Es ist wirklich keine neue Erkenntnis, dass sich die Corona-Pandemie weder um minutiös ausgearbeitete Zeitpläne schert, noch dass man diesen heimtückichen Virus vorzeitig für beendet erklären kann.
Das zeigt sich aktuell erneut mit der rasanten Verbreitung der Delta-Variante, weshalb in vielen Ländern viele eben erst erfolgte Lockerungen wieder zurückgenommen werden müssen. Flexibilität, auch das eine Corona-Lehre, ist also das Gebot der Stunde: Schnell und konsequent reagieren, um einen unkontrollierten Ausbruch zu verhindern.
Daher wundert es nicht, dass immer mehr Experten mit großer Sorge auf die erste paneuropäische Europameisterschaft schauen, die zum Superspreader-Event zu werden droht. Weil die für das Turnier verantwortliche UEFA nichts tut, um die Ausbreitung zu verhindern. Im Gegenteil.
EM: Verschiebung in wenige Länder wäre besser gewesen
Schon das Festhalten an der ursprünglich zugegeben charmanten, aber aufgrund der Pandemie eigentlich nicht mehr haltbaren Ideen einer Endrunde in elf (bzw. ursprünglich zwölf) Ländern war grenzwertig. Eine Verschiebung in ein Land oder zumindest wenige Länder mit niedriger Inzidenz wäre ganz klar die bessere Alternative gewesen.
Doch selbst wenn man in der Hoffnung auf die seit dem späten Frühjahr fallenden Zahlen daran festhält, hätte man vor Turnierbeginn Änderungen am Spielplan vornehmen müssen. Beispielsweise Reisen maximal reduzieren, also die Gastgeber wenn möglich auch bei einem Weiterkommen in ihrem Heimstadion spielen zu lassen, statt alle Teams und Fans sinnlos quer durchs verseuchte Europa zu jagen.
London und St. Petersburg als Spielorte absetzen
Jetzt noch daran festhalten zu wollen, die Finalrunde in London auszutragen, wo sich das Infektionsgeschehen dermaßen verschlechtert hat (7-Tage-Inzidenz 151, Tendenz stark steigend), ist ein brandgefährliches Lotteriespiel.
Gleiches gilt für das zweite Virusvariantengebiet Russland (offiziell Inzidenz von 91, jedoch mit Vorsicht zu genießen, da kaum getestet wird), wo man im Idealfall St. Petersburg schon die letzten Vorrundenspiele hätte entziehen müssen, sicherlich aber jetzt das Viertelfinale.
Frankreichs Nationalmannschaft will angeblich aus Sorge um die Gesundheit dort im Fall eines Achtelfinalerfolgs nicht antreten - gleiches müssten die Teilnehmer des Final 4 erst recht im Fall von London androhen.
Schwache Nationalverbände lassen die UEFA gewähren
Doch die Nationalverbände, die die UEFA bilden, schauen dem Treiben ihrer Dachorganisation tatenlos zu, wenngleich ihre führenden Vertreter wie der DFB-Interimspräsident Rainer Koch im Exekutivkomitee sitzen - oder sie teilen sogar das unverantwortliche Vorgehen der UEFA.
Die fehlende Rücksicht und Demut trotz allein in Europa mehr als 1,1 Millionen Corona-Toten und weit mehr Infizierten mit schwerem Verlauf macht fassungslos.
Das zeigt sich nicht nur in der oben genannten Starrsinnigkeit bei den Spielorten, die aber traurigerweise genau zur verweigerten Flexibilität der UEFA bei der Diskussion um eine Spielverlegung nach dem Herzstillstand des Dänen Christian Eriksen passt (und weiteren Fällen in der Vergangenheit).
Öffnung für möglichst viele Zuschauer als größte Gefahr
Es zeigt sich noch gravierender in der von der UEFA zwingend eingeforderten Öffnung der EM-Stadien für möglichst viele Zuschauer. Deshalb bereitet einem der Blick in die meisten Spielorte beinahe körperliche Schmerzen, wo die Menschen eng an eng und wenig verwunderlich auch ohne Masken feierten als gäbe es Corona gar nicht.
Das galt selbst für München, wo eine im Freien noch akzeptable Auslastung von 20 Prozent erlaubt ist, aber dennoch der dadurch mögliche Abstand permanent nicht eingehalten wurde. Nicht nur von den ungarischen Hooligans am vergangenen Mittwoch, sondern in allen drei Vorrundenspielen.
Am schlimmsten ist es bislang in Budapest, wo sich der zunehmend autokratisch regierende Ministerpräsident Viktor Orban und UEFA-Präsident Alexander Ceferin an einer hundertprozentigen Auslastung des Stadion (67.000 Zuschauer) erfreuen und auf den Gesundheitsschutz pfeifen. Beinahe logisch, dass die dermaßen desensibilisierten Fans dann auch auf den Straßen jegliche Hemmungen fallen lassen und Corona-Parties veranstalten, die in Deutschland massive Polizeieinsätze nach sich ziehen würden.
In Wembley droht ein Pandemie-Turbo
Und es droht alles noch schlimmer zu werden, denn im Wembley-Stadion wird die Kapazität auf Drängen von Ceferin und mit freundlicher Unterstützung von Premierminister Boris Johnson im Achtelfinale zwischen England und Deutschland auf 50 Prozent erhöht (45.000), im Halbfinale und Finale sind dann sogar zwei Drittel der Vollauslastung (60.000) fest eingeplant. "Es gibt ein reales Risiko, dass im und um das Wembley-Stadion ein Pandemieturbo gezündet wird", fürchtet der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Michael Theurer.
Dafür trägt allein die UEFA die Verantwortung, denn sie hätte von Anfang an die Zuschauer analog zu den Infektionszahlen stufenweise reduzieren können, ähnlich wie etwa im DFL-Gesundheitskonzept für die Bundesliga. Dann aber wäre neben London und St. Petersburg auch das Stadion in Sevilla (Inzidenz in Spanien: 54) im besten Fall ganz leer geblieben.
Genau das aber will die UEFA nicht, weil sie bunte Bilder und maximale Einnahmen will. Diese reine Profitorientierung hätte man vor Corona noch diskutieren können, aktuell aber ist das Verhalten völlig indiskutabel. Weil es sehenden Auges in Kauf nimmt, dass sich die Pandemie wieder exponentiell in ganz Europa ausbreitet. Nur die UEFA kann das verhindern. Noch ist es nicht zu spät. Alles andere wäre eine Schande für den Fußball.