Beim Bummel durch die wunderschöne Altstadt begegnete man am Freitag bereits dem einen oder anderen deutschen Fan. Ansonsten deuteten lediglich zwei überdimensionale Bälle in der Fußgängerzone und vereinzelte weiß-rote Schilder auf das anstehende Highlight hin. Wroclaw, auf Deutsch Breslau, befindet sich noch nicht im Handball-Fieber.
Das wird sich ändern, wenn in der 1913 in Betrieb genommenen Hala Stulecia, der Jahrhunderthalle mit der kolossalen Stahlbetonkuppel, die seit 2006 zum Weltkulturerbe gehört, das Licht angeht und die Bühne für die Mannschaften aus Spanien und Deutschland freigegeben wird.
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"Die Jungs sind gut drauf und wir freuen uns, dass es endlich losgeht", kann es Bundestrainer Dagur Sigurdsson kaum noch erwarten, seine Truppe von der Leine zu lassen. Der Isländer hat sich und die Mannschaft wie immer akribisch vorbereitet und ist deshalb zuversichtlich.
Sigurdsson geht mit breiter Brust voran
Die Personalsorgen und die Tatsache, dass Deutschland zum Auftakt gleich einmal dem zweimaligen Weltmeister Spanien gegenübersteht, lassen den 42-Jährigen kalt. Lamentieren ist nicht sein Ding, bereits im Vorfeld einer komplizierten Aufgabe nach Ausreden zu suchen genau so wenig.
Ganz im Gegenteil. "Wir haben die Spanier im letzten Jahr in der Qualifikation geschlagen, wir wollen sie auch zum Auftakt der EM schlagen. Ich sehe keinen Grund, warum wir ein schlechtes Turnier spielen sollten", geht Sigurdsson mit breiter Brust voran.
Das Selbstbewusstsein des Trainers färbt offensichtlich auf die Spieler ab.
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"Da können wir gleich mal zeigen, dass mit uns zu rechnen ist", sagte Rune Dahmke, der einzige echte Linksaußen im gesamten Kader. Und der rechte Rückraumspieler Fabian Wiede ergänzte: "Für jede Mannschaft ist es wichtig, mit einem Sieg zu starten. Das ist auch unser Anspruch und dafür werden wir alles tun."
Erfrischend unbekümmert
Das DHB-Team geht seine EM-Mission in der niederschlesischen Tiefebene erstaunlich forsch an. Erfrischend unbekümmert, wie es vielleicht nur möglich ist, wenn man viele Spieler dabei hat, die trotz aller Vorbereitung durch das Trainerteam nicht so recht wissen können, was auf sie zukommt.
14 der 16 Spieler im Kader waren noch nie bei einer EM dabei. Sieben dieser Spieler haben noch keine 20 Mal das DHB-Trikot im Männerbereich getragen. "Wir haben die 16 besten Spieler zusammen", lässt sich Sigurdsson trotzdem keinen Millimeter von seiner Linie abbringen.
Sicher ist: Spanien, das nun doch nicht auf Kapitän Victor Tomas (allergische Reaktion) verzichtet, wird sich vom offensiven Auftreten der Deutschen nicht beeindrucken lassen.
Ob Joan Canellas, Raul Entrerrios, Julen Aguinagalde oder Arpad Sterbik - Trainer Manuel Cadenas hat einfach zu viele Spieler in seinen Reihen, die fast alles erlebt haben. Und deshalb vor Selbstvertrauen nur so strotzen.
Pieczkowski überrascht
Gerade Canellas ärgert seine Kieler Teamkollegen Christian Dissinger und Steffen Weinhold schon seit Wochen mit dem Spruch, dass Spanien gegen Deutschland mit zehn Toren Unterschied gewinnen wird.
"Wir sind in Polen, um den Titel zu gewinnen", erklärte Abwehrspezialist Gedeon Guardiola: "Wir waren noch nie Europameister, das wollen wir ändern."
Allerdings ist auch den Iberern die von Sigurdsson angesprochene Partie im April in der EM-Qualifikation in Erinnerung geblieben, die sie in Mannheim mit 28:29 verloren. Wie aus dem Nichts brachte Sigurdsson damals den Lübbecker Niclas Pieczkowski, der den Spaniern direkt fünf Buden einschenkte.
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"In Mannheim wurden wir überrascht, vor allem von Pieczkowski. Den hatten wir überhaupt nicht auf dem Zettel", räumte Guardiola ein, der seine Brötchen bei den Rhein-Neckar Löwen verdient.
"So viel Videomaterial wird es nicht geben"
Gerade darin - in einer Art Pieczkowski-Effekt - könnte auch diesmal die Chance zur Überraschung für das DHB-Team liegen. Die Spanier sind zwar abgebrüht, kennen aber einige deutsche Akteure kaum oder zumindest nicht sonderlich gut.
"Die werden sich sicher vorbereitet haben, aber so viel Videomaterial vom Großteil unserer Spieler, die wir hier haben, wird es nicht geben", sagte Teammanager Oliver Roggisch.
Ein zweites Mannheim im Weltkulturerbe von Breslau? Es wäre ein Auftakt, von dem man sich kaum zu träumen wagt.
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