Baustelle Nationalmannschaft
Neben seiner Rolle als Vorbild hat Kimmich vermutlich bei seinem Bekenntnis zum Impfen die sportlichen Auswirkungen von Corona im Blick gehabt, denn sowohl beim FC Bayern, als auch bei der Nationalmannschaft fehlte der Führungsspieler deshalb.
Bei der DFB-Auswahl ist er als Antreiber im defensiven Mittelfeld fast noch unverzichtbarer als im Verein, weshalb die Versetzung Kimmichs auf die Rechtsverteidiger-Position während der EM-Hinrunde vermutlich ein entscheidender Fehler war.
Es war aber nicht der einzige Fehlgriff, den sich der scheidende Jogi Löw in seinem letzten Turnier erlaubte. Trotz klarer Signale beharrte der Alt-Bundestrainer auf die überforderte Dreierkette, stellte dem Anschein nach mehr nach Namen denn nach Form oder Position auf, erlaubte sich unerklärliche Aussetzer bei seinen Wechseln und wirkte insgesamt abgehoben und beratungsresistent.
Das harm- und mutlose Auftreten der Nationalelf beim frühzeitigen Achtelfinal-Aus gegen England war ein unwürdiges Ende seiner Erfolgsära, war aber eben selbst verschuldet. Als Konsequenz rutschte das Team in der Weltrangliste auf Rang 16 ab, so schlecht wie noch nie seit Löws Amtsantritt 2004.
Der eigentlich schon seit der WM-Blamage 2018 überfällige Neuanfang ist unter Hansi Flick immerhin gelungen. Nach der problemlosen WM-Qualifikation und einer Verbesserung auf Platz elf wird aber erst die Finalrunde in Katar zeigen, wo die deutsche Mannschaft wirklich steht.
Baustelle DFB
Sportlich geht es beim DFB aufwärts, organisatorisch hingegen war es ein Jahr zum Vergessen. Gleich mehrfach geriet der gemeinnützige Verband mit den Steuerbehörden in Konflikt und wurde permanent mit immer neuen Enthüllungen über fragwürdige finanzielle und sonstige Machenschaften bloßgestellt.
Zudem ist der größte Sportverband der Welt einmal mehr kopflos, nachdem Kurzzeit-Präsident Fritz Keller schon im Mai als bereits drittes DFB-Oberhaupt seit Ende 2015 zurücktreten musste. Der ehemalige Freiburger Vereinsboss war nicht mehr tragbar, nachdem er seinen Vizepräsidenten Rainer Koch in einer Sitzung als "Freisler" tituliert hatte.
Dass es überhaupt zu Kellers Kurzschluss kam, daran hatte allerdings der oberste Amateurvertreter Koch großen Anteil. Konsequenzen gab es für ihn jedoch keine, im Gegenteil: Gemeinsam mit seinem Intimfeind Peter Peters, als DFL-Aufsichtsratschef erster Vertreter der Profis, führt er seit dem Rücktritt den DFB wieder einmal als Interimspräsident.
Wohl auch wegen ihrer lukrativen Ämter in UEFA (Koch) und FIFA (Peters) wollen beide auch nach den Neuwahlen der DFB-Führung im März weitermachen. Der bei Schalke als Finanzvorstand gescheiterte Peters bewirbt sich nach seinem Rückzug in der DFL zugunsten von BVB-Boss Hans-Joachim Watzke sogar als Präsident, was selbst einige Vertreter der Profiklubs fassungslos macht.
DFB: Wo bleibt die Frau an der Spitze?
Trotzdem können sich nicht wenige Insider gut vorstellen, dass der passionierte Strippenzieher Peters bei der geheimen Abstimmung genug Vertreter der regionalen Verbände "umdrehen" kann, um den favorisierten und als hoch integer eingestuften Kandidaten der Amateurvertreter, Bernd Neuendorf, zu schlagen. Es wäre das Gegenteil des so dringend benötigten Neuanfangs.
"Ich habe den Eindruck, dass sich nahezu hundert Prozent der Fußballinteressierten eine Erneuerung des DFB wünschen, siebzehn Verbandspräsidenten, allesamt Männer, aber entscheiden, dass alles so weitergehen soll wie bisher", sagte Katja Kraus, die früher HSV-Vorstandsmitglied war, vor wenigen Tagen der Zeit.
Kraus gehört, wie etwa Nationaltorhüterin Almuth Schult und die frühere Spitzen-Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus-Webb, zu den Gesichtern der Initiative "Fußball kann mehr", die sich unter anderem für mehr Gleichberechtigung, eine Quote für die Funktionärsstellen im deutschen Fußball und eine Doppelspitze aus einem Mann und einer Frau an der Spitze des DFB ausspricht. Weil Schult und Co aber das Gefühl haben, das Ergebnis der anstehenden Wahl sei längst abgemacht, verzichtete die Initiative darauf, eine der Ihren für die DFB-Spitze zu nominieren.
Den Glauben an einen echten Neuanfang hatte Christian Seifert schon im Vorjahr verloren, weshalb er sich aus dem maßgeblichen DFB-Präsidialausschuss zurückzog. Damit hatte er allerdings auch seinen Anteil an der nun von ihm beklagten fehlenden Umsetzung des dringend nötigen Nachwuchsförderungskonzepts "Projekt Zukunft".
Denn im Juniorenbereich liegt eine der weiteren großen Baustellen im deutschen Fußball, wie die zahlreichen Misserfolge in jüngster Vergangenheit zeigen. Selbst der Image-Booster durch den großen sportlichen Lichtblick, den EM-Triumph der U 21 im Sommer, wurde von DFB und DFL wenige Wochen später wieder zunichte gemacht.
DFB gab Sympathieträger Stefan Kuntz keine Perspektive
Aufgrund der Verweigerungshaltung der Vereine gelang dem Verband tatsächlich nicht, einen vollständigen Kader zu den Olympischen Spielen zu schicken. Kein Wunder, dass Erfolgstrainer Stefan Kuntz kurz nach dem Vorrunden-K.o. in der Türkei sein Glück suchte, auch weil der DFB einem seiner wenigen Sympathieträger keine Perspektive bieten konnte oder wollte.
So bleibt einzig die Hoffnung auf ein besseres 2022, trotz Omikron, trotz erdrückender Bayern-Dominanz und Bundesliga-Mittelmaß, trotz der unklaren Machtkonstellation im DFB. Vielleicht sieht die Fußball-Welt ja heute in einem Jahr, wenige Tage nach dem WM-Finale am 18. Dezember, ganz anders aus.
Oder um abschließend den Fußball-Philosophen Seifert zu zitieren, wonach (in diesem Fall bezogen auf das Verhältnis zwischen DFB und DFL) es auch eine Chance ist, wenn etwas auf dem Tiefpunkt angekommen ist: "Es kann nur aufwärts gehen."
Die Fußball-Kolumne geht in die Weihnachtsferien und meldet sich im neuen Jahr zum Rückrundenstart wieder. Allen Lesern ein frohes Fest und einen guten Rutsch!