Das Recht der Wahl

Jan Höfling
15. September 201516:25
Floyd Mayweather jr. peilt gegen Andre Berto seinen 49. Sieg angetty
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Mit dem Rekord von Rocky Marciano vor Augen steigt Floyd Mayweather jr. in der Nacht von Samstag auf Sonntag um die Weltergewicht-Titel der WBC und WBA in Las Vegas gegen seinen Landsmann Andre Berto in den Ring. Die Wahl des Gegners überrascht und sorgt für jede Menge Kritik. Dabei macht der ungeschlagene Weltmeister bei seinem vielleicht letzten Kampf lediglich von einem hart erarbeiteten Privileg Gebrauch.

Als Ringrichter Kenny Bayless am zweiten 2. Mai im MGM Grand die Hand von Floyd Mayweather jr. nach dessen Sieg über Erzrivalen Manny Pacquiao in die Höhe riss, erfüllte die Halle ein Gemisch aus Anerkennung und Enttäuschung. Dabei hatte Mayweather zuvor nach zwölf Runden scheinbar endlich den Schatten, der seit Jahren über seiner Karriere lag, beseitigt. Doch statt sich rein zu waschen, blieb im Moment seines größten Triumphes ein Teil davon noch immer an ihm haften.

Keine Frage, die Statistiken des inzwischen 38-Jährigen sind ohne Zweifel einzigartig. Insgesamt 375 Runden verbrachte Mayweather im Seilgeviert, 48 Siege bei keiner einzigen Niederlage sowie 25 Titelkämpfe in knapp 18 Jahren stehen zu Buche. Zum Teil stand er gegen künftige Hall of Famer im Ring, zum Teil gegen krasse Außenseiter. Sie alle teilten ein Schicksal. Zu Boden ging er nie, gezeichnet war er selten und seine defensiven Fähigkeiten sind unerreicht. Der Mythos kommt nicht von ungefähr.

Zur Einstellung des Rekordes von Legende Rocky Marciano, der sich mit seiner Art zu Boxen die ewige Verehrung der Fans sicherte, fehlt deshalb lediglich noch ein einziger Sieg. Marciano bewegt sich in einer Sphäre, die Mayweather mit seinem nächsten Kampf auf dem Papier erreichen kann. In der Wahrnehmung der Fans fehlt ihm jedoch ein Stück zum Schwergewichtler aus Massachusetts. Und das, obwohl er im Hinblick auf die boxerischen Fähigkeiten Marciano längst weit enteilt ist.

Der Pacquiao-Makel

Der Wert von Zeit wird häufig unterschätzt. So manches kann im Laufe eines Lebens ausgebessert werden, einige Möglichkeiten jedoch verstreichen, sind unwiederbringlich verloren - egal, wie groß die Anstrengungen auch sein mögen. Es handelt sich um einen Umstand, den auch Mayweather erfahren musste. Dass das Duell gegen Pacquiao dem Hype als "Kampf des Jahrhunderts" nicht gerecht werden konnte, war so nebensächlich wie die Verletzung des Mannes von den Philippinen.

Im Zentrum der Kritik stand stets der Zeitpunkt. Mayweather sei zu oft ausgewichen, so die weitläufige Meinung. Er, dem das Alter aufgrund seiner Art zu Boxen kaum etwas anzuhaben scheint, habe den Moment des eigenen Vorteils abgewartet und Pacquiao nicht auf dem Höhepunkt dessen Schaffens geboxt. Ein Makel, der dem Weltmeister anhaftet, den er niemals ablegen können wird und der zudem die kalkulierende Art des Geschäftsmannes Mayweather unterstreicht, die ihn neben privaten Verfehlungen zum idealen Bösewicht werden lässt.

"Mein Job war es, da raus zu gehen und wie ein Schachspieler zu denken. Und genau das habe ich getan", konterte der US-Amerikaner, dessen Stil den Fans das Mitfiebern schwer macht, trocken. Letztlich habe er schließlich "einen Weg gefunden, zu gewinnen" und dies sei "alles was zähle", so der 38-Jährige weiter. Eine Aussage, die jeder noch so genauen Prüfung standhält.

Auch die Tatsache, dass nach Pacquiao ein Gegner folgen würde, der in Sachen Wahrnehmung kaum an den 36-Jährigen heranreichen würde, war bereits im Vorfeld ersichtlich. Dennoch sorgte Mayweather mit der Wahl Andre Bertos für eine der größten Überraschungen der letzten Jahre - und gleichzeitig für jede Menge Unverständnis in der Box-Welt.

Spiel auf Sicherheit?

"Ich bin bereit, meine Handschuhe an den Nagel zu hängen und die Zeit mit meinen Kindern zu verbringen", unterstrich er gegenüber Showtime: "Viele Kämpfer können diese Entscheidung nicht selbst treffen. Der Boxsport trifft jene für sie." Besonders der Hintergrund, dass der Kampf in die Geschichtsbücher eingehen und sein Vermächtnis eventuell abrunden wird, ließ die Kritik wachsen. Ein Abgang, der dem Schaffen Mayweathers gerecht werden solle, habe definitiv anders auszusehen, hallte es nach der Verkündung seines Gegners durch die Medien.

Zwar war ein Catchweight-Kampf gegen Mittelgewichtler Gennady Golovkin trotz etwaiger Spekulationen nie ein Thema, dennoch hielt auch das Weltlergewicht interessante Optionen parat. Mit Keith Thurman, Kell Brook, Shawn Porter oder den von den Fans favorisierten und gleich mehrfach übergangenen Amir Khan stand eine Fülle von Namen im Raum. Vor allem Khan witterte endlich seine Chance. Doch Mayweather entschied anders. Während er für die Konkurrenz eine Tür endgültig geschlossen haben könnte, öffnete er Berto ein Fenster. SPOX

Der Landsmann Mayweathers, dem einst große Anlagen bescheinigt wurden und der Gürtel der WBC und IBF im Weltergewicht hielt, lässt jedoch die berechtigte Frage aufkommen, warum ausgerechnet er die Möglichkeit auf einen Titelkampf verdient hat. Drei seiner letzten sechs Duelle musste Berto abgeben, im Jahr 2012 wurde ihm die Einnahme von leistungssteigernden Substanzen nachgewiesen und 2013 folgte eine Schulteroperation, die die Fortsetzung seiner Karriere bedrohte. Eine Bewerbung mit Nachdruck sieht anders aus.

Dennoch ist Mayweather von seiner Wahl überzeugt. "Der Unterschied zwischen Berto und Pacquiao ist lediglich, dass die Medien einen von beiden über alle Maßen gehyped haben. Den anderen nicht", so der Weltmeister. Angesprochen auf Khan, der nach Siegen über Devon Alexander und Chris Algieri, mehr als bereit schien, hatte er ein paar wenige Worte übrig: "Wie viele Titel hat Khan bisher gewonnen? Zwei. Berto hat ebenfalls zwei." Ein Vergleich, der angesichts der aktuellen Verfassung bestenfalls mit einem Schmunzeln hinzunehmen ist.

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Seite 2: Eine Farce, Potential zum Schocker und Mayweathers eigene Welt

Berto? Eine Farce!

"Es ist eine Farce", brachte es Pacquiao-Promoter Bob Arum gegenüberThe Telegraph auf den Punkt: "Mayweather hätte gegen Khan antreten sollen. Es wäre ein interessanter Kampf geworden." Eine Tatsache, die wohl auch die Fans so sehen. Im vergangenen Jahr siegte der Brite bei einer Abstimmung auf Mayweathers Webseite, als dieser seine Anhänger hinsichtlich seines Gegners konsultierte.

Statt jedoch gegen Khan in den Ring zu steigen, wählte Mayweather den unterlegenen Marcos Maidana und gewährte dem Argentinier sogar das Glück eines Rückkampfes. Die Entscheidung für Berto war also das dritte Mal, das Mayweather Khan aus dem Weg ging. Ein Vorwurf, den er sich gefallen lassen muss, wäre der 28-Jährige aktuell die wohl größte Herausforderung und somit die einzige Option für ein vermeintliches Karriereende.

Die Geschwindigkeit der Hände des Briten, dem als Entschädigung ein Duell mit Pacquiao winken könnte, gepaart mit dessen Größe und Athletik sowie dem Altersunterschied von zehn Jahren hätte in der Tat für erhebliche Probleme sorgen können. Berto, mit dem er sich Coach Virgil Hunter teilt, wünscht Khan als fairer Sportsmann dennoch nur das Beste: "Ich weiß, dass er hart arbeitet und Floyd alles abverlangen wird."

Schocker des Jahrhunderts

Ob sich die harte Arbeit am Ende auszahlt, ist fraglich. Aber immerhin präsentierte sich der Herausforderer zuletzt in bestechender Verfassung. "Ich bringe die nötige Kombination aus Geschwindigkeit und Kraft mit und glaube, dass ich deutlich athletischer bin, als die letzten Gegner Mayweathers", sagte Berto beim öffentlichen Training: "Da wo meine Familie herkommt, ist es zudem deutlich schlimmer als alles, was im Ring jemals passieren kann."

Berto, dessen Eltern und Verwandte aus Haiti kommen, spielt damit zum einen auf die Lebensumstände an, zum anderen auch auf ein spezielles Erlebnis im Jahr 2010. Vor fünf Jahren verloren bei einem schweren Erdbeben auf dem Inselstaat über 250.000 Menschen ihr Leben. Der 31-Jährige hatte selbst den Verlust von Freunden und Familienmitgliedern zu beklagen. Er pausierte seine Karriere, gründete die Berto Dynasty Foundation und reiste nach Haiti, um den Menschen vor Ort zu helfen.

Nicht zuletzt aufgrund seiner Vergangenheit ist der Herausforderer ein Linksausleger mit unbändigem Willen, dessen einzige Hoffnung in der Power seiner Rechten liegt. Während die Linke zwar als Jab oder Haken durchaus Schaden anrichten kann, war es vor allem seine Schlaghand, die dafür sorgte, dass 23 seiner 30 Siege vorzeitig zustande kamen.

"Ich komme, um Floyd in den Arsch zu treten", kündigte Berto an. War die Bezeichnung als "Kampf des Jahrhunderts" letztlich übertrieben, wäre das Prädikat "Schocker des Jahrhunderts" im Falle eines Sieges des 100-1-Außenseiters, selbst James "Buster" Douglas wurden gegen Mike Tyson größere Chancen eingeräumt, komplett gerechtfertigt.

Der Geist ist willig...

Die Richtung in der Nacht auf Sonntag scheint klar: Berto muss marschieren - und wird es auch. Ob mit zwei geschwollenen Augen gegen Robert Guerrero oder einer gerissenen Sehne in der rechten Schulter gegen Jesus Soto Karass, der US-Amerikaner kämpfte bis zum Letzten. Dennoch verlor er. Gegen Floyds extreme Ausdauer wird es interessant zu sehen sein, wie lange er das Tempo halten kann.

Besonders da es nicht zu seinen Stärken zählt, einem Gegner den Weg abzuschneiden und ihn zu stellen. Gegen Mayweather dürften deshalb viele Hände des Herausforderers, die ordentlich Kraft kosten, im Nichts landen. Auch der Altersvorteil von sieben Jahren ist bedeutungslos. Die Reaktionen und die unglaubliche Bewegung des Oberkörpers und der Beine werden Berto vor schier unlösbare Probleme stellen, von Mayweathers Ring-IQ und seiner Erfahrung ganz zu schweigen.

Ich mache die Welt, wie sie mir gefällt

All diese Punkte unterstreichen, warum die Wahl des Titelverteidigers für Kopfschütteln sorgt. Die Sichtweise ist jedoch eindimensional. Mayweather hat so ziemlich jeden Pay-per-View angeführt, auf seinem Sturm an die Spitze der Pound-for-Pound-Rangliste mehrere zukünftige Hall of Famer aus dem Weg geräumt und sich damit ein besonderes Privileg hart erarbeitet.

Er ist in der Position, sich seinen Gegner anhand nur eines einzigen Kriteriums auszusuchen: Weil er es so möchte. Dass das Interesse eher mittelmäßig ist und im MGM Grand sogar noch mehrere tausend Karten für erschwingliche Preise zu haben sind, dürfte Mayweather dabei wenig stören. Sein Vermächtnis ist bereits vor dem Kampf gegen Berto in Stein gemeißelt, eine Niederlage könnte jenes zwar in seinen Grundfesten erschüttern, es allerdings dennoch nicht einstürzen lassen.

Läuft alles wie geplant, steht am Sonntag der 49. Sieg in seiner Vita - und damit ein weiterer Meilenstein. Dass es das allerdings wirklich war, darf getrost bezweifelt werden. Vor dem Hintergrund seines enormen Egos und dem Titel "The Best Ever", den er sich selbst stets vollmundig verleiht, wird sich der Pound-for-Pound-König einen alleinigen Rekord nicht nehmen lassen. Die Tatsache, dass eine runde 50 deutlich besser aussieht als eine 49, versteht sich dabei von selbst.

Ein Umstand, der die Wahl Bertos zusätzlich in ein anderes Licht rückt. Mayweather braucht die große Bühne, wie die Luft zum Atmen und wird auch einem weiteren großen Zahltag, der sich aus dem Wettstreit zwischen Showtime und HBO ergeben wird, nicht abgeneigt sein. Ob dann auch endlich die Stunde Khans geschlagen hat oder Mayweather neben seinem Mythos auch noch den Running Gag aus der Chance des Briten festigt, ist jedoch offen.

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