Dieser Artikel wurde erstmals im Oktober 2020 veröffentlicht.
Vladimiro Mimica erinnert sich noch genau an jenen verhängnisvollen 11. September 1973. "Es war ein wolkiger, ein kalter Tag", sagt der chilenische Journalist in der Arte-Dokumentation "Rebellen am Ball". Ein wolkiger Tag, an dem die Niedertracht Chile heimsuchte, ein kalter Tag, an dem La Moneda, der Präsidentenpalast, brannte. Ein Tag, den das sozialistische Staatsoberhaupt Salvador Allende nicht überleben sollte.
Hier begannen sie, die tragischen Geschichten Tausender. Hier begann die Unterdrückung, das staatlich angeordnete Foltern und Morden, Augusto Pinochets faschistische Schreckensherrschaft.
Drei Wochen, nachdem Pinochet von Allende (auf Anraten von dessen bisherigem Kommandanten Carlos Prats) zum Oberbefehlshaber des Heeres ernannt worden war, organisierte der General einen Militärputsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten, der am frühen Morgen über das Bestreben der Streitkräfte in Kenntnis gesetzt wurde.
Pinochet und seine Gefolgsleute forderten Allende zum Rücktritt auf, drohten mit der Bombardierung der Moneda, sollte der Präsident dem Verlangen nicht nachkommen. Allende weigerte sich, wusste aber bereits um die Konsequenzen, die sein Widerstand mit sich bringen würde.
Salvador Allende: Selbstmord statt Demütigung
"Mit Sicherheit ist dies die letzte Gelegenheit, mich an Sie zu wenden", sagte Allende um acht Uhr morgens in einer Radioansprache ans Volk und schob nach: "Mir bleibt nichts anderes, als den Arbeitern zu sagen: Ich werde nicht aufgeben! In diesem historischen Moment werde ich die Treue zum Volk mit meinem Leben bezahlen." Mit einem Kopfschuss, das ist mittlerweile wissenschaftlich erwiesen, tötete sich Allende selbst.
"Angesichts der extremen Umstände, die er erlebte, entschied er sich, aus dem Leben zu scheiden, bevor er gedemütigt wurde", bestätigte Allendes Tochter Isabel einen entsprechenden Expertenbericht im Jahre 2011.
Während der Präsident einer Festnahme zuvorgekommen war, wurden etliche seiner Anhänger am Tage des Putsches im Laufe des Jahres 1973 von Pinochets Truppen verhaftet.
Carlos Caszely: "Wir konnten es nicht verstehen"
"Es war bis zum Putsch eine tolle Zeit, vor allem für die Jugend", lässt der damalige Stürmerstar Carlos Caszely, der sich bei Colo Colo einen Namen gemacht hatte, die Ära vor Pinochets Machtübernahme bei "Rebellen am Ball" Revue passieren. "Es gab keine Schikanen, da war mehr Liebe." In einer Kolumne für 11Freunde schreibt er: "Wir hatten eine wunderbare Atmosphäre im Land. Es herrschte ein Geist der Freundschaft."
Ein Geist, der jäh zerstört wurde. "Dann war alles vorbei. Wir hörten im Radio: 'Achtung, Achtung, Flugzeuge bombadieren die Moneda!' Wir fragten uns, was passiert war", sagt Caszely. "Wir konnten es nicht verstehen. Ein Putsch? Dass ein Bruder einen anderen Bruder tötet, war unvorstellbar. Vor allem für diejenigen, die an die Demokratie geglaubt hatten."
Tatsächlich brach sich zur damaligen Zeit jedoch unvorstellbares Gräuel Bahn. Linke, darunter insbesondere Studenten, Fabrikbeschäftigte und Gewerkschafter, wurden an den Universitäten beziehungsweise an ihrem jeweiligen Arbeitsplatz festgenommen und in eigens für politisch Gefangene geschaffene Internierungslager verschleppt. Traurige Berühmtheit erlangte diesbezüglich vor allem das Estadio Nacional, Chiles größtes Fußballstadion in der Hauptstadt Santiago.
Stadion "wurde zu einem Konzentrationslager umfunktioniert"
"Wenn ich heute im Nationalstadion bin, vermischt sich in meinem Bewusstsein noch immer die Zeit vor dem Putsch mit der Zeit danach", erklärt Caszely. Er führt aus: "Die Erinnerung an all das Schöne, das wir vor 1973 hier erlebten - und an all das Schreckliche, das danach kam. Es wurde zu einem Konzentrationslager umfunktioniert! In den Kabinen wurden Oppositionelle gefoltert und ermordet."
Journalist Mimica, selbst Allende-Unterstützer, erlebte die Grausamkeiten, die sich im Nationalstadion zutrugen, am eigenen Leibe. "Ich war Gefangener hier. Unglaublich, wie sie dieses Stadion entweiht haben", sagt er.
Mimica ergänzt: "Wir schliefen direkt unter der Tribüne. Wir nannten das 'die Luke'. Alles war ungewiss, niemand wusste, was mit uns geschehen würde. Viele unserer Genossen, die zum Verhör abgeholt wurden, kehrten nie zurück. Hier trafen sich Leute, die sich nie zuvor gesehen hatten. Aber wir waren alle aus dem gleichen Grund hier: Wir waren Partisanen der Unidad Popular, wir waren Anhänger von Salvador Allende."
Laut Mimica wurde den Gefangenen eine Decke über den Kopf gelegt, sobald sie zum Verhör abgeholt wurden. "Du musstest dem Kameraden vor dir hinterherlaufen. Du hast komplett die Orientierung verloren und wusstest nicht, ob das Verhör im Velodrome oder im Stadion selbst stattfand. Ich weiß nicht, ob es auch nur ein einziges Verhör ohne Folter gab. Die Repression war äußerst brutal."
Vom Foltergefängnis zurück zum Fußballstadion
Ende November 1973, also nur knapp zweieinhalb Monate nach Pinochets gewaltsamer Übernahme des südamerikanischen Landes, sollte das Estadio Nacional wieder seinem eigentlichen Zweck dienen. Das Rückspiel der Qualifikation für die WM-Endrunde 1974 in Deutschland stand auf dem Programm.
Der Gegner: ausgerechnet die kommunistisch regierte Sowjetunion, für die Chile seit Pinochets Putsch als Klassenfeind galt. Im Hinspiel zwischen den beiden sportlichen wie politischen Kontrahenten hatte Chile der favorisierten UdSSR ein torloses Remis abgetrotzt.
Für das anstehende zweite Aufeinandertreffen brachte das Pinochet-Regime die Inhaftierten in anderen Gefängnissen unter, ohne zu ahnen, dass die Partie als eine der größten Absurditäten in die Fußballgeschichte eingehen würde. "Am Samstag um Mitternacht erfuhren wir, dass die russische Mannschaft nicht kommen würde", sagt Caszely. "Das war das Skurrilste, das ich jemals erlebt habe. Wir kommen auf das Spielfeld - und da ist niemand, keine gegnerische Mannschaft."