VfB-Sportdirektor Sven Mislintat im Interview: "Rino hat als Trainer alle Waffen, die man braucht"

Sven Mislintat ist seit Mai 2019 Sportdirektor beim VfB Stuttgart.
© imago images / Sportfoto Rudel
Cookie-Einstellungen

 

Wir waren bei den letzten Transfers. Wie gewichten Sie bei der Beurteilung eines möglichen Neuzugangs die Informationen aus den Bereichen Daten, Livescouting und auch dem Persönlichen?

Mislintat: Es ist immer eine Kombination aus allen Faktoren, wir versuchen einen 360-Grad-Blick auf die Spieler zu kreieren. Da spielen die Daten eine genauso wichtige Rolle wie das Live-Scouting, die systematische Video-Analyse und die persönlichen Gespräche. Ich versuche auch immer herauszufinden, wie sich ein Spieler neben dem Platz verhält. Und ich verlasse mich nie nur auf eine Meinung. Statt einen Scout denselben Spieler mehrfach live und/oder im Video beobachten und analysieren zu lassen, möchte ich die Meinung mehrerer Scouts hören. Nur so ergibt sich am Ende für mich die mehrperspektivische Sicht durch unterschiedliche Werkzeuge und Beobachter und damit die notwendige Grundlage meine Entscheidungen treffen zu können.

Es gibt inzwischen gerade im Analyse-Bereich jede Menge verschiedener Anbieter mit verschiedenen Tools, die man zu Rate ziehen kann. Glauben Sie, dass diese Revolution immer noch weitergehen wird?

Mislintat: Das ist schwer zu sagen. Ich denke Evolution beschreibt es heute besser als Revolution. Ausreichend Tools sind vorhanden. Es geht also eher um die Frage, ob ich mit den Werkzeugen auch wirklich umgehen kann? Um es platt zu formulieren, der beste Werkzeugkoffer nützt nichts, wenn man nicht weiß, wie herum man den Schraubendreher drehen muss. Meint, es kommt darauf an, zu verstehen, wie und was überhaupt erhoben wird und welche Interpretationen zulässig sind.

"Endo war im Scoutpanel maximal und konstant auffällig"

Können Sie ein Beispiel geben?

Mislintat: Gerne. Wenn ich zum Beispiel Spieler nur nach einem Gesamtrating beurteilen würde, hätten wir es beim VfB schwer, Spieler zu verpflichten. In diese Regale können wir finanziell in der Regel nicht greifen. Also müssen wir in die Nischen gehen und Potenziale, wie die Waffen der Spieler in Einzelratings, erkennen. Oder Potenziale, die vielleicht gar nicht nur in starken Werten liegen, sondern auch in dargestellten Schwächen. Ein Beispiel dazu: Wenn man zwei Spieler in ihren Leistungskurven auf einer Skala von 1 bis 10 vergleicht: Einer spielt konstant Wertungen um 6, der andere hat extreme Ausschläge nach unten, wen verpflichtet man dann? Den, der Konstanz liefert oder jenen, der extremes Potenzial auf den Platz bringt, aber leider unregelmäßig? Da sind wir dann tief im Detail und diese Antwort muss jeder Klub für sich selbst finden.

Kommen Spieler nur aus den Datenbanken auf den Tisch?

Mislintat: Nein. Das Portfolio von Spielern, welche für eine Verpflichtung in Frage kommen, entsteht aus allen Perspektiven des zuvorderst beschriebenen 360-Grad-Blicks, also über Datenanalyse, Video-und Livescoutings und über unsere Netzwerke. Ein Name darf von überall ins Spiel kommen, muss sich dann aber in den restlichen Sparten erst noch einer umfangreichen und detaillierten Analyse stellen.

Einer der Spieler der Stunde beim VfB heißt Wataru Endo. Ihn haben Sie aus St. Truiden praktisch gestohlen, könnte man fast sagen angesichts seiner Bedeutung für das VfB-Spiel. Was ist die Geschichte hinter der Endo-Entdeckung, woher kam sein Name?

Mislintat: Ich kannte Wataru schon aus Japan. Japan ist aufgrund der hohen Reisekosten natürlich nicht das Land, in das du ständig für Live-Beobachtungen fliegst. Also sind Daten in der Regel das Mittel der Wahl für die überblickende Analyse des Marktes. Und Wataru war im Scoutpanel maximal und konstant auffällig in der Höhe seines Gesamtratings. Nachfolgende Video-Sichtungen vervollständigten und verfestigten diese Eindrücke dahingehend, dass ich immer wieder darüber nachdachte, ihn zu verpflichten.

Sven Mislintat sieht den VfB aktuell in der Bundesliga zwischen Rang 13 und 18.
© imago images / Pressefoto Baumann
Sven Mislintat sieht den VfB aktuell in der Bundesliga zwischen Rang 13 und 18.

Die jungen Wilden und das magische Dreieck als Orientierung

Wie ging es weiter?

Mislintat: In Japan hat er damals meist als zentraler Innenverteidiger gespielt, seine Größe schien ihn für diese Position in Europa zu limitieren. Aufgrund seines Profils war die Idee, ihn als Sechser zu nutzen schnell die offensichtliche, so wie er die Bälle gewann, so wie seine ganze Spielanlage ist. Hier angekommen hat er uns auch gleich noch Lügen bezüglich seiner Kopfballstärke gestraft, denn die bringt er hier genauso auf den Platz wie in Japan, so dass er auch für den VfB bereits als Innenverteidiger gespielt hat. Für seine Verpflichtung war aber auch noch etwas anderes entscheidend.

Und das war?

Mislintat: Dass sein Wechsel aus Japan nach St. Truiden nicht komplett aufging. Dort hat er mehr als Box-to-Box-Spieler auf der Acht gespielt, was er zwar auch kann, aber seine Qualitäten kommen am besten zentral vor der Abwehr zum Tragen. So war er dort nicht mehr so auffällig, wie er es in einer Rolle vor der Abwehr sein kann. Dies war unser Glück, denn eine Ausleihe letztes Jahr zu uns in die zweite Liga wäre mit seinen aktuellen Leistungen unmöglich zu realisieren gewesen. Im Nachhinein hört sich das wahrscheinlich besserwisserisch an, aber ich war mir wirklich sehr sicher, dass das ein sehr guter Transfer für uns sein wird. Positiv verstärkend kam hinzu, auch wenn ich nicht dazu tendiere, so etwas zu verallgemeinern, dass ich persönlich und der VfB als Klub noch nie schlechte Erfahrungen mit japanischen Spielern gemacht haben. Und Wataru bestätigt dies erneut: Wie er sich innerhalb der Truppe gibt und bewegt, wie professionell er sein Leben führt - das ist sensationell.

Endo hat sicherlich das Zeug, einer der Eckpfeiler für den VfB in den kommenden Jahren zu werden. Wenn Sie über eine Vision beim VfB nachdenken, gar nicht auf Tabellenplätze bezogen, welche Bilder haben Sie im Kopf? Wie soll der VfB der Zukunft aussehen?

Mislintat: Bezüglich der Identität des Klubs fand sich diese unseres Erachtens in den Zeiten der jungen Wilden und des magischen Dreiecks am besten repräsentiert und dient uns unabhängig von der jeweiligen Zielsetzung zur Orientierung. Bezüglich unserer Ziele ist es immer gefährlich, über Visionen zu sprechen, weil jeder sie zu erreichen mit einem bestimmten Datum in Zusammenhang sieht. Das ist aber der falsche Weg. Eine Vision kennt keinen zeitlichen Rahmen. Für uns geht es in erster Linie darum, Schritt für Schritt in die richtige Richtung zu laufen, ohne dabei zwischendurch zu viele Schritte zurück machen zu müssen. Mit Thomas Hitzlsperger, Markus Rüdt (Direktor für Sport-Organisation, Anm. d. Red.) und mit Pellegrino Matarazzo haben wir beim VfB im Sport eine Vierergruppe, die genau weiß, was sie vorhat und eine klare Strategie miteinander verfolgt. Die Vision sieht aber nicht so aus, dass wir in zwei Jahren wieder international spielen, in drei Jahren sollte es Champions League sein und in fünf ein Titel. Wir versuchen stattdessen, zwei Dinge zu kombinieren: Die Klasse zu erhalten mit der Prämisse, dass wir in der Corona-Krise wirtschaftlich gesund bleiben. Wir leben in Zeiten, in denen es plötzlich vorstellbar erscheint, dass es nicht nur sportliche, sondern auch wirtschaftliche Absteiger aus der Bundesliga geben könnte.

Wie viel Geld hat der VfB durch die Pandemie verloren?

Mislintat: Wir werden über alle Budget-Töpfe hinweg bis zu 30 Millionen Euro verlieren im Vergleich zur Pre-Corona-Zeit. Das muss erst einmal kompensiert werden.