Seit 2019 ist Lutz Pfannenstiel als Vorstand Sport beim Bundesligisten Fortuna Düsseldorf tätig. Zuvor bewies der 46-Jährige als Leiter internationale Beziehungen und Scouting bei der TSG Hoffenheim ein gutes Auge für Talente. In der Branche wird er bereits mit erfolgreichen Funktionären wie Fredi Bobic verglichen. Im Interview mit SPOX und Goal verrät er seine Transfer-Philosophie und erzählt von der Entdeckung des heutigen Liverpool-Stars Roberto Firmino.
Der ehemalige Torhüter erklärt auch, warum er sich von Spielern teilweise sogar die Geburtsurkunde besorgt und was Niklas Süle mit Rugby-Legende Jonah Lomu gemeinsam hat. Außerdem erzählt er vom kuriosen Transfer des 18 Jahre alten Kelvin Ofori, der ohne Schuhe in Düsseldorf ankam.
Herr Pfannenstiel, Sie waren zwischen 2011 und 2018 für Bereich internationale Beziehungen und Scouting bei der TSG Hoffenheim verantwortlich. Zuvor hatten Sie als Vereins- und Nationaltrainer in Namibia gearbeitet. Wie wurde 1899 auf Sie aufmerksam?
Lutz Pfannenstiel: Ich stand durch meine Afrika-Erfahrung bei der WM 2010 in Südafrika mehr im Fokus. Außerdem bekam ich während dieser WM beim ZDF die Chance, als TV-Experte zu arbeiten. Alexander Rosen, der damals NLZ-Leiter war, stellte den Kontakt zu Ernst Tanner her, dem damaligen Hoffenheimer Sportchef. Irgendwann vor der Winterpause tauschten wir uns zu dritt aus. Für mich war es eine Grundsatzentscheidung, zu Hoffenheim zu gehen.
gettyInwiefern?
Pfannenstiel: Mir lagen damals mehrere Angebote als Trainer in Afrika vor. Ich musste entscheiden, ob ich in Deutschland in einem komplett anderen Bereich arbeiten oder im afrikanischen Trainer-Karussell landen will.
Was heißt "afrikanisches Trainer-Karussell"?
Pfannenstiel: Es gibt eine Gruppe von Trainern, die über die Jahre von Land zu Land wechseln. Das ist wie eine Spirale, aus der man schwer wieder herauskommt.
Lutz Pfannenstiel: "Ich hatte Firmino schon vorher gesehen"
Wie gestaltete sich 2010 der Schritt zurück nach Deutschland?
Pfannenstiel: Ich war 20 Jahre lang im Ausland. Ich musste mich erst wieder an Deutschland gewöhnen, an den Umgang, die Kultur, das Umfeld. Das war schon eine Herausforderung. Beruflich war es der ideale Übergang. Ich war zuerst für das internationale Scouting zuständig, vor allem in Südamerika und Afrika, wo ich bereits gute Kontakte hatte.
Einer der ersten Transfers in Ihrer Ära in Hoffenheim war der von Roberto Firmino im Winter 2010/11. Wie ist die TSG auf ihn aufmerksam geworden?
Pfannenstiel: Er wurde uns von der Berater-Agentur ROGON empfohlen. ROGON verfügt über eines der besten Netzwerke in Brasilien. Mit Carlos Eduardo und Luiz Gustavo hatte sie bereits zwei absolute Top-Spieler nach Hoffenheim gebracht. Ich hatte Firmino schon vorher spielen sehen, nur kannte ich seinen Namen nicht.
Erklären Sie.
Pfannenstiel: Roberto spielte genau wie ich in Santa Catarina. Dort sah ich ihn schon als Teenager live. Die Jugendspiele waren meist einen Tag vor unseren. In der Campeonato Catarinense (Staatsmeisterschaft von Santa Catarina, d. Red.) stach er heraus. Nur war ich damals noch kein Scout, sondern Torwart.
Drei Jahre später erfuhren Sie also auch seinen Namen. Wie reagierten Tanner und Co. auf Firmino?
Pfannenstiel: Roberto spielte in keiner Jugendnationalmannschaft. Er war ein unbeschriebenes Blatt, weil er in Brasilien nur beim Zweitligisten Figueirense spielte. Nach der Scouting-Analyse war klar, dass er etwas Besonderes ist. Es war für den Verein ein wichtiger Schritt.
gettyLutz Pfannenstiel: "Für mich ist Firmino der MVP von Liverpool"
Was macht den Charakter von Firmino so besonders?
Pfannenstiel: Roberto kommt ursprünglich aus dem Nordosten Brasiliens. Maceio ist eine harte Stadt, ein sozialer Brennpunkt. Er hatte Glück, nach Santa Catarina zu kommen. Dort ist alles sehr europäisch, sehr italienisch und deutsch angehaucht. Deshalb war Figurense der perfekte Zwischenschritt für ihn. Trotzdem hatte er die ganz normalen Anlaufschwierigkeiten wie die meisten Südamerikaner. Er kam im Alter von 19 Jahren als schmächtiger Junge nach Hoffenheim, konnte kein Deutsch. Aber in dieser Zeit kam sein spezieller Charakter zum Vorschein. Er arbeitete viel mehr als die meisten, schob immer Extraschichten auf dem Platz oder im Kraftraum und entwickelte sich körperlich brutal schnell weiter. Er hatte den unbedingten Willen.
Firmino spielte dreieinhalb Jahre bei Hoffenheim, schoss 49 Tore und bereitete 36 Treffer vor. Wie nahmen Sie seine Entwicklung wahr?
Pfannenstiel: Er vereinte nach und nach das Beste aus beiden Fußballphilosophien: viel Arbeit gegen den Ball, Disziplin und brasilianische Spielfreude. Er wurde besser und besser. Dass irgendwann der Wechsel zu einem Top-Verein folgen würde, war völlig nachvollziehbar. Dass es dann Liverpool wurde und er später mit Jürgen Klopp einen Trainer bekam, der einen klaren Plan mit ihm verfolgt, ist wie ein Sechser im Lotto. Alle reden immer über die Tore von Sadio Mane und Mohamed Salah, aber für mich ist Firmino der MVP der Mannschaft. Wie er Lücken reißt und mit nach hinten arbeitet - das ist der perfekte Fit.
Hoffenheim avancierte in den Folgejahren zu einem Sprungbrett für junge Spieler. Das spült Geld in die Kasse. Allein in der vergangenen Saison erzielte die TSG ein Transferplus von rund 70 Millionen Euro. Was bedeuten Ihnen solche Zahlen?
Pfannenstiel: Hoffenheim hat über die Jahre gezeigt, was man durch solide Arbeit und gutes Scouting erreichen kann. Alexander Rosens akribische Arbeit muss dabei besonders gewürdigt werden. Dazu kam natürlich mit Julian Nagelsmann ein spezieller Trainer dazu, der jeden einzelnen Spieler besser macht.
Immer wieder explodierten Spieler bei der TSG. Gab es auch Spieler, von deren steiler Entwicklung Sie selbst überrascht waren?
Pfannenstiel: Am meisten beeindrucken mich Spieler die nach einer schweren Startphase nie aufgeben und hart dafür arbeiten, sich in der Bundesliga durchzusetzen. Bei manchen Spielern setzt die erhoffte Explosion verspätet ein. Joelinton zum Beispiel war anfangs weit weg davon einzuschlagen. Er brauchte Anpassungszeit, war zwei Jahre an Rapid Wien verliehen, das tat ihm sehr gut. Bei Rapid entwickelte er sich kontinuierlich weiter. In der Vorbereitung zur dritten Saison trainierte er dann so herausragend, dass Julian Nagelsmann ihn unbedingt behalten wollte. Der Rest ist Geschichte.
gettyJoelinton war in der vergangenen Saison mit elf Ligatoren ein absoluter Leistungsträger. Nur Ishak Belfodil (17) und Andrej Kramaric (22) trafen noch häufiger - zwei Spieler, bei deren Entwicklung man sich ebenfalls die Augen reibt.
Pfannenstiel: Mich überrascht das nicht im Geringsten. Andrej machte bei Leicester nichts falsch. Aber Jamie Vardy und Riyad Mahrez hatten einen solchen Lauf, die hätten auch mit einem Tischtennisball einen Hattrick erzielt. In Hoffenheim konnte er dann sein wahres Gesicht zeigen. Ishak war unterschätzt. Für viele war es eine Überraschung. Da hieß es: Warum holt Hoffenheim Belfodil? Aber Ishak stach meiner Meinung nach schon in Bremen heraus. Er war überhaupt keine Risiko-Verpflichtung.
Kelvin Ofori kam ohne Fußballschuhe nach Düsseldorf
Gibt es einen Transfer, auf den Sie besonders stolz sind?
Pfannenstiel: Ein Transfer ist immer Teamwork, bei dem verschiedene Abteilungen wie sportliche Leitung, Analyse, oder Scouting ineinanderfließen. Eines der Highlights war aber dann schon hier bei Fortuna Düsseldorf. Und zwar Kelvin Ofori. Er kam am Anfang der Saison mit 17 Jahren zu uns, den meisten völlig unbekannt und ohne Schuhe. Das war wie aus der Trickkiste.
Er kam barfuß?
Pfannenstiel: Nein. (lacht) Ich sollte ein wenig ausholen. Ofori wurde in der Right to Dream Academy in Ghana ausgebildet. Das ist eine private Fußball-Akademie mit großem Einfluss von Manchester City. Ich kannte Ofori noch aus meiner Zeit in Afrika, er galt schon damals als Ausnahmetalent. Dass er das Potential hat, irgendwann in Europa und möglicherweise bei City zu spielen würde, war mir früh klar. Weil sein Vater sich weigerte, einen neuen Vertrag zu unterschreiben, wurden andere Spieler gefördert und Ofori blieb vielen weitestgehend unbekannt.
gettyAngeblich waren auch Manchester United und Real Madrid an ihm dran.
Pfannenstiel: Das stimmt. Wir haben nach einigen Gesprächen entschieden, ihn als Gastspieler einzuladen. Wenige Wochen später kam er dann zu uns ins Trainingslager, hinter sich eine Odyssee mit einem 16-Stunden-Flug über Nordafrika und England. Er war total übermüdet und hatte nicht einmal Fußballschuhe dabei. Trotzdem wollte er unbedingt sofort mitmachen. Also trainierte er mit Schuhen, die ihm eine Nummer zu groß waren und machte trotzdem einen super Eindruck. Jetzt hat er einen Dreijahresvertrag.
Kelvin Ofori im Steckbrief
geboren | 27. Juli 2001 in Ghana |
Position | Offensives Mittelfeld |
starker Fuß | links |
Stationen | Right to Dream Academy, Fortuna Düsseldorf |
Vertrag bis | 30. Juni 2022 |
Man möchte meinen, ein Verein wie Fortuna Düsseldorf hat bei solchen Talenten keine Chance gegenüber Klubs wie United oder Real. Wie schafft man es trotzdem, sich durchzusetzen?
Pfannenstiel: Wir haben nicht die finanziellen Mittel für ein Wettbieten. Also ziehen wir entweder so früh in den Verhandlungsprozess ein, dass wir die ersten sind. Oder wir warten sehr lange, bis viele anderen Vereine schon ausgeschieden sind. Dann kommt es natürlich auch auf die Spieler an. Bei manchen stehen die Finanzen an erster Stelle, bei anderen die sportliche Perspektive.
Wie lange beobachtet man einen Spieler in der Regel intensiv, bevor man als Verein aktiv wird? Und was heißt überhaupt intensiv?
Pfannenstiel: Im Optimalfall ist ein Spieler ausgescoutet, bevor man als Verein den Kontakt aufnimmt.
Was bedeutet das?
Pfannenstiel: Nana Ampomah, der bei Waasland-Beveren, einem kleinen Verein in Belgiens erster Liga, spielte, war zum Beispiel ausgescoutet. Das heißt, er wurde von mindestens vier Scouts sehr intensiv beobachtet. Acht Augen sehen mehr als zwei. Dann schaute ihn sich der Cheftrainer an und es kam zum ersten Treffen. Als es auch dort passte, wurden die Vertragsverhandlungen aufgenommen. So ist die Wahrscheinlichkeit noch höher, dass der Spieler auch funktionieren kann.
Lutz Pfannenstiel über Scouting: "Charakter schlägt oft Talent"
Auf welche Faktoren kommt es für Sie beim Scouting an?
Pfannenstiel: Ich habe eine Philosophie, was Scouting angeht. Ich bewerte Qualität nicht nur aus sportlicher Sicht. Talentierte Fußballer gibt es Tausende, aber die wenigsten passen in das Persönlichkeitsprofil. Dafür muss ich verstehen, wer mir da eigentlich gegenübersitzt. Ein Großteil der Scouting-Analyse handelt vom Freundeskreis, von der Familie, der schulischen Ausbildung, den Freizeitaktivitäten, den sozialen Kompetenzen. Ich muss wissen, ob ein Spieler ständig nur mit Kopfhörern im Ohr rumläuft oder aufgeschlossen ist. Ich muss wissen, wenn ein Spieler nachts in der Disko die Sau rauslässt.
Wie erreicht man das?
Pfannenstiel: Das funktioniert nur über Kontakte. Wenn Du dich als Deutscher in Afrika nach einem Spieler bei dessen Cousine erkundigst, bekommst Du immer einen fehlerfreien Engel präsentiert. Deswegen ist es wichtig, dass Du auch im wildesten Eck der Welt einen sitzen hast, von dem Du vertrauliche Informationen bekommst, die man normalerweise nicht bekommt. Ich habe mir von Spielern sogar Geburtsurkunden und Zeugnisse besorgt. Ich sage: Charakter schlägt oft Talent. Mentalität und harte Arbeit sind oft entscheidender als das pure Talent. Die Mischung ist wichtig.
Hat Sie ein Spieler aus menschlicher Sicht schon einmal besonders beeindruckt?
Pfannenstiel: Ja, Dawid Kownacki. Er hatte bessere Angebote als das unsere. Aber er hatte mir die Hand darauf gegeben, dass er nur zu uns kommt. Er hielt sämtlichen finanziellen Versuchungen stand, weil er sein Wort nicht brechen wollte. Das war charakterlich für einen 21-Jährigen außergewöhnlich. Trotzdem war es ein sehr komplizierter Transfer.
Warum?
Pfannenstiel: Über Details spricht man nicht. Nur so viel: Wir waren uns am 2. Januar mit Dawid einig. Aber erst 69 Minuten vor der Transferfrist kamen die Unterlagen aus Genua. Das war der 31. Januar. Dazwischen wurde der Deal gefühlte 15-mal komplett abgeblasen, ich war oft in Genua, um mit den Verantwortlichen von Sampdoria zu verhandeln. Die Energie und Zeit, die dieser Transfer gefressen hat - das war der Wahnsinn.
Lutz Pfannenstiel vergleicht Niklas Süle mit Rugby-Spieler
Ist der Transfermarkt in den vergangenen Jahrzehnten stetig komplizierter geworden?
Pfannenstiel: Auf jeden Fall. Die Beratergilde wird immer größer. Auch deren Einfluss hat deutlich zugenommen. Es ist zwar falsch zu sagen, dass die Berater immer die Bösen sind, weil viele seriös und sauber arbeiten. Es gibt aber auch schwierige Berater, die dich bewusst täuschen wollen. Heute tanzen ja schon Elfjährige mit einem oder gleich mehreren Beratern herum. Aber das gehört heute eben dazu.
Sie haben 2016 in einem Interview unter anderem Niklas Süle eine große Karriere prophezeit. Warum waren Sie sich bei ihm so sicher?
Pfannenstiel: Niki war körperlich schon immer wahnsinnig weit. Trotz seiner Größe und Wucht war er extrem schnell. Niki hat mich an die Rugby-Legende Jonah Lomu erinnert. (lacht) Gleichzeitig strahlte er diese Ruhe am Ball aus. Er musste Nationalspieler werden.
Gibt es heute Nachwuchsspieler, denen Sie eine ähnliche Entwicklung zutrauen?
Pfannenstiel: Ich kann natürlich "meine" Spieler am besten beurteilen. Wir haben in Düsseldorf zwei, drei Ausnahmetalente. Ich bin total davon überzeugt, dass in unserer jetzigen U19 mindestens drei zukünftige Bundesligaspieler schlummern. Von den bereits gebundenen wie Nikell Touglo, Shinta Appelkamp oder Dennis Gorka verspreche ich mir sehr viel.
Touglo, Appelkamp und Gorka im Steckbrief
Info | Nikell Touglo | Shinta Appelkamp | Dennis Gorka |
geboren | 20.11.2001 in Deutschland | 01.11.2000 in Japan | 03.04.2002 in Deutschland |
Größe | 1,86 m | 1,75 m | 1,90 m |
Position | Innenverteidiger | Rechtsaußen | Torhüter |
starker Fuß | beidfüßig | rechts | beidfüßig |
Stationen | Unterrath Jugend, Düsseldorf Jugend | Yowa Jugend, Düsseldorf Jugend | Fortuna Köln Jugend, Düsseldorf Jugend |