Chile begeistert bei der WM mit Leidenschaft, spätestens seit dem 2:0-Sieg über Spanien ist La Roja in aller Munde. Was auf dem Platz oft übermütig und gelegentlich sogar kopflos aussieht, ist in Wahrheit ein aufopferungsvolles taktisches Konzept, das von jedem Spieler die Unterordnung im System sowie bedingungslosen Einsatz erfordert.
Eigentlich dürften die Auftritte der Chilenen bei der WM zumindest in Deutschland niemanden überraschen. Beim 1:0-Testspielsieg im März hatte die DFB-Elf große Probleme mit Chiles aufopferungsvoller Offensivtaktik, gepaart mit einem aggressiven Zustellen von Räumen und Aufbauspielern.
Bundestrainer Joachim Löw sprach anschließend von einem "glücklichen Sieg" und der Tenor war eindeutig: Niemand hätte sich beschweren können, wenn die Chilenen das Spiel für sich entschieden hätten. Mittlerweile ist klar: Chile hat diese Form bis zur Weltmeisterschaft konserviert und beeindruckt mit einem theoretisch simplen wie praktisch herausfordernden Stil.
Die Offensivtaktik
Chiles Motto: Aggressives Angreifen um (fast) jeden Preis. Coach Jorge Sampaoli hat dabei die Nachfolge des langjährigen chilenischen Nationaltrainers Marcelo Bielsa, den Sampaoli seit Jahren als sein großes Vorbild sieht und stets an dessen Theorie der bedingungslosen Offensive geglaubt hat, angetreten.
Chile wechselt taktisch zwischen einem 3-4-1-2 (gegen Spanien) und einem 3-5-2 (gegen Australien). Dabei ist bei eigenem Ballbesitz vieles auf das Spiel über die Flügel ausgelegt. Durch lange Diagonalbälle oder kurze, rasante Passstafetten können die Südamerikaner das Spiel schnell verlagern, wobei auch die Stürmer Alexis Sanchez und Eduardo Vargas einen entscheidenden Anteil haben.
Beide lassen sich regelmäßig auf die Flügel fallen, um so dem Zugriff der Innenverteidiger zu entgehen und das Spiel gleichzeitig breit zu machen. So entsteht ein enormes Tempo über das Flügelspiel, wenngleich die Flanken in den Strafraum nicht Chiles gefährlichste Waffe sind - alle 16 Hereingaben bei dieser WM landeten beim Gegner.
Vielmehr geht es darum, durch die beweglichen Stürmer und die schnelle Spielverlagerung Raum in der Mitte für die nachrückenden Mittelfeldspieler zu schaffen - und damit durch schnelle Kombinationen in den Strafraum zu kommen.
In Perfektion praktizierte Chile dies beim Treffer zum 1:0 gegen Spanien, dem spielerisch wohl schönsten Tor des bisherigen Turniers. Mit One-Touch-Fußball wurde die Kugel nach Ballgewinn im Mittelfeld durch Marcelo Diaz zielstrebig nach vorne gespielt und von Vargas eiskalt verwertet.
Besonders gefährlich wird es zudem, wenn sich die ballsicheren Chilenen eines gegnerischen Pressing-Versuchs erfolgreich erwehrt haben. Auch hierfür hat Sampaoli ein klares Konzept: Der zentrale Mittelfeldmann Diaz lässt sich im Spielaufbau oft nach hinten fallen, damit die Außenverteidiger hoch aufrücken können, ohne dass durch gegnerisches Pressing große Gefahr entsteht.
Dadurch sind die schnellen Angriffe über die Flügel möglich. Vor allem die rechte Seite über Sanchez ist in Chiles Offensivsystem ein Prunkstück: Während Vargas noch häufiger den Weg ins Zentrum sucht, kombiniert auf rechts Sanchez hervorragend mit Mauricio Isla - über 53 Prozent von Chiles Angriffen gegen Spanien liefen über diese Seite.
Zu der aufopferungsvollen Spielweise sowie der sicheren und schnellen Ballzirkulation, woraus ein extrem breites Spiel resultiert, kommt bei Chile außerdem die individuelle Klasse in der Offensive. 60 Prozent der Dribblings von La Roja waren bisher erfolgreich. Da der Gegner durch die häufige Spielverlagerung immer wieder rausrücken muss, können so bei erfolgreichen Eins-gegen-Eins-Duellen im Zentrum große Räume entstehen.
Auch die Chancenverwertung, gegen Deutschland im März noch das große Manko, hat das Team in den Griff bekommen: Bislang verwertete Chile bei der WM exakt ein Drittel seiner Möglichkeiten. Chile ist dabei keineswegs eine reine Kontermannschaft, sondern hat zweifellos auch Stärken im Ballbesitz-Spiel - Jorge Valdivia ist hierfür das beste Beispiel, wenngleich das Pressing ein wesentlicher Bestandteil des chilenischen Spiels ist.
Der Spielmacher agiert hinter den Spitzen Sanchez und Vargas und bietet Chile so eine zusätzliche spielerische Offensivoption für das Angriffsdrittel, um auch aus dem Zentrum den tödlichen Pass spielen zu können. Gegen Spanien musste er allerdings auf Kosten eines kompakteren Mittelfeldes zunächst zuschauen.
Das Pressing
Zwar kann Chile durchaus auch das Spiel machen, die große Stärke und wohl die gefährlichste Offensiv-Waffe ist aber das bedingungslose Pressing. Gegnerische Angriffe sollen beendet werden, bevor sie überhaupt richtig beginnen. Chile ist das wohl beste Pressing-Team dieser WM.
Für die Spieler ist diese Spielweise extrem fordernd. Eine permanent hohe Intensität sowie Laufbereitschaft sind Grundvoraussetzungen, nur so kann der ballführende Gegner schnell attackiert und Überzahlsituationen kreiert werden.
Was die Profis dafür leisten müssen, wurde im Spiel gegen Spanien überdeutlich: Diaz riss 12,59 Kilometer ab, während Arturo Vidal 66 Mal zum Sprint ansetzte.
Sampaoli baut dabei auf eine Art Manndeckung. Während Sanchez und Vargas in der gegnerischen Viererkette permanent für Unruhe sorgen und Passwege zustellen, setzt das Trio im zentralen Mittelfeld um Diaz, Vidal und Charles Aranguiz die gegnerischen Aufbauspieler Mann gegen Mann knallhart unter Druck.
Ballgewinne in der gegnerischen Hälfte, welche durch das schnelle Umschaltspiel brandgefährlich werden können, sind so fast die logische Folge.
Chile schafft es so, im Mittelfeld immer wieder Überzahlsituationen zu kreieren, ohne dabei ein zu hohes Risiko einzugehen.
Die defensive Dreierkette steht tief und wird, wenn die drei zentralen Mittelfeldspieler pressen, von den Außenverteidigern Isla und Eugenio Mena unterstützt. So stehen selbst wenn das Pressing nicht greift noch immer fünf Spieler zwischen Gegner und Tor.
Jeder einzelne der Mittelfeldspieler kann daher extrem aggressiv und risikoreich spielen. Dennoch sieht man kaum blindlings geführte Zweikämpfe: Gegen Spanien waren 77,8 Prozent der chilenischen Tacklings erfolgreich, gegenüber nur 58,3 Prozent der spanischen Versuche. Insgesamt steht Chile jetzt bei 82,9 Prozent erfolgreichen Tacklings im Turnier - eine sensationelle Quote.
Was passiert, wenn Chiles Pressing greift, bekamen sowohl die Spanier, als auch die Australier bereits zu spüren. Gepaart mit den auf die Außen ausweichenden Stürmern sowie der eigenen Ballsicherheit kann sich Chile nach Ballgewinn schnell nach vorne kombinieren.
Sollte die Mannschaft die intensive Spielweise über das komplette Turnier hochhalten, ist mit Chile auch weiter zu rechnen.