Der Hintergrund: Die Sowjetunion hatte sich geweigert, im faschistischen Chile anzutreten, nachdem ein Verlegungsgesuch von der FIFA abgelehnt worden war. Er und seine Teamkollegen hätten zunächst geglaubt, dass die russische Delegation Angst vor einer sportlichen Schmach gehabt habe, gibt Caszely zu Protokoll. Doch später, als er das mit Soldaten gespickte Stadion gesehen habe, sei ihm klar geworden, dass "Politik und Fußball doch nicht so leicht voneinander zu trennen" seien.
"Ich wäre am liebsten sofort wieder gegangen, doch der österreichische Schiedsrichter Erich Linemayr wies uns darauf hin, dass die Partie angepfiffen werden müsste, um die Qualifikation sicherzustellen. Unsere drei Stürmer schoben sich den Ball ein paar Mal hin und her, zum Schluss schoss Francisco Valdes ihn zum 1:0 ein. Der Schiedsrichter musste die Partie direkt nach dem Tor abpfeifen, es war ja niemand da, der den Wiederanstoß hätte ausführen können." Das Spiel wurde von der FIFA mit 2:0 für Chile gewertet.
Doch warum wurde überhaupt erst angepfiffen, warum war nicht im Vorfeld, als klar war, dass die UdSSR nicht antreten würde, formell am viel zitierten grünen Tisch über den Ausgang entschieden worden? Wie konnte es die FIFA zulassen, dass ein Stadion, das kurz zuvor noch als Folterstätte missbraucht worden war, als Austragungsort für ein offizielles Länderspiel herhalten durfte?
Chile versichert, Rückspiel stattfinden zu lassen
Laut der Archivberichte des Weltverbandes aus der damaligen Zeit, die SPOX und GOAL vorliegen, habe es am 21. September, sprich zehn Tage nach dem Militärputsch, ein Treffen zwischen Repräsentanten der chilenischen und russischen Fußball-Föderation sowie FIFA-Generalsekretär Dr. Helmut Käser in Zürich gegeben. Demnach habe Russlands Beauftragter Valentin Granatkin zu keinem Zeitpunkt durchblicken lassen, dass die Sowjetunion über einen Boykott nachdenke.
Erst am 12. Oktober, so geht es aus den Berichten hervor, sei Granatkin im Rahmen der Sitzung des WM-Komitees in Gelsenkirchen mit der Bitte an die Organisatoren herangetreten, das Rückspiel aufgrund der jüngsten politischen Entwicklung in Chile auf neutralem Boden auszurichten. Daraufhin habe Chiles Gesandter Dr. Juan Goni versichert, dass die Situation in Chile es durchaus zuließe, das Quali-Rückspiel stattfinden zu lassen.
Chile-Minister garantiert Sicherheit für Sowjet-Spieler
"Er (Dr. Goni, Anm. d. Red.) erklärte, die aktuelle chilenische Regierung garantiere, dass die Partie unter normalen Umständen ausgetragen werden könne, die Sicherheit für die Gastmannschaft sei für die Partie sowie für ihren Aufenthalt in Chile gewährleistet", heißt es in dem Bericht. "Dies wurde in einem Brief des zuständigen chilenischen Ministers bestätigt."
Mit großer Mehrheit habe das Organisationskomitee in Gelsenkirchen letztlich beschlossen, das Rückspiel in Santiago ausrichten zu lassen. Um sich selbst ein Bild von der Lage in der chilenischen Hauptstadt zu machen, habe die FIFA dennoch ein zweiköpfiges Team, bestehend aus Dr. Käser und Abilio d'Almeida, seines Zeichens FIFA-Vizepräsident, nach Santiago geschickt (23. Oktober bis 25. Oktober).
Das fragwürdige Resultat der Reise: "Dr. Käser und Herr Almeida kommen - nach allem, was sie in Santiago gesehen und gehört haben, zu dem Schluss, dass sich das Leben dort wieder normalisiert hat - und dass das Qualifikationsspiel somit am 21. November wie geplant stattfinden kann."
UdSSR verweist auf "blutige Atmosphäre"
Eine Einschätzung, die von der UdSSR nicht akzeptiert wurde. Chile sei ein Land, in dem eine "blutige Atmosphäre" herrsche, insbesondere auf Sozialisten würde die Regierung mit Terrorismus und Repressionen reagieren.
In der Folge versuchte sich die FIFA als Vermittler zwischen den beiden Streitparteien. Etliche Telegramme wurden im Zeitraum zwischen dem 3. und dem 12. November hin- und hergeschickt. Chiles Fußballverband warf der Sowjetunion Unsachlichkeit vor, die UdSSR-Vertreter wiederum beharrten (in deutlich kürzeren Telegrammen) darauf, nicht in Santiago, erst recht nicht im Nationalstadion, spielen zu wollen.
Eine letzte, von Käser als streng vertraulich und persönlich gekennzeichnete Anfrage der FIFA an den chilenischen Verband, ob nicht eine Verlegung zumindest in eine andere Stadt, zum Beispiel Vina del Mar, möglich sei (immerhin könnte man damit sicherstellen, dass das als Gefängnis verschriene Nationalstadion nicht länger im medialen Fokus stünde), wurde von den Südamerikanern in aller Deutlichkeit abgelehnt.
Chile-Verband ätzt, UdSSR verweigert Rückspiel
"Die chilenische Föderation wehrt sich entschieden gegen diese beleidigenden und verleumderischen Vorwürfe des russischen Verbandes, der sich moralisch disqualifiziert hat", so ein Auszug aus einem Telegramm vom 11. November. Vina del Mar käme nicht infrage, immerhin sei das Stadion dort wegen des geringen Fassungsvermögens ja von der FIFA während der WM 1962 für nicht gut genug befunden worden.
Das Telegramm schließt mit den Worten: "Wir bedauern, diese ganzen Punkte ansprechen zu müssen, aber Sie werden verstehen, dass uns die Haltung der UdSSR zunehmend ermüdet." Die Antwort der Sowjetunion ließ nicht lange auf sich warten - und fiel wiederum kurz und bündig aus: "Ein Spiel in Chile ist nicht möglich." Die UdSSR verzichtete somit offiziell auf die Chance, an der WM-Endrunde in Deutschland teilzunehmen.
"Wir fuhren also zur WM", schreibt Caszely, der damals beim spanischen Klub UD Levante unter Vertrag stand, in seiner 11Freunde-Kolumne. "Doch nicht als freies Land, sondern als Unrechtstaat." Schon kurz nach der WM-Qualifikation sollte er ganz persönlich erfahren, zu welch großer Unrechtsbegehung Pinochets Militärjunta imstande war.
"Einige Tage später wurden wir zu einem Empfang zitiert. Diktator Augusto Pinochet wollte uns persönlich gratulieren", erinnert sich Caszely. Er führt aus: "Ich hörte seine Schritte, etwas Furchtbares. Plötzlich öffneten sich die Türen und dieser Typ erschien. In Uniform, mit Sonnenbrille und Schirmmütze."