Pinochet habe ausgesehen "wie der Teufel", sagt der mittlerweile 71-Jährige. "Sein Gesichtsausdruck! So dreckig, so mies." Der Diktator sei auf die Nationalspieler zugekommen, um sie zu beglückwünschen.
"Als er bei mir ankam und vor mir stand, habe ich meine Hände auf den Rücken gelegt", berichtet Caszely. "Als er mir die Hand hinstreckte, habe ich ihm sie nicht gegeben." Stattdessen habe er Pinochet zur Rede gestellt. "Ich sagte zu ihm: 'Sie wissen doch von den Problemen mit den Bergleuten, den Gewerkschaftern, den Gefangenen, oder?"
Pinochets Reaktion fiel Caszely zufolge überraschend aus: "Er steckte sich die Finger in die Ohren und sagte: 'Reden Sie nicht davon, ich will davon nichts hören!' Es fühlte sich an, als würden tausend Stunden vergehen. Wahrscheinlich waren es nur zehn Sekunden. Dann ging er weiter."
Es sei seine Pflicht gewesen, begründet Caszely seine Entscheidung, Pinochet den Handschlag zu verweigern. "Ich spürte in meinem Rücken das ganze chilenische Volk, das unter Pinochet und seinem Terror litt. Ich bin kein gewalttätiger Mensch, ich kann mich nicht auf das Niveau von Mördern herablassen. Aber ich musste wenigstens sagen, was ich denke." Doch Caszelys Aufrichtigkeit sollte nicht ungestraft bleiben.
Pinochet-Regime lässt Caszelys Mutter verhaften
"Ein halbes Jahr später reiste ich aus Spanien in die Heimat, um meine freien Tage dort zu verbringen. Meine Familie holte mich am Flughaben ab. Doch es war anders als sonst", sagt der einstige Mittelstürmer. "'Ist etwas passiert?', fragte ich. Da begann meine Schwester zu schluchzen. Und mein Vater, der liebste Mensch der Welt, machte ein trauriges Gesicht. 'Wir erzählen es Dir zuhause, Carlito, nicht hier."
Zuhause angekommen, schilderte Caszelys Mutter ihrem Sohn, welch Grausamkeit ihr widerfahren war. "Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen, was ich dann erfahren musste, noch immer", sagt Caszely. "'Ich wurde festgenommen', sagte meine Mutter in ihrem Zimmer zu mir. 'Festgenommen und gefoltert.'"
Er habe das Ganze zunächst für einen geschmacklosen Scherz gehalten. "'Mama, hör auf!', sagte ich. 'Mit so etwas scherzt man nicht!' Dann drehte sie sich zum Licht und zeigte mir die Brandwunden an ihrer Brust. Sie nahm mich in die Arme, und ich weinte, wie ein Kind."
Pinochet und seine Schergen hatten Caszelys verweigerten Handschlag auf bestialische Weise sanktioniert, sich an dessen Mutter vergriffen. "Sie wollten mich bestrafen - und sie trafen mich am Schlimmsten, weil sie meiner Mutter Schmerzen zufügten."
WM-Novum: Carlos Caszely sieht Rot
Caszely spielte bei der WM in Deutschland dennoch für Chile. Im ersten Gruppenspiel, als die Südamerikaner auf den Gastgeber und späteren Weltmeister trafen, sorgte der Torjäger für ein Novum. Caszely, La Rojas bester und gefährlichster Spieler, sah in doppelter Hinsicht Rot.
Zunächst revanchierte er sich bei seinem renitenten Gegenspieler Berti Vogts für dessen harte Gangart, sprang dem DFB-Terrier von hinten in die Beine - und wurde dafür von Schiedsrichter Dogan Babacan mit der ersten Roten Karte der WM-Geschichte bedacht.
Deutschland gewann mit 1:0, Caszely verpasste die kommende, die politisch aufgeladene Begegnung - das Duell mit der sozialistischen DDR. Vor dem Spiel hatten sich chilenische mit deutschen Aktivist*innen, die sich solidarisch mit den Pinochet-Gegnern zeigten, bezüglich einer Protestaktion abgestimmt.
Carlos Caszely: "Wir müssen wachsam sein"
Drei Personen schafften es, die Barrikaden zu durchbrechen und das Spielfeld zu erreichen. "Chile si, Junta no"- "Ja zu Chile, nein zur Militärjunta", stand auf den großen Fahnen, von den Rängen skandierten die Unterstützer der Spontis die gleiche Parole.
Die Bilder gingen um die Welt, erreichten für einen kurzen Augenblick auch Chile, ehe das hiesige Fernsehen die "Störung" ausblendete. Pinochet regierte trotzdem noch viele Jahre mit eiserner Hand. Erst 1990, 17 Jahre nach einem wolkigen, kalten Septembertag, an dem das Schrecken Einzug erhalten hatte, endete seine Herrschaft und damit die Diktatur in Chile.
"Wir müssen wachsam sein. Es ist eine Geschichte, an die man sich erinnern muss", sagt Caszely und mahnt: "Damit so etwas nie wieder passiert." Die tragischen Geschichten Tausender, die Folter, die Qual - es ist alles noch präsent.