Im letzten Moment schien Diego Costa doch noch den R1-Button gefunden zu haben, schlängelte sich so elegant wie das für einen Diego Costa möglich ist, an dem herausstürzenden Toby Alderweireld vorbei und schob weiter auf Eden Hazard, der selbigen R1-Button schon sanft zu streicheln schien, um dann sehenswert ins rechte obere Kreuzeck zu vollenden - pure Ekstase! Pure Ekstase im Hause Vardy und in ganz Leicester.
Durch den Ausgleich gegen die Tottenham Hotspur machte der Belgier das Wunder perfekt. Leicester City, ein Haufen aussortierter, viel zu alter Spieler und unbekannter Neuverpflichtungen hatte es wahrhaftig auf den Thron der bekanntesten Fußballliga der Welt geschafft. Nie zuvor hatte sich eine ganze Nation und im Grunde auch ganz Europa nicht derart einstimmig für einen Titelträger gefreut. Die Meisterschaft Leicesters war die ironische Antwort der Fußballromantik auf eine überkommerzialisierte und fremdfinanzierte Premier League.
Die Videos der Mannschaftsfeier im Haus von Jamie Vardy gingen anschließend viral und waren derart authentisch, dass man das Gefühl nicht loswurde, dass man etwas Reines und wahrhaft Geschichtsträchtiges miterlebt hatte.
Mach den Ikarus
Neun Monate und einen Brexit später ist der Zauber in Leicester verflogen. Mit 21 Punkten steht der Meister nach 25 Spielen derzeit noch genau einen Punkt vor den Abstiegsplätzen. Man befindet sich inmitten einer Niederlagenserie von fünf aufeinanderfolgenden Spielen und hat es als einzige Mannschaft der Premier League im Jahr 2017 noch nicht geschafft, den Ball auch nur einmal über die Torlinie zu drücken. Treffend bezeichnete Kasper Schmeichel die Leistungen seines Team zuletzt als "peinlich" und "nicht akzeptabel".
Der im Juni noch zum Heiligen erhobene Claudio Ranieri ist mittlerweile keineswegs mehr unumstritten. Die Buchmacher auf der Insel sehen ihn als klaren Favoriten auf die nächste Trainerentlassung. Mit einem möglichen Abstieg als Meister droht man zudem ein Kunststück zu vollbringen, welches zuletzt Manchester City vor 79 Jahren gelang.
Keine Energie ohne die Batterie
Doch wo hat diese historisch schwache Saison ihren Ursprung? Schaut man sich die Abgänge nach der Meistersaison an, fällt einem dort eigentlich nur ein Name ins Auge - N'Golo Kante. Für knapp 35 Millionen Euro wechselte der Mittelfeldspieler nach der Meistersaison zum FC Chelsea und läuft nun dort in dieser Saison jedes noch so kleine Loch zu.
Vom ehemaligen Teamkollegen Robert Huth als "bester Spieler der Premier League" gelobhudelt und von Claudio Ranieri als "Batterie" der Foxes bezeichnet, wird im Rückblick klar, dass nicht Jamie Vardy oder Riyad Mahrez die wichtigste Rolle im Meistermärchen spielten, sondern der 1,69 Meter kleine Franzose.
Kante überzeugte in Leicester und nun bei Chelsea mit einem ausgeprägten taktischen Verständnis von defensiven Freiräumen, einer bemerkenswerten Laufbereitschaft und einer Team-first-Einstellung, mit der es ihm keine Probleme bereitet, sich in jeden Zweikampf zu werfen und seinen offensiven Vorderleuten bedingungslos den Rücken freizuhalten. Mit 156 Balleroberungen und 175 Tackles legte Kante in der letzten Saison jeweils Bestwerte für die europäischen Topligen auf.
Bei Leicester hingegen treten die individuellen Defizite der Spieler ohne diesen antizipierenden Prittstift deutlich zu Tage. Die in die Jahre gekommene Innenverteidigung aus Huth (32) und Wes Morgan (33) sieht sich deutlich mehr Angriffswellen aus dem Zentrum ausgesetzt und hat Probleme die fehlende Agilität im Zweikampf zu verbergen. Mit 43 Gegentoren nach 25 Spielen hat man schon jetzt sieben Tore mehr kassiert als zum Ende der letzten Saison.
No party, even with Vardy
Doch es hapert beim Meister nicht nur in der Defensive. Der zum Spieler der vergangenen Saison gekürte Riyad Mahrez ist ein Schatten seiner selbst, kommt auf lediglich sechs Scorerpunkte und erzielte noch kein einziges Tor aus dem Spiel heraus. Vor der Saison noch von diversen Topklubs gejagt, sieht Mahrez derzeit deutlich mehr nach dem aus, was er war, als er nach Leicester kam. Eine Verpflichtung, die nur 500.000 Euro gekostet hat.
Sein kongenialer Offensivpartner Jamie Vardy, die Cinderella-Story der letzten Saison, traf bislang nur fünfmal. Auch sein 30 Millionen Euro teurer Ersatz Islam Slimani ist noch nicht die erhoffte Verstärkung. Generell bewies Leicester in diesem Jahr kein allzu glückliches Händchen auf dem Transfermarkt.
Dies könnte auch mit dem wohl zweiten schwerwiegenden Abgang zu tun haben. In Steve Walsh verließ den Meister vor der Saison der Chefscout, der für die Verpflichtungen von Mahrez, Vardy und Kante verantwortlich gezeichnet hatte. Ohne ihn gab Ranieri knapp 90 Millionen Euro für Slimani, Ahmed Musa, Onyinye Ndidi, Nampalys Mendy, Bartosz Kaputska und Ron-Robert Zieler aus. Keiner von ihnen konnte dem Team bislang nachhaltig weiterhelfen.
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Ob das fehlende Glück bei den Neuzugängen wirklich mit dem Abgang des Chefscouts zu tun hat, lässt sich nicht abschließend klären. Es kann auch einfach an der Tatsache liegen, dass es schwerer ist, in den höheren Preiskategorien erfolgreich zu transferieren, als das bei risikofreien unbekannteren Verpflichtungen der Fall ist. Auch Mannschaften wie Dortmund oder Gladbach haben in der Vergangenheit gezeigt, dass es nicht einfach ist, durch die höher gewordenen Ansprüche mit dem gleichen Erfolg auf dem Transfermarkt zu agieren.
Wie Dortmund auf Extasy
Generell scheint sich der Werdegang des BVB in gewisser Weise in Leicester zu wiederholen - nur eben deutlich intensiver. Auch der Borussia gelang unter Klopp 2011 eine Meisterschaft mit weitestgehend unbekannten Spielern und Schäppchen-Transfers. Ähnlich wie Klopp überraschte Ranieri die Premier League mit einem Umschaltspiel basierend auf enormer Geschwindigkeit.
Auch der BVB tat sich in den Anschlussjahren jedoch immer schwerer mit tiefer stehenden Mannschaften, die nicht mehr das gleiche Konterspiel erlaubten und dem neuen Favoriten das Spiel überließen. Im Gegensatz zum BVB, bei dem diese Entwicklung bis zum Tiefpunkt im Winter 2015 einige Jahre in Anspruch nahm, durchlebt Leicester all diese Erfahrungen derzeit innerhalb von nur neun Monaten.
Zuletzt rumorte es deswegen intern. Der Daily Telegraph berichtete von "unzufriedenen Spielern, die mit der Taktik und den Methoden Ranieris nicht einverstanden" seien und auch Ranieri gab offen zu, dass er Spielern, die Leicester zur Meisterschaft führten, zu viele Chancen gegeben habe. Auch das ist ein Vorwurf, dem sich Klopp in seiner letzten Saison ausgesetzt sah. Ranieri versucht, die Reißleine gerade noch rechtzeitig zu ziehen: "Jetzt muss sich etwas ändern, weil wir nicht auf diese Art und Weise weitermachen können."
England ≠ Europa
Im Gegensatz zur Premier League läuft es für die Foxes in der Champions League bislang überragend. Mit 13 Punkten und vier Spielen ohne Gegentor konnte man sich als Gruppenerster für das Achtelfinale qualifizieren, wo man jetzt auf den FC Sevilla trifft. Die Spielweise, die in der Premier League nicht mehr für Überraschung sorgen konnte, reichte in einer schwachen Gruppe mit Porto, Kopenhagen und Brügge zum ungefährdeten Weiterkommen.
Auch die Leistungen waren dabei wie beim Heimsieg gegen Porto und dem 3:0-Auswärtssieg in Brügge überzeugend. Die 0:5-Schlappe in Portugal zum Abschluss der Gruppenphase konnte man noch damit abtun, dass der Gruppensieg ohnehin schon feststand.
Gegen den in dieser Saison enorm starken FC Sevilla ist man dennoch krasser Außenseiter. Zu wackelig präsentiert sich die Defensive und zu ungefährlich agiert die formschwache Offensive um Mahrez und Vardy. Immerhin: Slimani ist nach Afrika-Cup und Verletzungspause wieder einsatzbereit.
Mit der immer noch auf Konter ausgerichteten Spielweise darf man die Foxes in einem Spiel gegen einen Favoriten dennoch nicht abschreiben. Kann man die Premier League ausblenden und auf das Selbstbewusstsein der Gruppenphase zurückgreifen, kann man mit einem ersten starken Auswärtsspiel eventuell noch für eine nächste Sensation sorgen.
Fokus Klassenerhalt
Das Hauptaugenmerk liegt dennoch ganz klar auf dem Klassenerhalt in der Liga. Den FA Cup schenkte man mit einer B-Elf gegen Millwall quasi ab. Während am nächsten Spieltag beim Heimspiel gegen den FC Liverpool nicht unbedingt mit Punkten zu rechnen ist, wird vor allem das Aufeinandertreffen am 27. Spieltag mit dem derzeit 18. Hull City richtungsweisend.
Schmeichel fordert derweil gegenüber CNN die Situation endlich zu anzunehmen: "Lasst uns bitte einfach nicht mehr über die vergangene Saison sprechen. Es ist an der Zeit für jeden von uns, für das einzustehen, was er leistet und sich daran messen zu lassen."
Auf Phrasendeutsch heißt das wohl: Abstiegskampf akzeptieren - Klasse halten. Ob dieses Unterfangen mit Claudio Ranieri zu Ende geführt wird, bleibt fraglich. Ob dieser einen Kader hat, der vielleicht einfach in den Abstiegskampf gehört und lediglich zu diesem einen großen Wunder in der Lage war, wird sich zeigen.
Leicester City im Steckbrief