Es ist ein Paradoxon. Gerade einmal zwei Rennen der Formel-1-Saison 2024 liegen hinter uns und schon jetzt lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass sich Max Verstappen auf dem Weg zu seinem vierten Weltmeisterschafts-Titel in Folge eigentlich nur selbst schlagen kann. Zu dominant waren die beiden Auftritte des Niederländers, als dass auch nur irgendjemand den Hauch einer Chance hätte, über die volle Distanz von 24 Rennen mit dem Niederländer mitgehen und auf Augenhöhe agieren zu können. Aus sportlicher Sicht läuft es für ihn und seinen Rennstall Red Bull wie geschmiert.
Und doch, blickt man hinter die glitzernde Fassade, tun sich Gräben auf, die das erfolgreichste F1-Team der jüngeren Vergangenheit vor eine Zerreißprobe stellen. Eine Zerreißprobe, die die gesamte Arbeit der vergangenen Jahre über Nacht zunichtemachen könnte. Und vor allem eine, an der man zu 100 Prozent selbst die Schuld trägt.
Machtkampf bei Red Bull: Worum geht es eigentlich?
Als am 05. Februar erste Medienberichte aus den Niederlanden aufkamen, wonach sich RB-Teamchef Christian Horner ein "grenzüberschreitendes Verhalten" gegenüber einer ihm direkt unterstellten Mitarbeiterin geleistet haben soll, konnte wohl noch niemand absehen, welche Lawine damit ins Rollen gebracht werden würde. Klar, solche Vorwürfe darf und sollte man niemals auf die leichte Schulter nehmen, viele Experten gingen jedoch davon aus, dass Red Bull die Causa unaufgeregt und souverän lösen würde. Oder zumindest deutlich unaufgeregter und souveräner, als sich das später herausstellen sollte.
Bei den Österreichern reagierte man zunächst äußert verhalten. Ein Statement wurde erst nicht veröffentlicht, stattdessen ließ man mitteilen, dass ein "unabhängiger Ermittlungsanwalt" die Vorwürfe untersuchen werde. Horner selbst musste sich einer internen Anhörung unterziehen, der Brite stritt von der ersten Sekunde an jedoch alles ab. Später wurde bekannt, dass eine achtstündige Befragung Horners, wenige Tage nach dem die Anschuldigungen öffentlich geworden waren, zu keinem Ergebnis geführt hätte.
Die vom Team erhoffte, schnelle Klärung des Falls, trat somit nicht ein. Sowohl bei der Präsentation des neuen Boliden als auch bei den dreitägigen Testfahrten saß Horner als Hauptverantwortlicher für die Geschicke am Kommandostand. Auch die angestoßene Untersuchung zog sich in die Länge. Das dürfte schon für den ersten flauen Magen bei den RB-Bossen gesorgt haben, schließlich drehte sich alles um die Causa Horner. Die Möglichkeit, bei diesen Terminen die Aufmerksamkeit auf Sponsoren und sportliche Themen zu richten, konnte kaum wahrgenommen werden.
Am 28. Februar, ironischerweise genau einen Tag vor dem offiziellen Start in die neue Saison, wurde schließlich das Ergebnis der Untersuchung veröffentlicht. Darin wurde Horner in vollem Umfang entlastet. "Red Bull kann bestätigen, dass die Beschwerde abgewiesen wurde. Die beschwerende Partei hat das Recht, Berufung einzulegen", hieß es in dem entsprechenden Statement, wobei noch einmal ausdrücklich betont wurde, dass man davon ausgehe, "dass die Untersuchung fair, gründlich und unbefangen war". Der Fall schien abgeschlossen, bei Red Bull erhoffte man sich nun die nötige Ruhe vor dem wichtigen Saisonstart.
Nur Stunden nach der Pressemitteilung Red Bulls platzte jedoch schon die nächste Bombe. An zahlreiche Journalisten, hochrangige Formel-1- und FIA-Mitarbeiter sowie mehrere Teamchefs diverser Rennställe wurde eine anonyme E-Mail mit einem 170 Megabyte schweren Archiv und 79 Dateien verschickt, in der sich dutzende Screenshots aus privaten Nachrichten zwischen Horner und der Red-Bull-Mitarbeiterin befanden. "Nach Red Bulls jüngster Untersuchung und den offiziellen Statements werden Sie interessiert sein, das angehängte Material zu sehen", stand darin. Die E-Mail ging an über 100 Empfänger. Die Screenshots belegten anzügliche Chats zwischen Horner und der Angestellten sowie unter anderem ein Penis-Foto.
Erste, für die Öffentlichkeit sichtbare Gräben innerhalb des Teams taten sich schon da auf. Vor allem Verstappen-Vater Jos schoss in der Folge scharf gegen Horner und stellte ihn noch in der Nacht nach dem Auftakt-Sieg seines Sohnes in Sachir an den Pranger. "Es wird hier Spannungen geben, so lange er in seiner Position ist. Das Team läuft Gefahr, zerrissen zu werden. Es kann so nicht weitergehen, es wird explodieren." Horner spiele "das Opfer, obwohl er derjenige ist, der die Probleme verursacht".
Ruhe zog jedoch auch nach dem ersten Rennwochenende nicht ein. Vor dem zweiten Grand Prix in Saudi-Arabien tauchten Medienberichte auf, wonach die für die Anschuldigungen verantwortliche Mitarbeiterin beurlaubt worden sei. Eine Stellungnahme von Seiten Red Bulls blieb aus, gegenüber AFP sagte ein Sprecher lediglich, dass man "die individuelle Situation von Angestellten nicht kommentieren" könne.
Machtkampf bei Red Bull: Was sind die neuesten Entwicklungen?
Am Freitag, während Verstappen und Co. im Qualifying in Dschidda um die Pole Position kämpften, berichteten diverse Medien dann plötzlich, dass auch Motorsportberater Dr. Helmut Marko vor dem Aus bei Red Bull stehen soll. Der 80-Jährige habe sich demnach nicht an die Vorgabe des Unternehmens gehalten, keine Interviews zur Horner-Causa mehr zu geben. Er missachtete die Anweisung.
Darüber hinaus wurde Marko offenbar verdächtigt, der Presse wichtige Informationen und Interna zugesteckt zu haben. Bei Red Bull sollte es diesbezüglich eine erneute Untersuchung dazu geben, um zu klären, wer die brisanten Daten, die an die Öffentlichkeit gelangt sind, gestreut hat.
Angesprochen auf die Gerüchte über seine bevorstehende Entlassung entgegnete Marko beim ORF: "Letzten Endes entscheide ich selbst, was ich mache. Aber die theoretische Möglichkeit gibt es." Später legte er gegenüber Sky noch einmal nach: "Es gibt so viele Gerüchte. Ich will dazu eigentlich gar nichts sagen. Da sind derartig viele Spekulationen im Umlauf. Ich habe noch ein Gespräch morgen. Das muss alles passen, damit ich da weiterarbeiten will."
Tags darauf fand das besagte Gespräch zwischen Marko und dem Geschäftsführer der Red Bull GmbH, Oliver Mintzlaff, statt. Das Ergebnis: Eine Entlassung blieb aus, stattdessen gibt es vorerst keine Konsequenzen für den 80-Jährigen. Es habe "ein sehr gutes Gespräch" stattgefunden, sagte er bei Sky. Auch Mintzlaff äußerte sich ähnlich, ohne ein Ergebnis des Gesprächs zu nennen.
Machtkampf bei Red Bull: Was bedeutet das für das Team?
Die jüngsten Entwicklungen rund um die Causa Horner zeigen deutlich, dass bei den Bullen ein erbitterter Kampf um die Machtverhältnisse im Unternehmen tobt. Nach dem Tod von Gründer Dietrich Mateschitz hat sich die Red Bull GmbH in zwei - in der Thematik um Christian Horner - rivalisierende Lager aufgeteilt, welche mit der Affäre um den RB-Teamchef völlig unterschiedlich umgehen.
Zum einen wäre da der österreichische Teil um Mateschitz-Sohn Mark Mateschitz, welcher dem Vernehmen nach Horner gerne loswerden und ihn aus dem Amt entheben möchte, jedoch nur insgesamt 49 Prozent der Anteile an der Red Bull GmbH hält und damit keine alleinige Entscheidungsgewalt inne hat. Zu diesem Lager zählen neben Marko auch Max Verstappen und Vater Jos sowie Technikchef Adrian Newey.
Die restlichen 51 Prozent teilen sich unter dem thailändischen Milliardär Chalerm Yoovidhya (2 Prozent) sowie dessen Unternehmen TC Agro Agrotrading Company Ltd (49 Prozent) auf. Dieser Part hält bislang an Horner fest und ist wohl auch für Untersuchung gegen Marko verantwortlich.
Auf sportlicher Ebene mag all das noch keine großen Auswirkungen haben, schließlich fuhr man an den ersten beiden Rennwochenenden zwei souveräne Doppelsiege ein, auf lange Sicht könnte der Machtkampf aber weitreichende Konsequenzen haben.
So drohen nach italienischen Medienberichten der angesprochene Newey und der technische Direktor Pierre Waché, Red Bull zu verlassen, sollte der Fall um Horner nicht sauber und vor allem transparent aufgearbeitet werden. Zudem meldete sich der ab 2026 exklusiv für die Österreicher produzierende Motorenpartner Ford zu Wort, welcher von Horner ebenfalls eine klare Stellungnahme zu den Vorwürfen fordert.
Nicht wenige Experten gehen davon aus, dass mit dieser, von vielen Mitarbeitern und Partnern geforderten, "transparenten und sauberen" Aufarbeitung der Vorfälle die sofortige Freistellung Horners bei Red Bull gemeint ist. Bislang klammert sich dieser aber noch an seinen Posten. Ändert sich auch an der Unterstützung durch die thailändischen Mehrheitseigentümer nichts, bleibt er im Amt. Red Bull droht dann nicht weniger als ein völliger Zerfall des gesamten operativen Teams.
Machtkampf bei Red Bull: Was bedeutet das für Verstappen?
Verstappen selbst ist ohne Frage der größte Trumpf, den das Marko-Lager auf seiner Seite hat. Als mit Abstand schnellster Pilot im aktuellen Fahrerfeld ist der Niederländer das erklärte Aushängeschild des Rennstalls. Alle Abläufe sind auf ihn ausgerichtet, das Auto ist auf den Millimeter genau auf seine Wünsche und Bedürfnisse abgestimmt. Kurzum: Aus Sicht von Red Bull kann man es sich nicht erlauben, den 26-Jährigen ziehen zu lassen. Viel zu viel steht auf dem Spiel.
Das Problem: Verstappen steht klar hinter Marko und betonte das in Saudi-Arabien noch einmal in beeindruckend klarer Deutlichkeit: "Ohne ihn im Team, glaube ich, wird es ein Problem geben, auch für mich selbst", sagte er nach dem Aufkommen der Gerüchte um eine bevorstehende Freistellung Markos. "Helmut muss bleiben, das ist auch für mich ganz wichtig."
Auf die Frage, ob es darauf hinauslaufen könnte, dass entweder sie beide bleiben oder keiner, antwortete Verstappen: "Da werden wir natürlich drüber reden. Das wissen sie auch alle bei Red Bull, dass für mich selbst der Helmut immer dabei sein muss." Sei das nicht mehr der Fall, "dann haben wir vielleicht ein großes Problem im Team." In aller Deutlichkeit: Ein Red Bull ohne Helmut Marko wird auch ein Red Bull ohne Max Verstappen sein.
Bei Förderer und Unterstützer Marko empfindet der amtierende Weltmeister nämlich auch nach all den Jahren noch ein eine tiefe Verbundenheit. Der 80-Jährige brachte den Niederländer einst in die Königsklasse, setzte ihn mit gerade einmal 17 Jahren ins damalige B-Team Red Bulls Toro Rosso und war auch mitentscheidend, als er 2016, inmitten der Saison, zum Stammfahrer beim A-Team befördert wurde. Seitdem hielt Marko seinem Schützling immer wieder den Rücken frei, verteidigte ihn gegen jedwede kritischen Stimmen der Konkurrenz oder aus der Presse. All das hat Verstappen augenscheinlich nicht vergessen.
Wohl auch aufgrund dieser deutlichen Aussagen sah man bei Red Bull fürs Erste von einer Entlassung Markos ab. Gleichzeitig bekräftigte Red Bulls Motorsportberater, dass er nur in einem "ruhigen Umfeld" weiterhin seine Zukunft bei den Österreichern sehe. Im Klartext heißt das, dass eine Entlassung Horners für den 80-Jährigen alternativlos ist, um weitermachen zu können.
Sollte es tatsächlich zum Äußersten kommen und Marko gar aus freiwilligen Stücken Red Bull verlassen, steht der Rennstall vor einem massiven Problem. Verstappens Aussagen lassen darauf schließen, dass ein Abgang seinerseits dann ebenfalls sehr wahrscheinlich ist, als möglicher Abnehmer brachte sich in den vergangenen Wochen Mercedes in Stellung.
Dort signalisiert Teamchef Toto Wolff unverändert, dass er Verstappen grundsätzlich gern bei sich im Team hätte: "Wir haben einen Sitz frei, im Jahr 2025 und 2026", sagte er im Interview mit dem ORF, auch wenn er sich nicht in die Karten schauen ließ: "Max wird dort fahren, wo es das schnellste Auto gibt, und das ist heute der Red Bull." Dass er sich zuletzt auch mit Jos Verstappen unterhalten hat, stritt Wolff nicht ab: "Seit zehn Jahren, seit Max in der Formel 1 ist, sprechen wir miteinander. Ich habe ein gutes Verhältnis mit Jos und auch mit Max. Das heißt aber nicht, dass man auf der professionellen Seite jetzt kurzfristig einen Wechsel sehen würde."
Machtkampf bei Red Bull: Wie geht es weiter?
Für Red Bull kann sich aus den verschiedenen Szenarien eigentlich nur eine einzige logische Konsequenz ergeben: Will man nicht, dass sich das Team in seine Einzelteile auflöst und dabei wichtige Bausteine wie Verstappen, Newey oder Marko verloren gehen, ist die umgehende Entlassung Horners alternativlos.
Einem Bericht von F1-Insider zufolge soll es diesbezüglich am Sonntag zu einem Treffen zwischen den Größen der RB-Spitze gekommen sein. Dort heißt es, dass sich auch die thailändische Mehrheitsanteilseigner-Seite mittlerweile vorstellen kann, den 50-Jährigen freizustellen. Der Grund: Eine zivilrechtliche Klage von Horners Mitarbeiterin sowie ein - aufgrund der Anschuldigungen gegen den RB-Teamchef - aufgerufene Boykott von Red-Bull-Produkten in den USA hätten weitere Zweifel an einer Fortsetzung der Zusammenarbeit aufgebracht.
Sollte es dazu nicht kommen, ist Mercedes in Lauerstellung. Dort ist man nämlich nicht nur bereit Verstappen aufzunehmen, auch für dessen Patron Marko sowie Newey würde sich eine Position finden, wie Wolff unlängst erkennen ließ. "Uns fehlt eh unser altes Maskottchen. Dann nehmen wir den Helmut einfach. Der passt vom Alter. Rote Kappe hat er keine, aber dann kommt er zu uns", grinste der Mercedes-Teamchef
Das Erfolgs-Trio der Österreicher wäre dann - passend zur Regeländerung 2026 - beim großen Rivalen Mercedes vereint. Ein Szenario, welches bei Red Bull alle Alarmglocken schrillen lassen sollte.
Formel 1: Der Rennkalender 2024
Nummer | Datum | Strecke | Ort |
1 | 02.03.2024 | Großer Preis von Bahrain | Sachir |
2 | 09.03.2024 | Großer Preis von Saudi-Arabien | Dschidda |
3 | 24.03.2024 | Großer Preis von Australien | Melbourne |
4 | 07.04.2024 | Großer Preis von Japan | Suzuka |
5 | 21.04.2024 | Großer Preis von China | Schanghai |
6 | 05.05.2024 | Großer Preis von Miami | Miami |
7 | 19.05.2024 | Großer Preis der Emilia-Romagna | Imola |
8 | 26.05.2024 | Großer Preis von Monaco | Monte Carlo |
9 | 09.06.2024 | Großer Preis von Kanada | Montreal |
10 | 23.06.2024 | Großer Preis von Spanien | Barcelona |
11 | 30.06.2024 | Großer Preis von Österreich | Spielberg |
12 | 07.07.2024 | Großer Preis von Großbritannien | Silverstone |
13 | 21.07.2024 | Großer Preis von Ungarn | Budapest |
14 | 28.07.2024 | Großer Preis von Belgien | Spa |
15 | 25.08.2024 | Großer Preis der Niederlande | Zandvoort |
16 | 01.09.2024 | Großer Preis von Italien | Monza |
17 | 15.09.2024 | Großer Preis von Aserbaidschan | Baku |
18 | 22.09.2024 | Großer Preis von Singapur | Singapur |
19 | 20.10.2024 | Großer Preis der USA | Austin |
20 | 27.10.2024 | Großer Preis Mexiko | Mexiko-Stadt |
21 | 03.11.2024 | Großer Preis von Brasilien | Sao Paulo |
22 | 23.11.2024 | Großer Preis von Las Vegas | Las Vegas |
23 | 01.12.2024 | Großer Preis von Katar | Losail |
24 | 08.12.2024 | Großer Preis der VAE | Abu Dhabi |