Lucien Favre ist ein Meister darin, nichts zu sagen, obwohl er spricht. Das lässt sich über nahezu jede Pressekonferenz von Borussia Dortmund vor Spielen des BVB sagen, die zuweilen trotz und vielleicht gerade aufgrund Favres gewollter Verschwiegenheit und seiner knappen Sätze fast schon komödiantische Züge annehmen.
So war es auch am vergangenen Freitag vor dem Spiel des BVB in Augsburg. Nur einmal wurde Favre da in ungewohnter Art und Weise sehr deutlich. "Julian wird wieder spielen, ohne Diskussion", betonte er angesprochen auf das Reservistendasein eines Spielers, der vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam mit Kai Havertz in der Offensive von Bayer Leverkusen als das neue Traumduo des deutschen Fußballs galt.
Die Rede war von Julian Brandt, der eigentlich in seinem zweiten Jahr nach seinem Wechsel von Leverkusen nach Dortmund den vielzitierten nächsten Schritt in seiner Karriere gehen und sich endlich im Dortmunder Offensivbereich festspielen wollte. Doch daraus wurde bislang nichts. In Jude Bellingham und Giovanni Reyna erhalten aktuell zwei 17-Jährige den Vorzug, weil sie "in besserer Form" sind, wie Favre erklärte.
Ein simpler, wie einleuchtender Grund. Doch er fasst die schwierige Situation von Brandt in Dortmund nur geringfügig zusammen, schließlich existierte sie auch schon in der vergangenen Saison, also bevor zumindest der so überzeugende Bellingham in Dortmund seine Zelte aufschlug. Nur ist sie seitdem noch schwieriger geworden.
Seit 1.143 Minuten wartet der 24-Jährige, der statistisch in Leverkusen in fast jedem fünften Spiel traf, nun schon auf ein Tor in der Bundesliga für den BVB. Sein bis dato letzter Treffer überhaupt datiert vom 18. Januar beim verrückten Debüt von Erling Haaland gegen den FC Augsburg. Dass Favre also "kein Problem" bei Julian Brandt sehe, ist durchaus untertrieben. Denn er steckt noch mehr in einem Dilemma als je zuvor.
Brandt beim BVB: Steigerung durch Systemumstellung
Dabei schien das mit Brandt, Favre und dem BVB im Spätherbst nach deutlichen Anlaufschwierigkeiten doch zu funktionieren. Eine Verletzung von Thomas Delaney und besonders eine Systemumstellung nach einer Fast-Blamage gegen den Auf- und späteren Absteiger Paderborn ermöglichten ihm eine sichtbare Leistungssteigerung.
Brandt durfte im 3-4-1-2-System, nachdem er unter Favre zuvor "gefühlt schon alles gespielt" hatte, endlich im Zentrum als Hybrid aus Achter und Sechser spielen und überzeugte dort so, wie er es schon in Leverkusen unter Peter Bosz getan hatte.
Auch der Niederländer hatte Brandt erst als Flügelspieler eingesetzt, ehe er ihn ins Zentrum zog und Brandt auf der Zehn seine statistisch beste Bundesligasaison hinlegte (sieben Treffer, 14 Vorlagen). Es dauerte zwar etwas, bis auch Favre verstand, dass Brandt weder Flügelspieler noch falsche Neun ist. Aber als es so weit war, war die Entwicklung unübersehbar.
Zwar pendelte Brandts Spiel auch nach der Systemumstellung und der Versetzung auf seine Paradepositionen zwischen Genie und Wahnsinn, zwischen brillanten Toren wie gegen RB Leipzig und schlimmen Ballverlusten, aber das Genie schien den Wahnsinn zu verdrängen.
Brandt verdiente sich sogar einen Favre'schen Neologismus. "Brandtstark!", entfuhr es Favre noch im Mai, als er auf die erstaunliche Leistungssteigerung des 24-Jährigen angesprochen wurde.
BVB - Bellingham verdrängt Brandt: Das größere Gesamtpaket
An Brandt schätzt Favre jedoch eher das, was ihm momentan zum Verhängnis wird: seine Vielseitigkeit. Brandt ist ein passabler Flügelspieler und in der Not auch eine falsche Neun, aber dort wird er seiner Stärken beraubt.
Genau wie im engen taktischen Korsett, das der Schweizer dem BVB gibt und in dem mit Abstrichen nur Jadon Sancho seine Freiheiten erhält. Die Rolle als Arbeitsbiene oder gebundener Außenspieler ist nicht unbedingt die Sache von Brandt, der sich selbst gerne als "Freigeist" bezeichnete.
"Ich liebe es seit meiner Kindheit, ins Risiko zu gehen, den Ball durch enge Korridore zu spielen oder mich im Eins-gegen-eins durchzusetzen", sagte er dem kicker mal über seine bevorzugte Spielweise. Er sei "nie der Typ, der im Mittelfeld den Ball annimmt und ihn wenige Meter quer zum Mitspieler schiebt", sagte Brandt außerdem. Das könne er zwar auch so spielen, "aber das wäre dann nicht ich".
Doch weil sich bei dem Wort "Risiko" dem stets auf Spielkontrolle ausgelegten Favre die Nackenhaare schneller hochstellen, als Erling Haaland im Saisonauftaktspiel gegen Gladbach von Sechzehner zu Sechzehner gesprintet war, und sich ihm in Bellingham eine überraschend schon verlässliche, physisch stärkere Alternative bot, ist Brandt beim BVB aktuell nur zweite Wahl.
Während Brandt eine insgesamt eher unbefriedigende Vorbereitung hinlegte, sammelte der Neuankömmling von der Insel von Beginn an Pluspunkte bei Favre, strahlte Torgefahr aus, ein gutes Auge, Offensivdrang, ohne dabei aber die Defensive zu vernachlässigen. Auf der Achterposition bringt er wohl aktuell das größere Gesamtpaket mit und auch Reyna erhält momentan im Zentrum den Vorzug.
Zeigen kann sich Brandt auch nicht auf der zwar nicht maßgeschneiderten, aber in seiner Situation wie in der Nationalmannschaft gern genommenen Flügelposition, weil es diese im System mit Dreierkette schlichtweg nicht mehr gibt.
Brandt im Supercup: Die erste Bewährungschance naht
Der erste Dämpfer gegen Augsburg (0:2) war trotz der blassen Leistungen von Bellingham und insbesondere von Reyna kein Bewerbungsschreiben für Brandt auf eine baldige Startelf-Rückkehr. Zu unauffällig und wirkungslos blieb auch er nach seiner Einwechslung nach einer knappen halben Stunde.
Dabei hätte er sich mit seinen ihm selbst zugeschriebenen Eigenschaften des risikofreudigen Lückensuchers gerade gegen die tiefstehenden Augsburger als Türöffner und Gegengewicht zum tempoarmen Ballgeschiebe der Dortmunder profilieren können.
Es war die alte Leier des BVB, der sich schon in der vergangenen Saison gegen die vermeintlichen Leichtgewichte physisch und spielerisch schwertat. "Es dauerte einfach zu lange, bis wir das Spiel mal verlagert haben", analysierte Zorc, "das muss extrem schnell gehen."
Damit schloss er auch den sowohl im Zentrum als auch auf dem linken Flügel eingesetzten Reyna ein. Doch Zorc, Hans-Joachim Watzke und Sebastian Kehl betonten in den vergangenen Wochen stets, dass man bei den 17- und 20-Jährigen in ihrer Entwicklung entsprechende Leistungsschwankungen billigen müsse.
Ergo: Ein schwaches Spiel der beiden Youngster muss nicht unbedingt die Degradierung zum Reservisten zur Folge haben, zumal selbst Trainer Favre von beiden zuletzt in höchsten Tönen sprach. Weil Sancho (Atemwegsinfekt) und Thorgan Hazard (Muskelfaserriss) am Mittwoch gegen den FC Bayern fehlen werden, wird er seine Startelf jedoch ohnehin zumindest auf mindestens einer Feldspielerposition umbauen müssen. Brandt und auch der wieder genesene Marco Reus könnten erstmals in dieser Saison in die Anfangsformationen zurückkehren.
Sollte die Wahl nicht auf Brandt, sondern nur auf Reus fallen, der sich selbst als noch nicht hundertprozentig fit bezeichnete, könnte Favre auf der nächsten Pressekonferenz noch so häufig sagen, dass er keine Probleme bei Brandt gebe.
Denn dann würde man sie deutlich sehen. Und dann würde vielleicht auch Brandt selbst, dessen Reservistendasein angeblich schon seinen Ex-Klub Bayer Leverkusen auf den Plan gerufen haben soll, ins Grübeln kommen. Vergangene Saison sagte er noch, dass er "grundsätzlich nie" an sich zweifele. Das könnte sich mittlerweile geändert haben.
Julian Brandt: Leistungsdaten beim BVB und Bayer Leverkusen
Verein | Spiele | Tore | Torvorlagen |
Bayer Leverkusen | 215 | 42 | 51 |
Borussia Dortmund | 45 | 7 | 13 |