Die spanische Sportpresse kennt für gewöhnlich nur Superlative. Im Positiven wie im Negativen. Es ist noch gar nicht lange her, da hatte der Journalist Cristobal Soria einen skurrilen Auftritt in der nächtlichen Talkshow El Chiringuito de Jugones.
Soria, bekennender Anti-Madridista mit einem Hang zur Selbstinszenierung, stellte sich an ein Mischpult und begann zu dem Hit "El Anillo" (auf Deutsch: Der Ring) von Jennifer Lopez zu singen. Allerdings dichtete er den Refrain des Popsongs, in dem Lopez einen unbekannten Liebhaber zu einem Heiratsantrag auffordert, um. Statt "¿Y el anillo pa' cuando?", also "Wann gibt's den Ring?", trällerte Soria mit einem gehässigen Grinsen: "¿Y Vinicius pa' cuando?". Wann spielt Vinicius?
Vom Verspotteten zum Hoffnungsträger
Die spöttische Einlage des Journalisten ging viral, wurde auf YouTube über eine Million Mal aufgerufen. Der Leidtragende: Vinicius Jose Paixao de Oliveira, ein 18-jähriger Knabe aus Brasilien. Soria fand es offenbar recht amüsant, dass Real Madrid diesen Vinicius für nicht weniger als 45 Millionen Euro vom Clube de Regatas do Flamengo aus Rio de Janeiro losgeeist hatte, um ihn dann nur im Reserveteam in der dritten Liga einzusetzen.
Das war Ende September. Eine Zeit, in der so ziemlich jeder, der es nicht mit den Königlichen hält, viel zu lachen hatte. Damals tat sich Reals erfolgsverwöhntes Starensemble selbst gegen Gegner wie Viktoria Pilsen oder ZSKA Moskau schwer. Der Großteil der Fangemeinde begann den Abgang von Rekordtorjäger Cristiano Ronaldo, den Präsident Florentino Perez für etwa das Doppelte von Vinicius' Preis an Juventus Turin abgegeben hatte, bereits als größten Fehler der jüngeren Vereinsgeschichte auszumachen. Auch, weil eben kein wirklicher Ersatz für Ronaldo gekommen war. Kein Neymar. Kein Kylian Mbappe. Kein Eden Hazard.
Was soll dieser Vinicius, dieser Junge mit Zahnspange nach ein paar netten, mehr von Übersteigern statt Zählbarem geprägten Darbietungen in der brasilianischen Liga schon auf dem höchsten europäischen Level anrichten? So dachte Soria, so dachte der allgemeine Fußballfan auf der iberischen Halbinsel.
Heute, Anfang Februar, würde es Soria wohl kaum wagen, sich noch einmal an ein Mischpult zu stellen und sein Vinicius-Lied zu singen. Oder besser ausgedrückt: Würde er das tun, würden die Leute nicht über Vinicius lachen, sondern über ihn. Vinicius wird von der spanischen Presse mittlerweile nämlich als "Wunderkind", "Hoffnungsträger" und "Delikatesse" gefeiert.
Solari schwärmt von Vinicius: "Macht Freude"
Der Teenager ist neben Karim Benzema der formstärkste Spieler des Champions-League-Siegers und federführend für den Leistungsaufschwung der Blancos seit dem Jahreswechsel. Auch vor dem Pokal-Clasico gegen Barca (ab 21 Uhr im LIVETICKER und LIVE auf DAZN) stellt sich nicht die Frage, ob Vinicius spielt. Es stellt sich die Frage, wer für ihn auf die Bank muss. Gareth Bale, Marco Asensio und Lucas Vazquez streiten sich um einen Platz auf dem rechten Flügel. Der linke gehört dem brasilianischen U20-Nationalspieler. "Niemand hätte sich vorstellen können", sagt Vinicius, "dass ich nach sechs Monaten in Madrid so oft von Anfang an spiele."
Jugendlicher Unbekümmertheit und fußballerischer Fantasie, aber auch Santiago Solari sei Dank. Der Ende Oktober vom Trainer der zweiten zum Verantwortlichen der ersten Mannschaft beförderte Argentinier traute sich im Gegensatz zu seinem Vorgänger Julen Lopetegui, Vinicius Schritt für Schritt mehr Einsätze bei den Profis zu gewähren.
Unter Lopetegui hatte der Rechtsfuß gerade einmal zwölf Profiminuten bestritten. Inzwischen hat er 1099 auf seinem Konto. "Er ist noch kein gemachter Fußballer. Mit seinen 18 Jahren hat er noch einiges zu lernen. Aber er hat auch Dinge an sich, die man nicht lernen kann. Er ist sehr schwer, ihn mit anderen Spielern in seinem Alter zu vergleichen. Sein Fußball macht einfach Freude", meint Solari.
Dass Vinicius seinen Vorgesetzten schon im Reserveteam von seinem Talent überzeugen konnte und Bale und Asensio vor dem Jahreswechsel verletzt ausfielen, war sicherlich hilfreich, jedoch nicht entscheidend für seinen Durchbruch. Entscheidend war und ist vielmehr seine furchtlose Motivation, in einer nach drei Champions-League-Triumphen in Folge zum Großteil erfolgssatten Mannschaft etwas Positives zu bewegen. Er kam, sah und siegte, als Solari ihn von der Leine ließ.
Kein Alkohol, keine Partys: Vinicius "mental sehr frisch"
"Man wünscht sich einfach, dass er immer den Ball bekommt, weil er etwas Unvorhergesehenes mit ihm anstellen kann. Vinicius ist der jüngste Beweis dafür, dass großartige Fußballer süchtig machen können", schrieb Real-Legende Jorge Valdano jüngst in seiner Kolumne für die Tageszeitung El Pais.
Mit seiner alternativen, auf Überraschungsmomente im Eins-gegen-Eins und für einen Ballvirtuosen erstaunlicher Mannschaftsdienlichkeit gemünzten Spielweise (3 Tore und 10 Vorlagen in 20 Partien) hat er nicht nur die Herzen der Experten und der ohne Showman Ronaldo schnell gelangweilten Fans im Estadio Santiago Bernabeu im Eiltempo erobert. Seine Kollegen geraten ins Schwärmen, wenn sie von ihm sprechen, loben neben seinen fußballerischen Fähigkeiten auch immer wieder seine geistige Reife. "Er ist mental sehr frisch, sehr lern- und wissbegierig", so Solari.
Nach den meisten Spielen gibt "Vini", wie ihn seine Mitspieler liebevoll nennen, sogar schon in gutem Spanisch Interviews. Alkohol trinkt er nach eigenen Angaben nicht, Diskobesuche sind für ihn ebenfalls tabu. "Es ist ein Traum und ein Privileg, hier zu spielen. Ich komme aus einer sehr einfachen Familie und ich bin sehr stolz auf alles, was sie für mich gemacht haben und die Werte, die sie mich gelehrt haben", sagt er.
Elber warnt Vinicius: "Noch sehr unerfahren"
Fragt sich nur, ob er widerstandsfähig genug ist, um seinem professionellen Lebensstil treu zu bleiben. Daran scheiterten bekanntlich viele Brasilianer bei Real. Robinho, ein ähnlicher Spielertyp, zum Beispiel, der nach einer verheißungsvollen Premierensaison irgendwann zu viele Übersteiger machte und sich an freien Abenden mit falschen Leuten umgab. Auch der brasilianische Ronaldo, Cicinho oder Julio Baptista verloren sich irgendwann im reizvollen Nachtleben der spanischen Hauptstadt.
"Es ist immer schwierig, von Südamerika nach Europa zu kommen. Das Leben ist anders", mahnt der frühere brasilianische Nationalspieler Giovane Elber deshalb im Gespräch mit SPOX und Goal. "Vinicius kann ein ganz Großer werden, wie Neymar, aber er ist immer noch sehr jung und unerfahren. Man kann nicht erwarten, dass er in einem Jahr der neue Cristiano Ronaldo ist." Dieser Meinung ist auch Casemiro, einer der wenigen Brasilianer bei Real, die ein geregeltes Familienleben einem galacticoesken Treiben in Saus und Braus vorziehen: "Er ist unglaublich gut drauf, aber wir müssen behutsam mit dem Jungen umgehen."
Nicht grundlos legte der Verein Vinicius nahe, seine gesamte Familie mit nach Madrid zu nehmen. Dass er auf Anhieb glänzt, war nicht zu erwarten. Er wurde in erster Linie verpflichtet, um zum Aushängeschild der Zukunft zu werden. Zur neuen Saison kommt mit Rodrygo übrigens ein weiterer hochbegabter Brasilianer für den Angriff. Der 18-Jährige, noch beim FC Santos unter Vertrag, kostet ebenfalls 45 Millionen Euro. Cristobal Soria wird sich mit Sicherheit davor hüten, ihn nach nur wenigen Wochen zu verspotten.
FC Barcelona gegen Real Madrid: Die vergangenen Duelle
Wettbewerb | Datum | Heim | Auswärts | Ergebnis |
Primera Division | 28.10.2018 | FC Barcelona | Real Madrid | 5:1 |
Primera Division | 06.05.2018 | FC Barcelona | Real Madrid | 2:2 |
Primera Division | 23.12.2017 | Real Madrid | FC Barcelona | 0:3 |
Supercopa | 16.08.2017 | Real Madrid | FC Barcelona | 2:0 |
Supercopa | 13.08.2017 | FC Barcelona | Real Madrid | 1:3 |
Copa del Rey: Die Halbfinals im Überblick
Datum | Uhrzeit | Heim | Auswärts | Livestream |
06.02.2019 | 21.00 Uhr | FC Barcelona | Real Madrid | DAZN |
07.02.2019 | 21.00 Uhr | Betis Sevilla | FC Valencia | DAZN |
27.02.2019 | 21.00 Uhr | Real Madrid | FC Barcelona | DAZN |
28.02.2019 | 21.00 Uhr | FC Valenica | Betis Sevilla | DAZN |