Aufbauspiel: Hummels aus dem Spiel genommen
Eine Überraschung hatte Deutschland gegen Mexiko nicht im Gepäck: Wie üblich verschoben die Außenverteidiger bei Ballbesitz und Spielaufbau aus der eigenen Abwehr heraus weit nach vorne, oft bis auf Höhe der offensiven Mittelfeldspieler. Für die Initiation der Spielzüge waren Mats Hummels und Jerome Boateng zuständig, wobei sich auch Toni Kroos, wie bei Real Madrid üblich, zurückfallen ließ.
Dabei konzentrierten sich Mexikos Offensivspieler bewusst auf Hummels und Kroos, Boateng wurde bei Ballbesitz dagegen kaum attackiert. El Tri fürchtete die flachen Pässe von Hummels mehr als die diagonalen Flankenwechsel, für die eher Boateng zuständig ist. Vielleicht hatte man auch darauf spekuliert, dass der zuletzt verletzte Boateng seine Freiheiten nicht würde nutzen können.
Der Erfolg gab ihnen jedenfalls Recht: Marvin Plattenhardt bewohnte auf der linken Seite seine eigene einsame Insel. Die Spielverlagerungen nach links, ob nun lang und diagonal oder über zwei oder drei Stationen, kamen zu selten.
Ob es mit Jonas Hector anders gelaufen wäre, ist fraglich, der Kölner ist schließlich ebenfalls nicht für seine Offensivstärke bekannt. Mexiko hätte es mit ihm auf dem Rasen aber wohl ähnlich gespielt - schließlich stand die Taktik laut Coach Juan Carlos Osorio schon seit einem halben Jahr fest.
Mexikos Plan: Manndeckung gegen Kroos und abgeriegeltes Zentrum
Toni Kroos wurde schlicht und ergreifend in Manndeckung genommen. Wo er bei Real den ebenfalls extrem spielstarken Luka Modric neben sich hat, dazu mit Marcelo einen weiteren Spielmacher links in der Viererkette, fiele das nicht weiter ins Gewicht. Am Sonntag musste es Boateng richten, weil Khedira nicht der Mann für den Spielaufbau ist und sich obendrein zu häufig nach vorne schob. Mesut Özil, ohne Ball teilweise in vorderster Presslinie, ließ sich ebenfalls kaum zurückfallen, um das Spiel anzukurbeln.
Wobei man sagen muss, dass im Zentrum bei eigenem Ballbesitz auch nicht sonderlich viel Platz war. Mexiko ließ nämlich nicht nur dem von beiden Seiten ignorierten Plattenhardt viel Platz, sondern auf rechts auch Joshua Kimmich.
Die Mitte des Feldes wurde überladen, das Zuspiel nach außen auf den freien Bayern-Spieler nahm man in Kauf: Zum einen ist Kimmich hauptberuflich immer noch Verteidiger - einen Arjen Robben zum Beispiel würde man nie und nimmer mit Raum auf die Abwehr zulaufen lassen -, zum anderen fehlten dem profilierten Flankengeber die Abnehmer im Sechzehner: Ein Timo Werner ist zwar ähnlich schnell wie früher ein Miro Klose, aber beileibe nicht so kopfballstark.
So hatten Boateng sowie hin und wieder auch Khedira viel Raum vor sich, aber auf rechts konstant eigentlich nur eine offene Anspielstation in Kimmich. Man konnte sich Osorio förmlich an der Taktiktafel vorstellen: "Wir stellen Hummels und Kroos zu und lassen den Deutschen die Kombination Boateng-Kimmich frei. Flanken sind im Zweifelsfall okay, damit können sie uns nicht wehtun. Aber wenn wir den Ball gewinnen, ist Platz über links da."
Kimmich als Sündenbock? Schwere Rolle für Bayern-Star
Für Kimmich war es nicht nur deshalb ein sehr schweres Spiel. Viele hatten beim jungen Rechtsverteidiger eines seiner schwächsten Spiele überhaupt im DFB-Dress ausgemacht, aber im heutigen Spiel eine Seite von Grundlinie bis Grundlinie zu beackern ist schlicht unmöglich: Wenn er nicht neben den Trainerbänken nach vorn schob, um dort anspielbar zu sein, musste er hinterlaufen, als Özil oder Müller über rechts am Ball waren. Seine Position war nicht Harakiri, sondern vom Bundestrainer so gewollt.
Als Khedira den Ball vor dem 0:1 verlor, hatte Kimmich gerade wieder einen Lauf in die Tiefe gestartet und wäre verheißungsvoll offen gewesen. Stattdessen war plötzlich seine Flanke offen, Özil ging den Laufweg gegen Lozano erst zu lässig und dann zu spät mit.
In diesen Situationen liegt der Fehler im System: Weil Müller kein klassischer Flügelspieler ist, entfällt eine unheimlich große Aufgabenlast auf Kimmich. Wenn der aber fürs Offensivspiel derart wichtig ist, muss es unbedingt eine Absicherung für die rechte Seite geben. Und es braucht einen Plan B.
Löws Reaktion: Eher kein neues System
Wie kann Joachim Löw reagieren? Es widerspräche seinen Überzeugungen, das altbewährte System jetzt über den Haufen zu werfen. Überdies wäre auch ein neues System oder eine neue Taktik kein Allheilmittel: Fehlende Spritzigkeit, 38 Prozent gewonnene Zweikämpfe in Halbzeit eins oder eine Abseitsfalle nach dem Würfelprinzip haben nichts mit Osorios Schachzügen zu tun. Es gibt auch kein System, das bei einem Spiel elf gegen elf immer und überall für Überzahl sorgen kann.
Wahrscheinlicher ist, dass Löw nur wenige Wechsel vornehmen, am 4-2-3-1 aber nicht rütteln wird. Ein Leon Goretzka könnte dem müde wirkenden Mittelfeld neue Dynamik und Körperlichkeit verleihen.
Marco Reus darf auf einen Einsatz von Beginn an hoffen: Mit ihm auf der rechten Seite vor Kimmich hätte das Spiel der DFB-Elf plötzlich eine ganz neue Grundordnung, Müller könnte in die Spitze rücken oder als freies Radikal dahinter agieren. Selbst Mario Gomez wäre eine Überlegung wert, wenn das Spiel schlicht und ergreifend keine Räume für Sprints von Timo Werner bietet.
DFB-Elf braucht spielerische Lösungen gegen Schweden
Darüber hinaus braucht es spielerische Lösungen. Die erste Halbzeit zeigte, dass das deutsche Angriffsspiel immer dann flüssiger wurde, wenn sich Özil nicht zu weit vorn aufhielt, sondern in den Halbpositionen eine Anspielstation schuf. Und wenn Plattenhardt - und damit auch Draxler - über links nicht ignoriert wurden.
Kamen die Chip-Pässe von Boateng beim Herthaner an, war plötzlich Unruhe in der mexikanischen Hintermannschaft, es wurde gefährlicher. Dort gelang dann phasenweise auch ein Kurzpassspiel, auf rechts angesichts des allein gelassenen Kimmichs war das dagegen Mangelware.
Angriff und Verteidigung gehen dabei Hand in Hand: Auch an der Zuordnung in der defensiven Zentrale, dem Herausrücken der Innenverteidiger und der Abseitsfalle muss gefeilt werden. Ohne einen offensiven "Gameplan", der den Gegner beeindruckt und dessen Grundordnung ins Wanken bringen kann, droht ein Deja-vu: gut sortierte Abwehrreihen und Konter in die deutschen Lücken.
WM-Verlauf: Hilfe, mit Deutschland will niemand mehr spielen
Es bedarf längst keiner Kristallkugel mehr, um folgende Vorhersage für den weiteren Verlauf der WM zu treffen: Die Chance, dass die DFB-Elf noch einmal auf einen Gegner trifft, der ihr den Gefallen tut und offen mit kombiniert, ist äußerst gering.
In der Vorrunde ist sie sowieso mehr oder minder nicht-existent: Schweden wird aus einer massiven Abwehr kontern, die eigentlich kombinationsfreudigen Südkoreaner schon ob ihrer körperlichen Unterlegenheit tief stehen. Aber selbst in den K.o.-Runden, gegen die absoluten Topteams, wird Löw diesen Wunsch nicht erfüllt bekommen - sollte man überhaupt so lange im Turnier bleiben, muss man ja nach dem Auftaktspiel nun pflichtschuldig hinzufügen.
Spielt wirklich keiner mehr mit? Vielleicht Spanien, wenn das Mittelfeld der Furia Roja nicht anders kann. Aber es war kein Zufall, dass Deutschland gerade gegen diesen Gegner am 23. März das wohl noch beste Spiel des letzten halben Jahres ablieferte. Die übrigen Teams lieferten die Blaupause dafür, wie dem Weltmeister beizukommen ist.
Das wissen auch die Brasilianer, sollte man im Achtelfinale auf sie treffen: Beim 1:7 waren sie noch vogelwild, diesmal würden sie lauern. Oder die hochgelobten Franzosen, die schon im EM-Halbfinale 2016 als Gastgeber einen geradezu zynischen Fußball boten und am eigenen Strafraum lauerten.
Löw muss beweisen, dass er diesen Code knacken kann. Vieles kann dabei helfen: ein früher Treffer, ein Platzverweis des Gegners, ein grober Torwartfehler - und plötzlich ist alles anders. Doch wenn der Bundestrainer den Trend nicht mitgehen will - das Mittelfeld preiszugeben und selbst auf Konter zu setzen - braucht es neue Ideen.
Sonst endet die WM für Deutschland bereits im Juni.