Vom Barackenkind zum Boxer. Vom Boxer zum Zuhälter. Vom Zuhälter zum Häftling - und wieder zurück. Charly Grafs Geschichte ist einmalig. Bei SPOX erzählt der mittlerweile 63-Jährige aus seinem Leben.
SPOX: Herr Graf, Sie galten einst als großes deutsches Talent im Schwergewicht, bis Sie sich im Rotlichtmilieu und wenig später im Gefängnis wiederfanden.
Charly Graf: Mein Leben war rückblickend gesehen nicht alltäglich, das stimmt. Aber mit der Zeit hat nun mal alles seinen Lauf genommen.
SPOX: Lassen Sie uns mit Ihrer Kindheit beginnen. Sie wuchsen in den 50er Jahren in Mannheim auf, in den so genannten Benz-Baracken, einer Siedlung mit "Einfachstwohnungen". Wie muss man sich die damaligen Lebensumstände vorstellen?
Graf: In den Baracken gab es so gut wie keine sanitären Anlagen. Auf einen Block kam ein Klo, das rund 50 Menschen benutzten, dazu eine einzige riesengroße Badewanne. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.
SPOX: Auch Ihre familiäre Situation war alles andere als einfach. Ihr Vater, ein afroamerikanischer US-Soldat, wurde kurz nach Ihrer Geburt in die Staaten zurückkommandiert. Auch das Verhältnis zu Ihrer Mutter war zwiegespalten.
Graf: Das waren noch die Zeiten der Lohntüten. Wenn meine Mutter ihr Geld bekam, holte sie sich sofort Alkohol davon, kam betrunken nach Hause und brachte irgendwelche Typen mit. Ich habe alles mitbekommen, das hat mich geprägt. Ich war ein ängstlicher Junge. Ich kann mich noch an eine Situation erinnern, als ich ihr einfach nicht mehr die Tür geöffnet habe.
SPOX: Warum?
Graf: Sie hatte einen Mann dabei, vor dem ich Angst hatte. Ich wollte das einfach nicht mehr mitmachen. Selbst als sie gedroht hat, sich vor einen Zug zu werfen, habe ich nicht nachgegeben. In der Nacht habe ich dann gemerkt, dass sie immer noch nicht zu Hause war und bin auf die Suche nach ihr gegangen. Ich wollte ja nicht, dass sie sich etwas antut. Also bin ich zu den Bahngleisen, die nicht weit weg von der Baracke waren, und habe sie gesucht. Irgendwann habe ich es aufgegeben und wollte wieder schlafen gehen. Offenbar habe ich aber die Tür der Wohnung offen gelassen, denn als ich wieder zu Hause war, lag meine Mutter betrunken auf der Couch und hat geschnarcht. So etwas lässt niemanden kalt, unter diesen Umständen kann sich kein kleiner Junge zu einem selbstbewussten Kerl entwickeln. Ich habe lange gebraucht, diese inneren Ängste in den Griff zu bekommen. Aber meine Mutter war genauso ein Opfer.
SPOX: Wie meinen Sie das?
Graf: Jahrzehnte später habe ich eine Dokumentation aus dieser Zeit gesehen, in der sie vorkommt, mit mir auf dem Arm. Ihr wurde damals geraten, mich abzugeben, denn als allein erziehende Mutter habe man schließlich keine Chance. Der äußere Druck war immens.
SPOX: Sie galten als Mischlingskind, als Barackenkind. Was lösen diese Begriffe heute in Ihnen aus?
Graf: Nichts mehr. Mittlerweile ist das auch nicht mehr so negativ befleckt wie zu meiner Zeit. Aber es hat gedauert, bis ich etwas Abstand gewinnen konnte, denn damals wurde man als Barackenkind stigmatisiert.
SPOX: Haben Sie als Kind unter Rassismus gelitten?
Graf: Das Interessante war, dass in den Baracken jeder gleich war. Es gab keinen Rassismus, den hat man erst mitbekommen, wenn man in andere Viertel gegangen ist. Man hat gemerkt, wie die anderen Leute einen anstarren. Als kleines Kind bekommt man das vielleicht nicht so mit, aber je älter man wurde, desto mehr spürte man die Blicke der Menschen. Ich habe damals sogar das Gerücht über eine Creme gehört, mit der man weiß wird, und wollte die von meiner Mutter unbedingt haben.
SPOX: Aus solchen Erlebnissen entwickelt sich häufig Wut und Hass auf seine Umwelt. Wie war es bei Ihnen?
Graf: Bei mir hat sich eher eine natürliche Abneigung gegen alles entwickelt, was die Normalität verkörpert hat. Ich habe Menschen bevorzugt, die gegen den Strom schwammen. Die anders waren und nicht zum Mainstream gehörten. Das war wohl im Endeffekt verhängnisvoll für mein späteres Leben.
SPOX: Ging es so allen Barackenkindern?
Graf: Nicht unbedingt, auch in unserer Siedlung gab es Familien, die intakt waren. Armut ist nicht gleichbedeutend mit sozialer Inkompetenz, das galt damals und das gilt auch heute noch. Sie müssen sich das so vorstellen: Ein Mensch kommt neutral auf die Welt, der ist am Anfang weder gut noch böse. Erst die nächsten Jahre entscheiden, in welche Richtung man sich entwickelt.
SPOX: Als Jugendlicher haben Sie sich dem Boxen zugewandt. Als Ventil?
Graf: Nein, überhaupt nicht. Ich hatte einen ganz anderen Grund. Ich habe gemerkt, dass nicht jeder zum Boxer geboren wird. Meine Hoffnung war es, darüber ein Selbstwertgefühl aufbauen zu können. Ich wollte Anerkennung, und die bekam ich auch, sogar über die Grenzen der Baracken hinaus. Ich habe teilweise zwar barfuss trainiert, aber das war mir egal.
SPOX: Sie haben im November 1969 Ihr Profi-Debüt gegeben.
Graf: Auf einmal stand mir die große, weite Welt auf. Das Boxen hatte zwar damals einen weitaus verruchteren Ruf als heute, aber das war für mich zweitrangig.
SPOX: Knüpften Sie zu dieser Zeit auch erstmals Kontakte ins Rotlichtmilieu?
Graf: Damals habe ich wirklich die ersten Kriminellen kennen gelernt. In den Baracken herrschte zwar Armut, aber von Kriminalität war kaum eine Spur. Das kam erst mit dem Boxen. Und trotzdem habe ich diese Leute bewundert. Die hatten Geld, dicke Autos, Frauen. Davon lässt man sich beeindrucken.
SPOX: Ihr erster Promoter Joachim Göttert tat sein Übriges dazu und sagte über Sie: "Der sieht aus wie eine Million Dollar." Wie haben Sie darauf reagiert?
Graf: Das war ja nur eine Geschichte. Die Medien nannten mich "Ali vom Waldhof" oder den "braunen Bomber". Das freut einen, war aber gleichbedeutend mit jeder Menge Druck. So lange man Erfolg hatte, war das nett. Aber es gibt eben auch die andere Seite.
SPOX: Ihr Erfolgssträhne riss 1970 gegen den Jugoslawen Ivan Prebeg, nachdem Sie ihre sechs vorherigen Kämpfe allesamt vorzeitig gewonnen hatten. Wurden Sie verheizt?
Graf: Das kann man schon so sagen, ich hatte ja kein Mitspracherecht, das hat alles mein Manager entschieden. Ich war dieser Aufgabe nicht gewachsen, mir fehlte die Erfahrung. Ich war zwar auch gegen Prebeg überlegen, aber er ist anders als die Gegner davor nicht umgefallen. Irgendwann habe ich komplett überpaced und war am Ende ein leichtes Opfer für ihn.
SPOX: War diese Niederlage der Knackpunkt, der zum Absturz ins Rotlichtmilieu führte?
Graf: Das würde ich nicht sagen. Ich habe eine andere Theorie. Es gab keinen wirklichen Knackpunkt, eigentlich war meine Fehlentwicklung fast schon logisch. Es wäre seltsam gewesen, wenn ich eine erfolgreiche Karriere hingelegt hätte. Der Weg in die Hölle geht nun mal schnell.
SPOX: Das müssen Sie erklären.
Graf: Ich habe mit der Zeit einige Gestalten aus der Frankfurter Unterwelt kennen gelernt. Früher oder später wäre ich sowieso bei denen gelandet, ich hatte eigentlich nie eine echte Chance. Die Niederlage hat das nur beschleunigt.
SPOX: Wie ging es weiter?
Graf: Über ein paar Jungs im Trainings-Camp wurde ich immer häufiger in einschlägige Lokale eingeladen und habe mich mit den ersten Prostituierten unterhalten. Das war ein schleichender Prozess, den man selbst gar nicht richtig wahrgenommen hat. Ich war immer noch ein schüchterner Junge, der diese Leute und ihre Arbeit moralisch nicht in Frage stellen wollte.
Seite 1: Graf über die Alkoholsucht, die Baracken und sein Box-Debüt
Seite 2: Graf über das Rotlichtmilieu, den Knast und einen Ex-RAF-Terroristen
Seite 3: Graf über sein Comeback, einen bitteren Trick und seinen neuen Job
SPOX: Mit der Zeit stiegen Sie auf und hatten immer mehr Einfluss. Wie sahen Ihre Aufgaben aus?
Graf: Ich hatte Prostituierte, die für mich angeschafft haben. Dazu Beteiligungen an Klubs und illegalen Spiel-Casinos. Auf einmal hatte ich Geld, Frauen und Anerkennung.
SPOX: War es nicht schwer, sich an das Milieu zu gewöhnen?
Graf: Das geht relativ schnell. Man arbeitet nur noch nachts, die Ideale und Wertvorstellungen nehmen ab. Man trifft sich mit Kollegen, hat immer die gleichen Anlaufstellen und teilt das Finanzielle auf. Es ist fast schon ein geordneter Alltag.
SPOX: Haben Sie nicht in Angst gelebt? Vor der Polizei oder vor verfeindeten Banden?
Graf: Angst ist das falsche Wort. Natürlich ist man vorsichtig. Gewalt ist eine Währung auf der Straße, dessen muss man sich bewusst sein. Ich habe einige Schießereien erlebt und hatte immer das Glück, nie verletzt worden zu sein. Aber trotzdem habe ich mir keine Gedanken über mögliche Konsequenzen gemacht.
SPOX: Können Sie sich noch an den damaligen Charly Graf zurückerinnern? Quasi an Ihr junges Alter Ego?
Graf: Ich habe Sachen gemacht, die jenseits von Gut und Böse waren. Schuldgefühle kannte ich einfach nicht. Als Zuhälter verliert man sowieso den Respekt vor Frauen. Anders geht es auch gar nicht. Ich war ein asozialer Kotzbrocken, wenn man es auf den Punkt bringen will.
SPOX: Die Quittung dafür kassierten Sie einige Jahre später vom Staat. Wegen Glücksspiels, Zuhälterei und Rohheitsdelikten saßen Sie mit Unterbrechungen insgesamt rund zehn Jahre in Haft. Können Sie sich noch an das Gefühl erinnern, als Sie zum ersten Mal Ihre Zelle betraten?
Graf: Das war der Super-Gau. Draußen war ich ein Mensch, der an nichts gebunden war. Ich konnte machen, was ich wollte, jenseits von allen Regeln. Und genau das wurde mir genommen. Es war ein unterirdisches Gefühl.
SPOX: Wie wurden Sie im Gefängnis als ehemalige Rotlicht-Größe aufgenommen?
Graf: Das war einfach, den einen oder anderen kannte ich ja noch von draußen. Außerdem herrscht im Gefängnis der Darwinismus, der Stärkere setzt sich durch, man teilt sich den Raum ja nicht mit Klosterschülern. Aber damit hatte ich dank meiner Box-Vergangenheit keine Probleme. Mit der Zeit tauchten allerdings andere auf.
SPOX: Zum Beispiel?
Graf: Je länger ich einsaß, desto schlimmer wurde für mich nicht das Eingesperrtsein, sondern das Leben mit den anderen Häftlingen. Ich habe Menschen getroffen, denen einfach nicht mehr zu helfen war. Die mich ganz krank gemacht haben. Man musste aufpassen, dass das Negative in einem nicht verstärkt wurde.
SPOX: 1980 zettelten Sie in der JVA Mannheim eine Meuterei an und wurden danach in die JVA Stuttgart-Stammheim verlegt. Warum?
Graf: Mir wurde nicht erlaubt, meine kranke Mutter zu besuchen. Das war mein Antrieb, die anderen Häftlinge hatten sicherlich ihre eigenen Gründe. Als an einem Tag das Essen ungenießbar war, entwickelte sich alles von selbst. Wir übernahmen das Kommando und bildeten sogar ein Komitee, das mit der Gefängnisleitung verhandelte. Das war eine sehr intensive Zeit.
SPOX: Die Meuterei und die folgende Verlegung sollte sich für Sie als Glücksfall erweisen. In der neuen JVA lernten Sie den ehemaligen RAF-Terroristen Peter-Jürgen Boock kennen.
Graf: Wir haben uns im Hof getroffen. Ich weiß noch meine ersten Worte an ihn: "Was willst du hier, du Zwerg!" Und er raunzte etwas von "vollgefressenem Zuhälterschwein".
SPOX: Und daraus entwickelte sich eine Freundschaft?
Graf: Ja, wir haben voneinander profitiert. Durch ihn bin ich zur Literatur gekommen und habe angefangen, Hesse und Faulkner zu lesen. Wir haben über Gott und die Welt diskutiert. Ich war fasziniert davon, wie er geredet hat. Er hat mich erkennen lassen, wer ich bin und warum Gewalt falsch ist. Im Gegenzug habe ich ihn trainiert.
SPOX: Ein früherer RAF-Terrorist, der einem Boxer die Sinnlosigkeit von Gewalt erklärt. Das klingt paradox, oder?
Graf: Das mag sein, der Baader-Meinhof-Komplex war mir durchaus ein Begriff, aber es war vielleicht genau seine Art, die ich in dieser Zeit gebraucht habe. Ich bin blind durch das Leben gelaufen, und er hat mir die Augen geöffnet.
SPOX: Vor allem die Ballade "Willy" von Konstantin Wecker soll es Ihnen in dieser Zeit angetan haben.
Graf: Seine Musik hat mich begeistert. Das Lied hat meine Wut ausgedrückt, meinen Hass.
SPOX: Den Hass auf was?
Graf: Auf alles. Auf den Richter, auf die Polizei, sicherlich auch ein wenig auf mich selber. Die Zelle wurde zu meiner Bibliothek - und irgendwann auch zu meiner Trainingshalle.
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SPOX: Sie sprechen es an. Sie haben im Knast wieder mit dem Boxen angefangen und durften 1984 sogar als erster Häftling in Deutschland einen offiziellen Kampf außerhalb des Gefängnisses bestreiten. Wie kam es dazu?
Graf: Ich habe einen Brief an einen Veranstalter geschrieben, in dem ich erklärte, eine offizielle Genehmigung zu haben. Das war natürlich eine Lüge. Aber auf einmal war das ein großes Thema und der Gefängnisdirektor wollte sich wohl nicht die Blöße geben, alles aufzuklären. Er war ja auch in den Medien, das hat ihm wohl gefallen.
SPOX: Wie liefen Ihre Ausflüge ab?
Graf: Vier Beamte begleiteten mich zum Ring. Sie standen während des Kampfes sogar in meiner Ecke und sollten mich coachen, aber sie hatten keine Ahnung vom Boxen. Die meisten dachten wohl auch, es wäre eine einmalige Sache. Aber ich habe gewonnen und durfte weitermachen.
SPOX: Haben Sie nie über eine Flucht nachgedacht?
Graf: Nein, keine einzige Sekunde. Ich hatte ja sowieso nicht mehr lange vor mir. Und sich ins Ausland abzusetzen, fand ich nicht wirklich reizvoll. Außerdem wollte ich das den Wachen, die bei meinen Kämpfen dabei waren, nicht antun.
SPOX: Wie haben die anderen Häftlinge auf Ihre Box-Ausflüge reagiert?
Graf: Dazu muss man wissen, dass normalerweise jeder Gefängnisinsasse ein Egomane ist, der sich nicht über das Glück der anderen freut. Aber nach meinem ersten Kampf bin ich durch den Gang zu meiner Zelle gegangen, es war drei, vier Uhr nachts. Und auf einmal haben alle Häftlinge einen Heidenlärm gemacht und mich gefeiert. Das war schon eine unvergessliche Situation.
SPOX: Sie wurden in den 80er Jahren sogar noch mal Deutscher Meister, verloren den Titel aber dann in einem sehr kontroversen Kampf gegen Thomas Classen.
Graf: Der Kampf war geschoben, dafür konnte mein Gegner allerdings nichts. Er hat aber Klasse bewiesen, als er mir 2012 die Plakette überreicht hat, als symbolische Entschuldigung. Das rechne ich ihm hoch an.
SPOX: Strittige Punktentscheidungen gehören auch heutzutage noch zum Boxen dazu. Hat sich nichts verändert?
Graf: Naja, heutzutage machen sie das zumindest eleganter. Man sucht schon im Vorfeld Gegner aus, die Fallobst sind, dann läuft das sauberer ab. Das braucht aber auch niemanden zu wundern, denn die Leute, die damals etwas im deutschen Boxen zu sagen hatten, sind ja immer noch im Geschäft.
SPOX: 1988 wurden Sie aus der Haft entlassen und schlugen sich danach mit Gelegenheitsjobs im Allgäu durch, unter anderem als LKW-Fahrer und Vieh-Auktionator. Haben Sie sich dort vor Ihrer Vergangenheit versteckt?
Graf: Nein, ich habe mich nicht versteckt, ich wollte einfach weg aus Mannheim. Dort war ich in einer Schublade gefangen, im Allgäu konnte ich neu anfangen, niemand hat mich gekannt. Es war wichtig, Abstand zu gewinnen, auch wenn es ein Kulturschock war.
SPOX: Erst rund um die Jahrtausendwende kehrten Sie nach Mannheim zurück.
Graf: Ja, mit 300 Mark bin ich damals in Mannheim angekommen. Den Tag werde ich nie vergessen. Ich bin durch die Stadt gelaufen, an einem Bistro vorbei, und ein Typ hat mich offenbar erkannt und mich auf ein paar Bier eingeladen. Danach wollte er mir unbedingt einen Ring im Wert von 10.000 Mark schenken. Ich habe mich eigentlich unwohl gefühlt, weil er auch schon angetrunken war. Aber er ließ nicht locker und sagte, dass er von Herzen komme, und das Geld hätte ich ja durchaus gebrauchen können. Als Gegenleistung wollte er nur ein paar alte Pokale und Siegerkränze von mir.
SPOX: Die Sie ihm auch gegeben haben?
Graf: Ja, aber nicht sofort. Die lagerten noch im Allgäu, also bin ich mit meinem letzten Geld mit dem Zug zurückgefahren und habe sie geholt. Ich sah wohl aus wie einer aus der Psychiatrie, weil ich den Kranz für die Deutsche Meisterschaft um den Hals tragen musste, mein Koffer war dafür einfach zu klein. Am nächsten Tag bin ich dann ins Pfandhaus, und was stellte sich heraus: Der Ring war maximal 80 Mark wert. Wenn man 12 Jahre im Allgäu ist, verliert man wohl den Sinn für die Realität. (lacht)
SPOX: Nicht jede Geschichte nach Ihrer Rückkehr in die Heimat endete aber so tragisch. Sagt Ihnen der Name Rainer Spagerer etwas?
Graf: Klar, das war auch verrückt. Rainer hat als Kind in einer Eigenheimsiedlung gewohnt, die direkt neben den Baracken lag. Für uns waren das immer die Reichen. Nun war es aber so, dass alle Kinder auf dem Weg zur Schule durch unser Viertel mussten. Ich habe mir Rainer angeschaut und ihm den Weg abgeschnitten, er konnte mir nicht ausweichen und musste mir sein Pausenbrot geben. Das ging eine Zeit lang so weiter, bis seine Mutter irgendwann zwei Brote schmierte, damit jeder von uns eines hatte.
SPOX: Und wie kommt die Verbindung zu Ihrer Rückkehr nach Mannheim?
Graf: Ich musste mir eine Unterkunft suchen und schaute bei einer Wohnungsbaugesellschaft vorbei. Als ein Mitarbeiter meinen Name hörte, grinste er mich an und sagte: "Um Gottes Willen, mein Chef wartet schon seit 30 Jahren auf Sie." Also hat er mich zu ihm geschickt - und vor mir stand auf einmal Rainer. Ich dachte schon, dass ich mir die Wohnung jetzt abschminken kann, aber er hat mir unsere gemeinsame Kindheit nicht krumm genommen. Wir haben immer noch Kontakt.
SPOX: Auch beruflich scheinen Sie mittlerweile Ihr Glück gefunden zu haben. Sie arbeiten als Sozialarbeiter mit Kindern und erzählen Ihnen aus Ihrem Leben. Erfüllt Sie das?
Graf: Ja, es macht mir viel Spaß. Ich bin nun mal das perfekte Beispiel, wie es nicht laufen soll. Deswegen kann ich ihnen Tipps geben und sie vertrauen mir. Sie sollen verstehen, dass Gewalt etwas für Feiglinge ist. Das kommt gerade bei den Jungen an, weil niemand feige sein will.
SPOX: Im Vergleich zu Ihrer Rotlicht-Zeit dürften Sie aber weitaus weniger verdienen, oder?
Graf: (lacht) Das kann man nicht vergleichen. Aber es reicht zum Überleben, von allem anderen lasse ich mich nicht mehr aus der Spur bringen. Ich hatte früher sicherlich ein größeres soziales Umfeld, aber das waren andere Zeiten. Es ist okay, wie es ist.
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