Als alles schon vorbei war, machte der VfB Stuttgart einen Neuanfang. Nur wenige Minuten zuvor hatten die Schwaben 3:6 gegen den FC Bayern München verloren und damit in den letzten beiden Heimspielen keinen Punkt und kein Weiterkommen erzielt, dafür aber elf Gegentore kassiert.
Eine ziemlich vernichtende Bilanz, die den neutralen Zuschauer mit einer seltsamen Mischung aus Bewunderung und Grauen zurückließ. Bewunderung für ein zweites Spiel innerhalb von nur drei Tagen, das gemeinhin als Spektakel katalogisiert wird, mit tollkühnen Offensivreihen und allerbestem Unterhaltungswert fürs bezahlte Geld.
Und Grauen dafür, wie dilettantisch beide Mannschaften ihre Defensivarbeit interpretierten. 17 Tore in zwei Spielen zweier hoch veranlagter Mannschaften der Bundesliga sind nicht unbedingt als Qualitätsmerkmal für den deutschen Fußball anzusehen.
Van-Bommel-Theater schadet der Mannschaft
Aber es gibt dafür eben auch Gründe, wenngleich unterschiedlicher Couleur. Die Bayern haben (noch) ein personelles Problem.
Sie haben derzeit einen ziemlich unzufriedenen Spieler in ihren Reihen, der bisher für die nötige Stabilität in der Defensive gesorgt hatte. Aber Mark van Bommel ist seit den Spekulationen und vor allen Dingen seit den negativen Aussagen der Vereinsführung bezüglich seiner Zukunft in München nicht der Mark van Bommel früherer Tage.
Erneut glitt ihm eine Partie durch die Finger, erneut bekam der Niederländer keinen Zugriff auf Spielfluss und Gegenspieler.
Dazu konnte Bastian Schweinsteiger nicht helfen, er musste im offensiven Mittelfeld die Impulse setzen, die beiden Außenspieler Franck Ribery und Thomas Müller zeigten wenig Begeisterung für das Defensivspiel und Anatolij Tymoschtschuk verlor die meisten Duelle gegen Pawel Pogrebnjak: Die Bayern schwammen wie schon lange nicht - oder vielleicht noch nie unter Louis van Gaal.
Chaos und Anarchie in Stuttgart
Beim 2:3 in der letzten Champions-League-Saison gegen Manchester United gewährten die Münchener ihrem Gegner eine Halbzeit lang ähnlich viele Gelegenheiten wie dem VfB an diesem Abend. Wieder setzte es drei Gegentore.
"Wir machen Fehler, die nicht passieren dürfen. Auf noch höherem Niveau verlieren wir so ein Spiel", rüffelte Schweinsteiger seine Kollegen nach dem Abpfiff. Nur hatten die Bayern eben erneut das Glück, dass auf der Gegenseite noch mehr Chaos und Anarchie herrschten.
Bruno Labbadia dürfte eigentlich die nächsten vier bis fünf Tage keine Nachtruhe mehr finden. So viele Fehler und Unachtsamkeiten, wie seine Mannschaft in den letzten 180 Minuten fabriziert hat, kann man kaum mehr zur Spielanalyse auf eine DVD brennen.
Wie bei einem Abzählvers durfte fast jeder Stuttgarter mindestens einen dicken Bock schießen, den die Bayern - ganz entgegen ihrer bisherigen Gewohnheit in dieser Saison - ohne Gnade bestraften.
Fan-Aufstand: Reinigende Wirkung für den VfB?
Nach Bicakcic, Delpierre, Boka, Harnik und Ulreich (Bundesliga) waren diesmal Boulahrouz, erneut Delpierre und Boka an der Reihe, die Geschenke zu verteilen. "Wir wissen, wo wir ansetzen müssen", sagte Labbadia nach dem Spiel. Er sagte es mit Verve und Entschlossenheit und man will ihm glauben.
Denn immerhin haben seine Spieler wieder ein Funkeln in den Augen, die teilnahmslose Lethargie der letzten Wochen scheint gewichen.
Am Sonntag, als sich vor dem VIP-Eingang einige hundert Fans zusammengefunden hatten, um den Vorstand zur Rede zu stellen, soll es einigen der Verantwortlichen und auch der Spieler ganz anders geworden sein. Aber vielleicht hat dieses Schockerlebnis auch eine gewisse reinigende Wirkung gehabt, auf allen Ebenen.
"Man hat gesehen, dass die Mannschaft begriffen hat, um was es geht. Und auch die Fans haben die Lage erkannt und uns heute bedingungslos über 90 Minuten toll unterstützt", sagte Christian Gentner.
Versöhnung zwischen Fans und Spielern
Nach acht Minuten schienen sich die schlimmsten Befürchtungen zu bewahrheiten, als die Bayern mit ihren ersten beiden Torschüssen 2:0 führten. Aber von Aggressivität oder aufgeheizter Stimmung der eigenen Mannschaft gegenüber war nichts zu spüren. Im Gegenteil.
"Mit der Geschlossenheit, die heute in der Mercedes-Benz Arena herrschte, wollen wir auch die Menschen in Stuttgart mitnehmen", nahm sich Labbadia vor. "Die Fans waren heute überragend, sie haben alles gegeben und uns auch in Unterzahl immer weiter nach vorne gepeitscht", sagte sein Kapitän Delpierre.
Also schloss ein wahrlich denkwürdiger Abend nicht mit einem Pfeifkonzert im Stadion oder tobsüchtigen Fans auf der Mercedesstraße. Sondern mit einer nicht fröhlichen, aber versöhnlichen Ehrenrunde der Mannschaft, begleitet vom aufrichtigen Applaus der Zuschauer. Als würde ein Vater seinem flegelhaften Sohn verzeihen.
Vielleicht die wichtigste Errungenschaft und auch ein Sieg für die Zukunft - zumindest, wenn es nach Christian Gentner geht. "Mit diesen Fans im Rücken werden wir es auch in der Rückrunde packen."
Stuttgart - Bayern: Die Daten zum Spiel