Zahlreiche Spieler ließen in der Mixed Zone die Köpfe hängen. Der zur Pressekonferenz beorderte Julius Kühn hielt sich die Hand vor das Gesicht und brachte kaum ein Wort heraus. Neben ihm saß Dagur Sigurdsson auf dem Podium, der Bundestrainer blickte wie versteinert ins Leere.
Die deutsche Nationalmannschaft war Minuten zuvor in der AccorHotels Arena in Paris Bercy völlig überraschend im Achtelfinale gescheitert. Der Sieger der Gruppe C, in der Vorrunde mit fünf Erfolgen in Serie, unterlag dem viertplatzierten Emirat, das in Gruppe D zwei schmucklose Siege und drei Niederlagen verbucht hatte.
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Es war das zweite WM-Aus in Serie gegen die Mannschaft des spanischen Star-Trainers Valero Rivera. Bereits vor zwei Jahren war Deutschland in Katar im Viertelfinale an den Gastgebern gescheitert. "Das ist ein großer Schock für uns. Wir haben zu viele Fehler gemacht. Auch ich habe Fehler gemacht", sagte Sigurdsson, den Blick weiterhin starr nach vorne gerichtet.
Sigurdsson-Interview: "Daraus mache ich kein Extra-Drama"
Viele Enttäuschungen im Rückraum
Viele - Fans, Journalisten und wohl auch Spieler - hatten den Sieg gegen den Vizeweltmeister von 2015 bereits vor dem Spiel gedanklich verbucht gehabt. Im Viertelfinale ginge es dann gegen Slowenien, was ebenfalls relativ locker machbar sein dürfte, so die Theorie. Der Weg in die Runde der letzten Vier schien - wie man in Bayern so schön sagt - a gmaade Wiesn zu sein.
Doch anstatt den ersten Schritt in Richtung Traum-Halbfinale gegen Frankreich zu machen, wurde die Partie gegen die Wüstensöhne zum ultimativen Albtraum für das DHB-Team. "Manch einer hat dieses Spiel vielleicht zu leicht genommen", sagte Torhüter Andreas Wolff, der mit 19 Paraden und insgesamt 49 Prozent abgewehrter Bälle einer der ganz wenigen DHB-Spieler in Topform war.
Ansonsten enttäuschte mit Ausnahme von Holger Glandorf der gesamte Rückraum, im Angriff unterliefen alles in allem viel zu viele technische Fehler, die Trefferquote von 56 Prozent spricht Bände. Und dann waren da noch zwei Probleme.
Scharfe Kritik von Wolff
Vor der Partie gegen die Kataris waren sich fast alle Experten einig, dass es zwei entscheidende Faktoren gibt, die aus deutscher Sicht auf keinen Fall zusammen kommen dürfen.
Erstens: Rückraum-Shooter Rafael Capote muss im Zaum gehalten werden und darf nicht heiß laufen. Zweitens: Torhüter Danijel Saric darf unter keinen Umständen in die Köpfe der DHB-Akteure kommen.
Beides ging grandios schief. Capote machte gerade gegen Ende der Partie was er wollte und war mit neun Toren bester Werfer des Matches. Saric steigerte sich nach mauem Beginn gewaltig und wehrte letztlich 43 Prozent aller Würfe auf seinen Kasten ab.
"Mit einem solchen Weltklassemann muss man sich vorher auch mal beschäftigen", übte Wolff überraschend scharfe Kritik an seinen Mitspielern.
"Haben zu viele Bälle weggeschmissen"
Dabei hatte Mitte der zweiten Halbzeit noch vieles auf ein Weiterkommen hingedeutet. In der 46. Minute führte der Europameister und Olympia-Bronzemedaillengewinner von 2016 mit 17:13, Katar schien am Ende. Doch plötzlich lief der zuvor schon häufig stotternde DHB-Motor gar nicht mehr.
"Das ist einfach nur bitter. Wir haben zu viele Bälle weggeschmissen", konstatierte der völlig bediente Glandorf. Paul Drux ergänzte ratlos: "Wir haben zu wenig Tore erzielt. Dafür habe ich keine Erklärung."
Stimmt: Der deutschen Auswahl gelangen gerade einmal 20 Treffer. In allen Gruppenspielen waren es jeweils mindestens sieben mehr.
Übrigens: Auf die Idee, den litauischen Schiedsrichtern Mindaugas Gatelis und Vaidas Mazeika ernsthaft die Schuld für die Pleite in die Schuhe zu schieben, kam trotz einiger gegen Ende seltsamer Pfiffe richtigerweise niemand.
"Wir hatten einen großen Traum. Das haben wir so nicht erwartet", sagte Rechtsaußen Patrick Groetzki. DHB-Vizepräsident Bob Hanning hingegen verriet, dass er schon das gesamte Turnier über befürchtet hatte, es könnte das deutsche Team kalt erwischen: "Wir haben es nicht geschafft, konstant auf einem Niveau zu spielen."
Sigurdsson nimmt seinen Hut
Das Aus kam letztlich unerwartet und damit auch der Abschied von Sigurdsson als Bundestrainer verfrüht. Der 43-Jährige, der Deutschland mit den Weltmeisterschaften in Katar und Frankreich, der Europameisterschaft in Polen sowie den Spielen in Rio bei vier großen Turnieren betreute, ist nun weg.
Noch in diesem Jahr wird er mit seiner Familie von Berlin zurück nach Island ziehen und von dort aus regelmäßig nach Japan reisen, um das Nationalteam der Ostasiaten auf die Olympischen Spiele 2020 in Tokio vorzubereiten.
"Dagur hat das Denken im deutschen Handball nachhaltig geändert - das wird über seine Zeit hinaus wirken", machte Hanning dem scheidenden Bundestrainer ein dickes Lob und fügte mit Blick auf die Art und Weise des Abschlusses hinzu: "Für ihn tut es mir unglaublich leid."
Insgesamt wollte der Macher der Füchse Berlin das Aus ausdrücklich nicht als Rückschlag für den deutschen Handball insgesamt verstanden wissen. "Wir haben immer gesagt, das gehört dazu. Natürlich kann man das zu keiner Zeit gebrauchen. Aber für die Gesamtgeschichte ist es vielleicht gerade jetzt nicht so verkehrt. Auch wenn es in diesem Moment verdammt schmerzt", so der 48-Jährige.
"Katar im Sport ein Paradies"
Während bei den Deutschen miese Laune herrschte, waren die Kataris außer Rand und Band. Kein Wunder: Sie haben es nach der Heim-WM und den Spielen in Brasilien zum dritten Mal in Serie in das Viertelfinale eines großen Turnieres geschafft.
"Wir haben ein exzellentes Spiel gemacht. Wir kämpfen für Respekt und wir haben Respekt verdient. Heute ist ein großer Tag für den gesamten Sport in Katar. Ich danke allen Menschen, die dafür sorgen, dass Katar im Sport ein Paradies ist", erklärte Trainer Rivera.
Das Sport-Paradies Katar - an diesem 22. Januar 2017 wurde es zur deutschen Hölle.
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