SPOX: Herr Guidolin, Ihr Team hat in Italien aufgrund der spektakulären Spielanlage die Bezeichnung "Das kleine Barcelona" abbekommen.
Francesco Guidolin: Dieses Etikett ist übertrieben. Der FC Barcelona ist die Perfektion. Solche Mannschaften entstehen vielleicht alle 40 Jahre. Die letzten, die auf diesem Niveau mithalten konnten, waren Arrigo Sacchis Milan, Johan Cruyffs Ajax und die Niederlande jener Zeit. Vielleicht auch noch das ungarische Nationalteam von 1956, aber damals war ich gerade erst auf der Welt. Es ist schwer, vergleichbares zu finden. Vielleicht ist dieses Team besser, als alle vorhin aufgezählten. Wir ähneln Barca insofern vage, da auch wir aufgrund unserer kleinen und schnellen Angreifer über die Schnelligkeit unserer Aktionen zu Torchancen kommen. Das ist aber die einzige Ähnlichkeit. Wir sind einfach nur Udinese, Barca ist die Perfektion.
SPOX: Was beeindruckt Sie am meisten an Barca?
Guidolin: Das komplette Programm: Ihr Auftreten bei Ballbesitz und ohne, ihre Ruhe, ihr dominantes Spiel, die Leichtigkeit, mit der sie sich Torchancen erarbeiten, die Fantasie. Sie bringen einfach alles mit. Alles.
SPOX: Hat dieses Barca eine neue Ära im Fußball eingeleitet?
Guidolin: Das glaube ich nicht. Dieses Team wird einfach von einer magischen Chemie getragen, die man nur schwer erklären und nicht nachahmen kann. Klar spielt die Cantera eine Rolle, die Spieler, die schon als Kinder zusammen waren. Barca arbeitet ja schon länger so, war aber noch nie so stark wie heute. Ich glaube, dass das gleichzeitige Aufeinandertreffen mehrerer Faktoren diesem Phänomen zugrunde liegt: Eine Gruppe von fantastischen Spielern, eine herausragende Schule, ein ruhiges Umfeld, ein sehr guter Trainer und Lionel Messi. Denn wenn Messi fehlt, ist auch dieses Barca nicht dasselbe. Trotzdem ist für mich Xavi das wahre Genie dieser Mannschaft.
SPOX: Was war das Geheimnis Ihres Teams?
Guidolin: Aus technischer Sicht auf jeden Fall die Qualität der Mannschaft. Ich habe gleich erkannt, dass das Team stark ist und großes Potenzial hat. Aus taktischer Sicht haben wir das Spielsystem relativ früh verändert und dadurch unsere besten Spieler aufgewertet. Von Antonio Di Natale über Alexis Sanchez, der in zentraler Position herausragend wurde, hin zu Pablo Armero und Mauricio Isla, die als unsere Außenspieler eine wichtige Rolle innehatten, und unserem zentralen Dreier-Mittelfeld um Ghökan Inler, Giampiero Pinzi und Kwadwo Asamoah. Als wir uns aufeinander eingestellt hatten, haben wir einen unterhaltsamen und spektakulären Spielstil aufgezogen, der uns bis auf Rang vier gebracht hat.
SPOX: Und Ihrer Mannschaft auch den Titel "Schönster Fußball Italiens".
Guidolin: Ich denke, dass wir uns diesen Titel redlich verdient haben. Wir haben einige mitreißende Vorstellungen geboten: Das 4:4 gegen Milan in Mailand, das 7:0 in Palermo, das 4:0 in Cagliari oder das 4:2 in Genua. Auch wenn wir nicht gewonnen haben, wie zum Beispiel beim 2:3 in Rom gegen Lazio. Trotz der Pleite war es eines unserer besten Spiele überhaupt, wir haben uns damals 15 Torchancen erarbeitet.
SPOX: Oft entstand der Eindruck, Ihr Team laufe doppelt so viel wie der Gegner.
Guidolin: Wir haben in der Tat körperlich sehr starke Spieler, die perfekt vorbereitet worden sind. Besonders in der zweiten Halbzeit waren wir eigentlich allen Teams läuferisch überlegen.
SPOX: Dabei sah es zu Beginn schlecht aus: Sie sind mit vier Niederlagen in Serie in die Saison gestartet.
Guidolin: Ja, wir haben schlecht begonnen, weil wir erst zueinander finden mussten. Ich war neu und wir haben auf dem Feld einfach zuviel zugelassen. In den ersten vier Partien haben wir mindestens drei, vier Punkte liegen lassen. Langsam aber sicher haben die Spieler dann verstanden, was ich will und was sie zu tun haben. Wir wollten weiter guten Fußball spielen, dabei aber konkreter agieren. Das ist uns gelungen und so hat unsere mitreißende Aufholjagd begonnen.
SPOX: Wie wichtig war in der schwierigen Anfangsphase der Verein? Es sind schon Trainer geflogen, die vier Spiele zu Beginn verloren haben...
Guidolin: Es steht außer Frage, dass der Klub viel Geduld gehabt und weise agiert hat. Sicherlich hat dazu beigetragen, dass wir uns schon kannten: Ich hatte zwölf Jahre zuvor schon in Udine gearbeitet und den Verein in den UEFA-Cup geführt. Der Klub hat gut daran getan, an unser Projekt zu glauben.
SPOX: Jetzt werden Ihre Spieler, allen voran Sanchez, Inler und Asamoah, mit einigen Topklubs in Verbindung gebracht. Hand aufs Herz: Wie sehr stört Sie das?
Guidolin: Jetzt gar nicht mehr. Während der Saison, so dachte ich, könnte das die Spieler vielleicht ablenken. Aber meine Jungs haben sich auch in diesem Zusammenhang vorbildlich benommen. Sie haben es sich verdient, dass nun die Augen der Topklubs auf sie gerichtet sind. Ein Teil von mir ist stolz darauf, weil das eine Bestätigung für unsere gute Arbeit ist. Auf der anderen Seite hoffe ich natürlich, dass ich sie alle wieder bei mir haben werde. Aber ich weiß leider, dass das nicht möglich sein wird.
SPOX: Was macht Udinese zu einem so speziellen Verein?
Guidolin: Ich fühle mich in Udine äußerst wohl, weil ich mich mit der Art und Weise der Menschen im Friaul identifiziere. Sie müssen wissen: Ich stehe Italien in allen Bereichen sehr kritisch gegenüber. Ich richte meinen Blick Richtung Norden, wenn es um die Lebensorganisation und die des Fußballs geht - und in Udine fühle ich mich ein bisschen wie im Ausland. Es gibt weniger Druck und Anspannung, man kann in Ruhe arbeiten, der Verein ist sehr gut organisiert und man hält sich an die Regeln. Dazu noch die Arbeit mit jungen Spielern: Das alles gefällt mir sehr.
SPOX: Aus mehreren Interviews geht hervor, dass sie ein großer Bundesliga-Freund sind.
Guidolin: Als ich zwischen 2005 und 2007 Palermo trainiert habe, war ich ein Bewunderer von Werder Bremen. Das Team von Thomas Schaaf, mit Diego als herausragendem Akteur, gefiel mir sehr. Ich habe damals bereits gesagt, dass der deutsche Fußball auf dem Vormarsch ist. Für mich ist es die Fußballbewegung, die sich in den letzten zehn Jahren am meisten weiterentwickelt hat.
SPOX: Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Guidolin: Es wurden die richtigen Entscheidungen getroffen und normalerweise wird man dafür belohnt, wenn man gut arbeitet. Mir gefallen die einladenden Stadien, die stark forcierte Jugendarbeit und dass die Liga aus 18 Vereinen besteht, nicht wie in Italien aus 20. Die Vereine arbeiten gründlich, keiner übernimmt sich finanziell, und sie bauen sehr auf die Jugend. Jetzt, wo Deutschland uns in der Fünfjahreswertung überholt hat, wird das auch anderen in Italien bewusst. Ich identifiziere mich mit dieser Art und Weise. Ich stehe auf präzise Regeln, das gegeben Wort, Organisation und auf langfristig angelegte Projekte. Ich bin so und deshalb würde es mir gefallen, in Deutschland zu arbeiten.
Seite 2: Guidolin über Italiens Probleme - nicht nur im Fußball - und den FC Bayern