fand, dass es Zeit für eine Änderung war.
Wie war dort denn die Arbeit mit einem extravaganten Spieler wie Mario Balotelli?
Favre: Er war speziell. Man muss mit ihm diplomatisch sein, aber kann mit ihm sprechen und die Dinge erklären. Es gab manchmal kleinere Probleme wegen seines Verhaltens. Er war auch nicht derjenige, der am meisten gelaufen ist, aber er ist ein sehr guter Spieler. Wir haben uns zwei Jahre gut verstanden. In der ersten Saison war er sehr gut.
Kann es eigentlich vorkommen, dass gestandene Spieler fußballerische oder taktische Hinweise als Belehrung und gewissermaßen als Beleidigung ihrer eigenen Qualitäten fehldeuten?
Favre: Ich glaube, dass ein Spieler, der vorankommen möchte, immer gerne zuhört. Es kommt auch darauf an, wie man es ihm sagt. Es sind letztlich immer nur Vorschläge, zum Beispiel für technische Übungen, für Koordinations-, Bein- oder Ballarbeit. Ich versuche immer, einen Spieler davon zu überzeugen, wo er sich technisch, taktisch oder körperlich verbessern muss. Es kommt selten vor, dass einen die Spieler fragen, weshalb man diese oder jene Übungen machen soll.
Nach der ersten Spielzeit an der Cote d'Azur wollte Sie im Sommer 2017 bereits der BVB haben. Waren Sie enttäuscht, dass Nizza das Angebot ablehnte?
Favre: Nein. Nizza konnte zu dem Zeitpunkt einfach schwer einen potentiellen Nachfolger finden. Sie haben sich dann auf meinen Vertrag berufen und mich nicht gehen lassen. Ich wollte daraus auch keine große Sache machen. Es war für mich kein Problem, zu bleiben.
War Ihnen denn damals schon klar, dass es der BVB ein Jahr später erneut versuchen wird?
Favre: Nein, das konnte ich nicht ahnen. Das weiß man nie, im Fußball kann es schnell gehen. Als der BVB noch einmal nachgehakt hat, ging es dann schnell.
Wie groß war bei Ihrem Wechsel nach Dortmund die Lust, nach über 25 Jahren im Trainergeschäft den größten Verein mit dem besten Kader Ihrer Karriere zu übernehmen?
Favre: Es ist schwierig, ein Angebot von einem Klub wie Dortmund auszuschlagen. Darauf hatte ich natürlich Lust. Wir haben gleich eine wunderbare Saison gespielt. Man sollte darüber auch keine negativen Worte verlieren. Wir haben 76 Punkte geholt und bis zum letzten Spiel um die Meisterschaft gespielt.
Inwiefern war es ein Problem, dass der BVB unter Ihnen vom Fleck weg Spiele gewann und dadurch immer mehr in Vergessenheit geriet, wie eng viele Partien tatsächlich waren?
Favre: Am Anfang war es sehr schwer. Wir haben zwar gleich mit 4:1 gegen Leipzig gewonnen, aber jeder hat vergessen, dass Leipzig nach der Führung eine Großchance auf das 2:0 hatte. Das muss normalerweise ein Tor sein. Wenn da das 2:0 fällt, weiß ich nicht, ob wir dann noch einmal zurückgekommen wären. So ging es los. Danach haben wir 0:0 in Hannover gespielt und es kam gleich Kritik auf. Nach und nach haben wir dann unsere Spiele gewonnen, aber sie waren immer sehr, sehr eng. Wir haben nur ein einziges Spiel gewonnen, das nicht eng war: das 7:0 gegen Nürnberg. Alle anderen Partien waren an der Grenze. Erinnern Sie sich an das 4:3 gegen Augsburg oder das 2:2 gegen Hertha. Wir haben viele Tore geschossen, das stimmt, aber es war immer eng. In Leverkusen lagen wir 0:2 zurück, haben aber noch 4:2 gewonnen. Wir hatten ehrlich gesagt eine maximale Erfolgsquote, auch wenn wir gut gespielt und uns immer viele Torchancen erarbeitet haben. Insgesamt ist es eine tolle Saison geworden.