Für Stefan Kießling hielten die vergangenen zwölf Monate viel bereit: Die Diskussionen um sein Phantomtor in Hoffenheim, das Dauer-Thema Nationalelf, die Trainerentlassung bei Bayer Leverkusen. Im Interview spricht der Stürmer der Werkself über die Auswirkungen des neuen Bayer-Fußballs unter Roger Schmidt, die Folgen des Phantomtors und das Ende seiner Karriere.
SPOX: Nach dem aktuellen Saisonstart ist Leverkusen wieder in aller Munde und aufgrund des aufregenden Spielstils auch wieder attraktiver geworden. War es nach den Erfahrungen der Vorjahre wichtig, dass diesmal eine größere personelle Fluktuation herrschte?
Stefan Kießling: Das war zumindest nicht kontraproduktiv. Wir haben auch in den letzten Spielzeiten keinen schlechten Fußball gezeigt, damit aber nicht konstant unsere Ziele erreichen können. Deshalb war es gut, dass nun ein Trainer kam, für dessen Spielidee man auch ein paar geeignete Spieler hinzu geholt hat. Das Pressingspiel tut uns gut, wir haben das lange geübt und lernen immer noch.
SPOX: Roger Schmidts Fußball hat bereits im vergangenen Jahr bei Red Bull Salzburg für Aufsehen gesorgt. Sie dagegen haben als Angreifer in Leverkusen gefühlt seit Jahren die gleiche Rolle inne. Hat sich durch diese neue Art des Fußballs etwas daran geändert?
Kießling: Nein, ich bin immer noch derselbe (lacht). Ich weiß jetzt aber: Wenn ich früh anfange zu pressen, machen die Mitspieler in meinem Rücken mit. Das gibt mir Vertrauen, was bei dieser Spielweise auch sehr wichtig ist. Meinen Spielstil musste ich aber nicht wirklich dafür anpassen. Im Gegenteil: Durch die vielen schnellen Balleroberungen, die wir jetzt haben, kommen wir zu mehr Torgelegenheiten. Die gab's zuvor nicht immer in dieser Fülle.
SPOX: Bei dieser Art des frühen Pressings wird hin und wieder von einem geordneten Chaos gesprochen. Sie haben nach dem Spiel beim BVB auch gesagt, dass es bewusst vogelwild zugeht. Was haben Sie genau damit gemeint?
Kießling: Mir ging es dabei um die Zufälligkeit mancher Spielsituationen. Wenn man zu zweit oder gar zu dritt einen Ball jagt, kann es sein, dass man ihn erobert, aber vielleicht auch direkt wieder verliert, der Ballbesitz dann wieder zum Gegner übergeht und danach möglicherweise wieder zu uns. Dieses Hin und Her hat etwas Wildes an sich, muss aber absolut kein Nachteil sein. Wichtig ist, dass bei Ballverlust immer die zwei am nächsten zum Ball stehenden Spieler sofort wieder attackieren.
SPOX: Wann denken Sie erreicht die Mannschaft den Punkt, an dem sie dauerhaft die Balance halten kann und das geordnete Chaos sinnvoll auf den Platz bringt?
Kießling: Das ist schwer vorherzusagen. Wir brauchen Training, Spiele, Videoanalysen. Inwiefern das dann eines Tages unabhängig vom Gegner klappt, muss man abwarten. Jedes Spiel ist ja anders, so fühlt es sich jedenfalls für uns Spieler an. Mal spielt ein Gegner von hinten raus, mal nur mit langen Bällen - da müssen wir uns natürlich auch jedes Mal neu drauf einstellen. Dortmund ist die Messlatte, bei diesem Spiel waren wir nahe an der Perfektion. Daher wissen wir, dass wir es können. Jetzt müssen wir es einfach immer abrufen, so abgedroschen das auch klingen mag.
SPOX: Geschäftsführer Michael Schade hat die bereits aufgekommene Euphorie als mögliches Problem für die Mannschaft ausgemacht. Rudi Völler sah das weniger dramatisch. Wie beurteilen Sie das?
Kießling: Die Beurteilungen von außen passen halt nicht immer zusammen. Das ist in meinen Augen das größere Problem. Wir legen einen Start mit fünf Siegen in fünf Spielen hin. Dass da eine Mannschaft gefeiert wird, ist irgendwo logisch. Dennoch war es bisweilen schon extrem, wie das hochgepusht wurde. Dann gab es zwei Spiele, die unglücklich liefen und schon heißt es wieder, Leverkusen bekäme nichts gebacken.
SPOX: Wie hat die Mannschaft darauf reagiert?
Kießling: Früher habe ich natürlich auch viel die Meldungen gelesen und mich dann geärgert oder über die Situation nachgegrübelt. Ich bin jetzt ein alter Hase, mittlerweile ist mir das eigentlich alles egal (lacht). Grundsätzlich ist es sicherlich gerade für junge Spieler nicht leicht, mit diesem medialen Auf und Ab klar zu kommen. Da muss jeder nach einer gesunden Balance suchen, erfahrene Spieler wie ich sind dann auch gefordert, zu helfen. Aber ich habe jetzt nicht den Eindruck, dass die Mannschaft in irgendeiner Art darunter leiden würde, so ist es nicht.
Seite 2: Kießling über das Phantomtor und eine Zukunft im Ausland
SPOX: Gelitten haben Sie unter den Nachwehen des Phantomtors von Hoffenheim, das nun bald ein Jahr her ist. Sie haben im Sommer Ihre offizielle Facebook-Seite aus dem Netz genommen, was sicherlich auch damit zusammenhängt. Was hat Sie diese Zeit gelehrt?
Kießling: Der Einfluss des Internets ist enorm. Das mag nicht ständig so sein, aber ich habe gesehen, wie extrem das bei einem entsprechenden Anlass werden kann. Es verstecken sich viele Leute hinter ihrem Computer und sind nicht zu kontrollieren. Das war letztlich auch der Grund, weswegen ich mich vor ein paar Monaten entschlossen habe, die Facebook-Seite zu schließen.
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SPOX: Waren Sie von der Wucht der Diskussionen und den Anfeindungen überrascht?
Kießling: Natürlich. Es war hart für mich zu sehen, dass mir die alleinige Schuld für das, was in Hoffenheim passiert ist, gegeben wurde. Das ist eine unangenehme Situation, zumal ich es ja einfach nicht gesehen habe. Das habe ich ja ständig betont, die Sachlage hat das aber in keiner Weise verändert. Mich hat es daher schon sehr erstaunt, dass mir niemand geglaubt hat und man so auf die Barrikaden ging.
SPOX: Glauben Sie, dass ein deutlich unerfahrener und jüngerer Spieler an so etwas hätte seelisch kaputt gehen können?
Kießling: Das ist durchaus möglich. Man sollte aber nicht glauben, dass diese Sache spurlos an mir vorüber ging, nur weil ich kein junger und unerfahrener Spieler mehr bin. Ich musste auch einen Weg finden, um damit fertig zu werden. Das war ja nach zwei, drei Tagen längst nicht gegessen.
SPOX: Welche Auswirkungen hatte das Tor und seine Folgen denn auf Sie als Privatmensch?
Kießling: Der psychische Druck war gewaltig. Meine Familie war letztlich auch davon betroffen und wurde damit konfrontiert. Es kamen viele Dinge zusammen, die absolut unschön für uns waren - Beschimpfungen, Medienberichte, ständige Nachfragen. Es ging einfach unter die Gürtellinie und hat mich nachdenklich gemacht.
SPOX: Wie beurteilen Sie heute den Stellenwert von Social Media im Vergleich zu früher?
Kießling: Grundsätzlich ist das natürlich keine schlechte Sache. Meine Seite wurde vom Großteil ja auch gut angenommen. Man ist nah an den Fans dran und kann auch mal Dinge von sich preisgeben, die zuvor nicht schon bekannt waren. Es besteht aber immer die Möglichkeit, dass sich der Wind schnell dreht und die Sache in die Hose geht. Social Media ist in beide Richtungen sehr beeinflussbar.
SPOX: Lassen wir mal Vergangenheit und Gegenwart beiseite und blicken in die Zukunft: Sie hat es nie weggezogen aus Leverkusen. Ihr Vertrag läuft noch bis 2017, dann sind Sie 33. Schon mal an Katar oder die USA gedacht?
Kießling: Nein (lacht). Ich bin nicht der Typ, der so weit voraus denkt. Ich fühle mich aktuell noch total fit, so dass das Thema Karriereende noch überhaupt nicht auf der Agenda steht. Ich werde meinen Vertrag auf alle Fälle erfüllen und denke, dass ich dann mit 33 in einem Alter sein werde, in dem man ja auch noch zwei, drei Jahre kicken könnte.
SPOX: Irgendwelche Gedanken werden Sie sich doch aber sicherlich schon gemacht haben?
Kießling: Nur mal theoretisch gesprochen: Dass ich irgendwie dem Fußball erhalten bleiben werde, ist genauso wahrscheinlich wie dass ich erst einmal ein paar Monate gar nichts machen werde. Ich glaube daran, dass alles kommt, wie es kommt - von alleine. Vielleicht spiele ich die letzte Zeit meiner Laufbahn noch für einen anderen Verein. Oder aber Leverkusen sagt: 'Wir brauchen dich als Sekretär.' Ich werde auf jeden Fall eine Idee von meiner Zukunft haben, wenn es sich dem Ende zuneigt (lacht).
SPOX: Bis dahin haben Sie noch die Möglichkeit, Ihren ersten Titel mit einer Profimannschaft zu gewinnen. Bislang hat das noch nicht funktioniert. Wie sehr im positiven Sinne nagt das an Ihnen?
Kießling: Ich bin noch brutal ehrgeizig. Ich will das mit Leverkusen noch schaffen.
SPOX: Wenn man Ihnen prognostizieren würde, Sie gewännen noch einen einzigen Titel in Ihrer Karriere und könnten sich ihn heraussuchen, welcher wäre es dann?
Kießling: Die deutsche Meisterschaft. Dann ließe sich sagen, dass wir über eine gesamte Saison hinweg die beste deutsche Mannschaft waren. Das wäre eine große Auszeichnung dafür, den Alltag über eine solch lange Zeit hinweg gemeistert zu haben. Diesen Traum trage ich weiterhin in mir.
Stefan Kießling im Steckbrief