Wie ist die Ausgangslage?
Es sind bewegte Zeiten für den deutschen Handball. Dem HSV wurde auch in zweiter Instanz die Lizenz verweigert, das Aus der Hamburger dürfte damit besiegelt sein. Die Meisterschafts-Entscheidung in der HBL zwischen Kiel und den Rhein-Neckar Löwen, an dessen Ende der THW nur aufgrund des besseren Torverhältnisses den Titel holte - absoluter Wahnsinn. Und dann noch das Final Four um die Champions League in Köln, bei dem die Teams aus Flensburg, Kiel, Barcelona und Veszprem den Handball in einer Art und Weise von seiner Sahneseite präsentierten, dass kein Superlativ dafür ausreicht. Das Ende ist bekannt: Flensburg triumphierte sensationell im Finale gegen den THW.
Und dennoch dürfte klar sein: So richtig ernst - ja fast schon existenziell - wird es erst jetzt. "Es sind die wichtigsten Spiele für den deutschen Handball seit dem WM-Finale 2007", brachte es Mimi Kraus auf den Punkt. Sollte Deutschland nach den Olympischen Spielen 2012 in London und der Europameisterschaft 2014 in Dänemark mit der WM 2015 in Katar das dritte Großereignis in Folge verpassen, wäre dies ein Fiasko. Der einfache Grund: Nur eine erfolgreiche Nationalmannschaft besitzt die Zugkraft, eine breite Öffentlichkeit für den Handball zu begeistern. Und ohne WM-Teilnahme wäre außerdem die Qualifikation für Olympia in Rio nur noch theoretisch möglich.
Die Mannschaft von Bundestrainer Martin Heuberger steht also gewaltig unter Druck. In zwei Spielen geht es nun gegen Polen, gegen das sich die deutsche Mannschaft im WM-Finale 2007 im eigenen Land zum Weltmeister krönte, um alles. Am Samstag steigt das Hinspiel vor 11.000 Fans im Hexenkessel von Danzig, sieben Tage später fällt in Magdeburg die endgültige Entscheidung.
Die Generalprobe wurde vermasselt. Am Dienstag unterlag das DHB-Team in Wetzlar im Testspiel gegen Norwegen mit 30:32, wobei ein Sechs-Tore-Vorsprung noch aus der Hand gegeben wurde. "Das ist natürlich kein gutes Gefühl, mit einer Niederlage nach Polen zu reisen, vor allem, weil es so unnötig war", sagte Heuberger bei "Sport1": "Ich denke aber, dass wir in einigen Phasen guten Handball gezeigt haben und auch in der Abwehr aggressiv waren. Aber das haben wir in den letzten zehn Minuten vermissen lassen."
Für Heuberger geht es in den Spielen gegen Polen auch um seine eigene Zukunft. Zwar möchte beim DHB derzeit verständlicherweise niemand eine Trainerdebatte führen. Sollte es aber schief gehen, wäre der Schutterwalder, der am Donnerstag seinen 50. Geburtstag feierte, seinen Posten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit los.
Wie sieht das deutsche Aufgebot aus?
Heuberger musste zunächst einen 28-er Kader berufen, die Reise nach Polen wurde mit 18 Spielern angetreten. 16 Akteure werden letztlich im Aufgebot für das Hinspiel stehen, das Heuberger am Samstagmorgen benennen muss. Die größte Überraschung: Linksaußen Dominik Klein ist in Danzig nicht dabei, Michael Allendorf erhielt den Vorzug.
- Tor: Johannes Bitter (Hamburg), Silvio Heinevetter (Berlin), Carsten Lichtlein (Gummersbach)
- Linksaußen: Uwe Gensheimer (Rhein-Neckar Löwen), Michael Allendorf (Melsungen)
- Rückraum links: Stefan Kneer (Magdeburg), Steffen Fäth (Wetzlar)
- Mitte: Tim Kneule (Göppingen), Michael Kraus (Göppingen), Michael Haaß (Magdeburg)
- Rückraum rechts: Holger Glandorf (Flensburg), Steffen Weinhold (Flensburg)
- Rechtsaußen: Johannes Sellin (Melsungen), Patrick Groetzki (Rhein-Neckar Löwen)
- Kreis: Oliver Roggisch (Rhein-Neckar Löwen), Patrick Wiencek (Kiel), Felix Danner (Melsungen), Hendrik Pekeler (Lemgo)
Welche Hoffnungsträger und Sorgenkinder gibt es?
Sechs Weltmeister von 2007 berief Heuberger in seinen 18-er Kader. Erfahrene Spieler wie Roggisch, Bitter, Kraus, Haaß, Lichtlein oder Glandorf sollen das Team führen, auch wenn der eine oder andere womöglich kaum oder gar nicht auf der Platte stehen wird. "Ich glaube, dass wir eine gute Mischung haben aus erfahrenen Spielern und Talenten. Deshalb bin ich mit der Zusammensetzung der Mannschaft sehr zufrieden. Sie kommt meiner Wunschvorstellung sehr nah", so Heuberger.
Klar ist: Um Polen zu schlagen, benötigt das DHB-Team einen starken Rückhalt zwischen den Pfosten. Doch ausgerechnet auf dieser Position ist der erfahrene Bitter derzeit ein Sorgenkind. Der 31-Jährige hinterließ gegen Norwegen keinen guten Eindruck, die Geschehnisse rund um seinen Klub HSV und seine deshalb ungewisse Zukunft setzen ihm zu. "Man hat gesehen, dass er nicht ganz frei im Kopf war. Das ist natürlich eine schwierige Situation", meinte Heuberger, der bei den Torhütern eine "Bauchentscheidung" treffen will. Möglich, dass der Bundestrainer deshalb in Danzig auf Heinevetter und Lichtlein setzen wird.
Auch die Abwehr dürfte Heuberger einige schlaflose Nächte bereitet haben. Diese agierte zumindest im Test gegen Norwegen viel zu behäbig und war immer wieder viel zu leicht mit relativ einfachen taktischen Mitteln auszuhebeln.
Hoffnung macht dagegen Kraus, der sich auf der Spielmacherposition mit Haaß abwechseln dürfte. Der wie Bitter extra von Heuberger für die WM-Playoffs ins Nationalteam zurückgeholte Göppinger überzeugte zuletzt. Dass Kraus an einem guten Tag im Stande ist, wichtige Partien fast im Alleingang zu entscheiden, bewies er etwa 2013. Damals gewann er mit Hamburg im Endspiel gegen Barcelona die Champions League und war dabei der alles überragende Mann.
Eine weitere wichtige Stütze ist der seit Monaten bärenstark aufspielende Gensheimer, der in Danzig erstmals anstatt Roggisch das Team als Kapitän anführen wird. Gensheimer und Groetzki sollen - so der Plan des Bundestrainers - möglichst viele Tempogegenstöße durchziehen.
Hinzu kommen die beiden Flensburger Glandorf und Weinhold. Beide dürften vom CL-Triumph beschwingt sein. Vor allem Glandorf hat schon oft bewiesen, gerade in schwierigen Situationen mutig zu sein und kann auch mal mit Einzelaktionen für Entlastung sorgen. Auffällig: Gegen Norwegen funktionierte die Offensive recht gut, wenn Glandorf gemeinsam mit Magdeburgs Kneer auf der Platte stand.