"Can wird Gerrards Nachfolger"

Haruka Gruber
04. März 201515:26
Emre Can kämpft beim FC Liverpool an der Seite von Steven Gerrardgetty
Werbung

Das ist mal ein Statement: Steffen Freund, ehemaliger DFB-Nationalspieler und Junioren-Bundestrainer, zeigt sich begeistert von Emre Can - und sieht in ihm den nächsten Liverpool-Superstar. Zu Felix Magath hält er sich nach der "Katastrophe" lieber zurück. Freund über die Faszination England, das legendäre Spurs-Team um den unterschätzten David Ginola und Harry Kane, die Sensation der Premier League.

SPOX: Herr Freund, zum Jahreswechsel traten Sie einen kleinen Internet-Hype los, nachdem Sie bei der Darts-WM in London im Teletubby-Kostüm zu sehen waren. Sind Sie ein echter Darts-Fan?

Steffen Freund: Schon vor zehn Jahren, als ich bei den Tottenham Hotspur war, wollte ich unbedingt zur Darts-WM. Leider hat es damals nie geklappt, aber ich verfolgte die Darts-WM seither im Fernsehen und war begeistert von der Stimmung und der positiven Art, wie jeder Spieler gefeiert wurde. Zu der Zeit wurde Darts in Deutschland noch belächelt, doch mittlerweile versteht auch hier jeder, wie professionell diese Sportart ist und welchen Druck die Spieler aushalten müssen. Daher hatte ich es seit Jahren im Hinterkopf, mit der Familie den Ally Pally zu besuchen - und wir wurden nicht enttäuscht. Wir waren live dabei, als Adrian Lewis den Neun-Darter warf und das Dach beim Jubel fast abhob. Dabei ist Darts im Ally Pally mehr als nur Spitzensport. Es ist gleichzeitig eine riesige Party! Eigentlich in Deutschland nur mit dem Karneval zu vergleichen.

SPOX: Ihre Darts-Leidenschaft spiegelt Ihre Affinität zu England wider?

Freund: Deutsche können auch gut feiern, wobei die englische Mentalität etwas ganz Besonderes ist. Die Engländer nehmen es insgesamt lockerer. Die Darts-WM steht stellvertretend für ein Lebensgefühl, das mir gefällt. Deswegen bin ich so gerne in England.

Steffen Freund (r.) arbeitet als Internationaler Technischer Koordinator bei den Tottenham Hotspurgetty

SPOX: Sie sind weiterhin für die Tottenham Hotspur tätig, obwohl der komplette Trainerstab vom neuen Teammanager Mauricio Pochettino ausgetauscht wurde. Was machen Sie genau?

Freund: Der Alltag ist mittlerweile ruhiger. Als Co-Trainer unter Andre Villas-Boas und Tim Sherwood war ich ins tägliche Training voll eingebunden. Mauricio hingegen hat sein eigenes Trainerteam mitgebracht, was verständlich und legitim ist. Seitdem bin ich weg vom ersten Team und habe den Posten "Internationaler technischer Koordinator" übernommen. Ich bin viel unterwegs und repräsentiere die Spurs. Ich war bereits zweimal in China, um dort die Toptalente des Landes zu scouten und die Zusammenarbeit mit unserem Hautsponsor AIA zu intensivieren. Es gibt in China auch ein gemeinsames TV-Projekt, bei dem die Spurs gemeinsam mit Inter Mailand die Talente von morgen suchen. Der Markt in Asien ist ein sehr wichtiger Bestandteil unseres Geschäfts.

SPOX: Sie wurden in die Hall of Fame des Klubs berufen und sind Kult bei den Spurs-Fans, weil Sie ein Vorbild an Einsatz waren. Halb scherzend, halb ehrfurchtsvoll sprach Sie Ihr damaliger Teamkollege David Ginola immer mit "Arbeit" an. Wie war Ihr Verhältnis?

Freund: Ich habe David zuletzt in China wiedergesehen. Er ist ein extremer Individualist, aber mit großem Herz und gutem Charakter. Er nannte mich immer "Arbeit", weil ich immer von ihm wollte, dass er defensiv mehr investiert. Auf der anderen Seite habe ich offensiv nicht so viel beigetragen, wie es sich David gewünscht hat. Wir haben uns bei allen Unterschieden immer sehr respektiert.

SPOX: Was dachten Sie sich, als Ginola seine Kandidatur für das FIFA-Präsidentenamt bekanntgab, nur um zwei Wochen später wieder zurückzuziehen?

David Ginola: Seine beste Rolle

Freund: Er hatte zwei Wochen Zeit, die Unterstützung von fünf nationalen Fußball-Verbänden nachzuweisen. Dass das nicht gelingt, war absehbar, daher musste er auch zurückziehen. Anders als einige andere Beobachter glaube ich schon, dass es David mit der Kandidatur dennoch ernstgemeint hat. Es zeigt gleichzeitig, dass David weiter seinen Platz im Fußball sucht. Er muss sich Gedanken machen, was er wirklich will, und das konsequent verfolgen. Dann wird er seinen Platz finden, sei es bei einem Verein oder bei einem Verband.

SPOX: Ginolas Rastlosigkeit nach der Karriere: Ist sie ein Spiegel für seine aktive Laufbahn? Er galt immer als äußerst talentiert, trotzdem spielte er nie für einen großen Klub und zählte nie zu den Superstars.

Freund: Nein, das darf man nicht vermischen. Er war zu seinen aktiven Zeiten schon ein Typ, der mit vielen aneinandergeriet. Doch was viele unterschätzen: Er war ein wirklich grandioser Fußballer. Er war der Größte, mit dem ich je zusammengespielt habe. Es war unfassbar, wie er mühelos eine Begegnung komplett alleine entscheiden konnte. Das, was Cristiano Ronaldo und Lionel Messi heute sind, war damals David. Ich sehe ihn auf dem gleichen Niveau wie die beiden. Einige können sich das nicht mehr vorstellen, aber er war zu seinen besten Zeiten nicht nur ein Techniker, sondern auch ein physisch unglaublich robuster und starker Spieler, der locker an fünf Leuten vorbeiging. Ich bewunderte an ihm gar nicht so die Technik, sondern die Dynamik, die er entwickeln konnte.

SPOX: Ein weiterer Exot, den Sie bei Tottenham kennenlernten, war der Schweizer Innenverteidiger Ramon Vega. Ähnlich exzentrisch wie Ginola, dafür fußballerisch nicht so begnadet.

Freund: Ich weiß noch, wie ich ihm 1995 erstmals begegnet bin, lange bevor wir uns bei Tottenham wiedersahen: Es war ein Freundschaftsspiel zwischen der Schweiz und Deutschland und da wurde dieser langhaarige Koloss eingewechselt und ich dachte nur: "Der kann niemals ein Schweizer sein!" Dann trafen wir uns bei den Spurs wieder - und ich werde Ramon für immer dankbar sein, wie er in der schwierigen Anfangszeit immer zu mir stand. Ich konnte nur wenige Brocken Englisch, weil ich ja in Ostdeutschland aufgewachsen war, entsprechend hart war es, in London Fuß zu fassen. Ramon half mir in der Zeit als Übersetzer und wir hatten viel Spaß. Und fußballerisch sollte man ihn nicht unter Wert verkaufen: Seine Karriere war vielleicht nicht so glanzvoll wie die von David oder so erfolgreich wie meine - trotzdem war er ein sehr guter Innenverteidiger.

Ramon Vega im Interview: Der Milliarden-Mann

SPOX: Was bei Vega ungewöhnlich war: sein breit gefächertes Interesse. Als Fußballer modelte er für Vivienne Westwood und bildete sich als Wirtschaftsexperte fort. Seit dem Rücktritt arbeitet er erfolgreich als Investmentbanker.

Freund: Ich freue mich riesig, dass er ein zweites Standbein gefunden hat. Das ist mit das Schwierigste überhaupt für einen Fußballprofi. Was jeder wissen muss: Man muss bereit sein zu lernen, egal wie erfolgreich man früher war. Daher ist Ramon ein gutes Vorbild für alle. Ich habe auch relativ früh die B-, und A-Trainerlizenz in Angriff genommen, weil ich wusste, dass ich im Trainer-Bereich wieder ein Anfänger bin und die Erfolge als Spieler nur begrenzt zählen.

Seite 1: Freund über seine Darts-Leidenschaft, seinen neuen Job und David Ginola

Seite 2: Freund über Magaths Scheitern, Cans Zukunft und Kanes Qualitäten

SPOX: Sie waren als Jugendtrainer verantwortlich für die U16 und U17 des DFB, dann wurden Sie beim Profi-Team der Spurs Co-Trainer - und sind nun Internationaler Technischer Koordinator. Wo sehen Sie sich zukünftig? Weiter in der Premier League?

Freund: Aufgrund meiner Erfahrungen als Spieler, Trainer und jetzt als Koordinator kann ich als Cheftrainer, aber auch als Sportdirektor Verantwortung übernehmen. Ich weiß, dass ich beides beherrsche und mit Inhalten ausfüllen kann. Sollte sich eine Möglichkeit ergeben, hätte ich nichts dagegen, weiter in England tätig zu sein. Ich weiß, worauf es in der Premier League ankommt, vor allem für Ausländer. Es geht darum, die englische Mentalität zu verstehen und sich darauf einzulassen. Viele Dinge werden hier lockerer gesehen. Wenn man beispielsweise im Stau steht und deswegen zu spät beim Training auftaucht, ist das keine große Sache. Man zahlt die Strafe, es ist vergessen und daraus entsteht kein Ballyhoo in den Medien.

SPOX: Welche Auswirkungen hatte Felix Magaths erfolgloses Wirken bei Fulham auf das Ansehen deutscher Trainer im Allgemeinen?

Freund: Für Felix Magath war es eine sehr schwierige Konstellation. Er war bei Fulham der dritte Trainer in einem halben Jahr und als er kam, war die Mannschaft Letzter der Premier League. Und wer die Liga kennt, der weiß, wie hart der Wettbewerb in der Breite ist und wie schwierig es ist, ein Team nach oben zu führen. Daher ist es keine Schande, dass ihm die Rettung, anders als in Bremen, Frankfurt oder Stuttgart, nicht glückte. In der englischen 2. Liga lief es dann sportlich leider katastrophal für ihn.

SPOX: Etwas überraschend etablierte sich hingegen Emre Can beim FC Liverpool - und das in ungewohnter Position als Verteidiger. Sie trainierten ihn bei der deutschen U17 und wurden mit ihm als Kapitän EM-Zweiter und WM-Dritter. Wie bewerten Sie seinen Werdegang?

Emre Can: Der frühreife wird erwachsen

Freund: Jeder denkt, dass die Position als Innenverteidiger in der Dreierkette ganz neu wäre für Emre. Aber er hat sie schon in der Landesauswahl Hessen gespielt und ist dann erst ins zentrale Mittelfeld gerutscht. Er war immer eher ein spielstarker Verteidiger als ein offensiv denkender Mittelfeldspieler, daher hatte ich gehofft, dass er eine solche Chance in Liverpool bekommt. Ihm kommt nun seine Vielseitigkeit zugute. Perspektivisch sehe ich ihn im zentralen Mittelfeld. Die Fähigkeiten prädestinieren ihn dazu. Zurzeit spielen dort zwar Steven Gerrard, Jordan Henderson, Lucas und Joe Allen, trotzdem sehe ich nächste oder spätestens übernächste Saison Emre als die neue Nummer acht von Liverpool - und damit als Gerrards Nachfolger.

Die Opta-Statistiken von Steven Gerrard und Emre Can der PL-Saison 2014/15

SPOX: Das mittlerweile heißeste Stürmer-Talent der Premier League heißt Harry Kane - und spielt bei Tottenham. Sie haben ihn selbst noch trainiert. Hätten Sie gedacht, dass Kane, der nie zu den Wunderkindern zählte, derart explodieren würde? Alleine in den letzten elf Liga-Spielen erzielte er zwölf Treffer.

Freund: Als ich 2012 bei Tottenham anfing, kehrte er gerade als U19-Nationalspieler zurück von der EM und startete verspätet in die Saison-Vorbereitung. Er spielte schon damals mit viel Herz und einer hohen Arbeitsmoral, doch er war noch zu jung und nicht gut genug. Daher liehen wir ihn nach Norwich und Leicester aus. Als er ein Jahr später wieder bei uns anfing, sahen wir einen anderen Harry Kane. Er erhielt in Norwich und Leicester nicht durchgängig seine Einsätze, trotzdem trat er wie ein gestandener Spieler auf, dem anzusehen war, dass er sich weiterentwickelt hatte. Vor allem seine Abschlusstechnik hatte sich enorm verbessert. Davon profitiert er jetzt: Er triff aus fünf, zehn oder 20 Metern, egal ob mit dem rechten oder linken Fuß. Seine saubere Schusstechnik ist die größte Stärke. Das sah man an seinem ersten Tor beim 5:3 gegen Chelsea, als er aus 23 Metern genau in die untere linke Ecke traf. Dazu hat er die Freistoß-Technik gelernt, um dem Schuss einen Topspin zu geben, sodass der eigentlich zu hoch geschossene Ball kurz vor dem Tor herunterfällt.

Harry Kane: Wie ein junger Thomas Müller

SPOX: Was für ein Stürmertypus ist Kane? SPOX

Freund: Ein klassischer Mittelstürmer, der im Sprint nicht der Allerschnellste ist, stattdessen im Strafraum die Körpernähe zum Verteidiger sucht und sich in ihn reindreht. Aber was spannend ist: Harry kann dank seiner Lauffreudigkeit auch hängend spielen. Das ist ein großer Vorteil für Mauricio Pochettino, weil er so bei einer offensiveren Aufstellung Roberto Soldado oder Emmanuel Adebayor als Neuner und Kane als Zehner dahinter aufstellen kann.

SPOX: Wie sehen Sie Kanes Rolle für die englische Nationalmannschaft?

Freund: In England werden gerade zwei Stürmer hoch gehandelt: Kane und Saido Berahino von West Brom. Anders als Berahino hat Kane in der Europa League bereits bewiesen, dass er internationales Format besitzt. Daher ist es für Nationaltrainer Roy Hodgson eine sehr wichtige Nachricht, dass er neben Wayne Rooney und Daniel Sturridge, der sehr lange verletzt war, plötzlich einen oder zwei gute Stürmer dazubekommt.

Seite 1: Freund über seine Darts-Leidenschaft, seinen neuen Job und David Ginola

Seite 2: Freund über Magaths Scheitern, Cans Zukunft und Kanes Qualitäten