Im Sommer hieß es beim FC Barcelona, Gavi wäre ein Kandidat für Barcelona B, die zweite Mannschaft der Katalanen. Dann wäre er nach seinem Geburtstag im August wenigstens 17 Jahre jung und könnte - wenn alles optimal laufe - ein ständiges Mitglied jenes Teams sein, das der Teenager ab und zu schon verstärkt hatte. In der dritten Liga, für den geschmeidigen Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenfußball.
Jetzt, im Herbst, nur wenige Wochen später, ist Pablo Martin Paez Gavira Nationalspieler von Spanien. Nicht in der U19 oder U21, sondern bei den Großen. In der Furja Roja. Und mit 17 Jahren und 62 Tagen der jüngste Spieler in der Geschichte des Verbands.
Gavi: Neuer Stern am Fußballhimmel
Am Mittwochabend im San Siro spielte Gavi gegen Giorgio Chiellini, Leonardo Bonucci, gegen Jorginho und all die anderen italienischen Europameister. Gavi gab sein Debüt nicht in einem beliebigen Testspiel irgendwo in der Provinz, sondern im Halbfinale der Nations League, im Stadion des amtierenden Europameisters, gegen einige der besten Spieler der Welt - und er ragte aus dieser Ansammlung an Top-Stars tatsächlich trotzdem heraus.
Aus dem Nichts glänzte ein neuer Stern am Fußballhimmel, der selbst in seiner Heimat den meisten Fans nahezu unbekannt sein dürfte. Im Getose um den kriselnden und schwer taumelnden FC Barcelona, der im Moment sehr viele, sehr bedrückende Geschichten schreibt, ging die Ankunft des Teenagers sehr leise über die Bühne. Die großen Themen sind derzeit andere, die Finanzen, die sportliche Malaise, Trainer Ronald Koeman und natürlich Messi, Messi, Messi. Da bleibt wenig Platz für die ersten Spiele eines 17-Jährigen.
Enrique über Gavi: "Es ist unnormal, dass er so spielt"
Umso erfreulicher, dass Luis Enrique offenbar vor einigen Monaten schon wusste, wer da in Barcas zweiter Mannschaft versteckt schlummerte. Und wer für die Zukunft des spanischen Fußballs noch von größter Bedeutung werden könnte. Enrique wurde durchaus schroff attackiert, als er seinen Kader für die Nations-League-Finals bekanntgab und sich darunter wie aus heiterem Himmel der Name Gavi fand.
Der hatte bei den Profis noch keine 400 Spielminuten auf dem Buckel und gab Ende September überhaupt erst sein Startelfdebüt für die Blaugrana. Und mit diesem Greenhorn, so begabt es auch sein möge, wollte Enrique tatsächlich gegen Italien bestehen? Er wollte. Und er lag mit seiner ebenso eigenwilligen wie mutigen Entscheidung offenbar völlig richtig.
"Es war klar, dass es sein erstes Spiel ist, aber wir kennen ihn gut. Es ist unnormal, dass er so spielt", sagte Enrique nach dem Spiel, das Spanien mit 2:1 gewann und den Italienern die erste Niederlage nach drei Jahren beibrachte. "Er ist ein Spieler mit Persönlichkeit, beneidenswerter Physis und er verkörpert unseren Spielstil. Man konnte sehen, dass er nicht die Zukunft der Nationalmannschaft ist. Er ist die Gegenwart!"
Gavi spielte wie ein Welt-Star
Vielleicht hat Enrique ein wenig dick aufgetragen, vielleicht musste er diese Sätze aus reinem Selbstschutz und um sich die verspätete Legitimation seiner kontroversen Entscheidung einzuholen, auch so formulieren. Aber im Grunde - und wenn man Gavi übers Feld fliegen sah - darf man Enrique vollumfänglich Recht geben.
Gavi spielte inmitten der Welt-Stars wie ein Welt-Star: Flink mit dem Beinen, unglaublich schnell im Kopf. Gedanklich immer zwei Schritte voraus, unglaublich resistent gegen jegliche Art des italienischen Pressings. 20 Mal stürzte sich Gavi in ein direktes Duell, ob mit oder ohne Ball am Fuß. Kein anderer Spieler auf dem Platz nahm es häufiger mit seinen Gegnern auf. Marco Verratti nahm er in Manndeckung und fast komplett aus dem Spiel.
Gavi zeigte dabei auch sehr erstaunliche Defensivqualitäten, fing mehrere gefährliche Steckpässe ab, verhinderte nach einer schlauen Freistoßvariante eine gute Chance der Italiener und grätschte überaus beherzt durchs Mittelfeld. Und das alles in seinem erst achten Einsatz überhaupt in einer Profimannschaft. Spanien Zeitungen waren am Donnerstag voll mit Huldigungen, und selbst das Fachblatt Marca fragte halb verdutzt, halb rhetorisch: "Wo bist du denn hergekommen?"
Franc Artiga: "Er ist technisch unglaublich gesegnet"
Seit sechs Jahren wird Gavi in La Masia ausgebildet, geboren ist der Junge in Los Palacios y Villafrance, einem kleinen Städtchen in der Peripherie Sevillas. In La Masia wissen sie schon länger, welches ungeheure Potenzial in Gavi schlummert und dass es im Prinzip nur den oder die richtigen Trainer benötigte, dieses auch zu erwecken.
"Er ist technisch so unglaublich gesegnet", sagte Gavis früherer Trainer Franc Artiga im Sommer im Gespräch mit Goal. "Er hat die Fähigkeit, sich in ein paar Zehntelsekunden völlig umzuorientieren und unter allen Bedingungen zu improvisieren. Es ist sehr schwer, einen Spieler mit diesen Fähigkeiten und dieser Entscheidungsfindung zu finden."
Gavi sei unglaublich ehrgeizig und fast schon übermotiviert in manchen Dingen, habe sich diese Verbissenheit aber in den letzten Monaten ein wenig abtrainiert, so Artiga.
Mehr als ein Hoffnungsträger für den FC Barcelona
In La Masia hatte der Spieler einfach zwei Altersklassen übersprungen, wurde von der U17 sofort zur U19 hoch geschickt. Nun übersprang er - wenn man so will - die Karriere bei den Barca-Profis und landete unvermittelt sofort in der Nationalmannschaft.
Nun muss seine Entwicklung mit dem rasanten Aufstieg durch die Mannschaften nur noch mithalten. Früher habe er alles mit seinem Instinkt gelöst, mit der Zeit sollte die nötige Erfahrung dazu kommen und aus einem hochtalentierten Spieler dann einen Weltklassespieler machen. So hofft es jedenfalls sein ehemaliger La-Masia-Coach.
Die Vorzeichen dafür scheinen perfekt. Und für den FC Barcelona reift da aktuell ein weiterer Hoffnungsträger in dunkelster Nacht heran. Denn so dramatisch die Gemengelage im Klub auch sein mag, die sportliche Perspektive des aktuellen Kaders ist besser als es sie die aktuellen Ergebnisse ausweisen. Mit Yusuf Demir, Pedri, Ansu Fati (alle 18 Jahre jung) und Gavi ist die Offensive der Blaugrana herausragend besetzt.