Der geliebte Diktator

Ulli Wegner hat das Boxen nachhaltig geprägt
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Ein Leben als "Sportler, Trainer, Arbeiter, Schwarzarbeiter und in der Abendschule" war aber selbst für den engagierten Wegner zu viel für einen 24 Stunden Tag. Er entschied sich, Trainer zu werden. Unter den Fittichen von Hans Spazierer, dessen Assistenztrainer Wegner bereits mit 27 geworden war, reifte ein Getriebener heran, der den deutschen Boxsport prägen sollte, wie es so nur wenige vermochten.

Zusammen mit Fritz Sdunek, der mit 67 Jahren einem Herzinfarkt erlag und dessen Todesnachricht Wegner am Esstisch sitzend so hart traf, dass ihm "schwarz vor Augen wurde", sowie Manfred Wolke prägte er Generationen. Die Trainer der DDR-Schule, die den Sport in Deutschland groß gemacht haben, verband dabei stets Konkurrenz und Freundschaft gleichermaßen.

Freud und Leid liegen eng beisammen

Wegner, der wohl auch bedingt durch sein Elternhaus stets ein Freund klarer Worte ist und seit jeher über eine beißende Ironie verfügt, musste auf seinem Weg nach oben aber auch Rückschläge hinnehmen. Den größten Treffer hatte er in Berlin als Spitzenkader-Trainer zu verdauen. Er verscherzte es sich mit TSC-Leiter Bernd Knispel 1985, die Folge war eine dreijährige Suspendierung.

Auch privat war in den vergangenen Jahren nicht alles nach Plan verlaufen. Von seiner ersten Frau Monika, die Wegner in Erfurt kennen und lieben gelernt hatte und mit der er zwei in Gera geborene Töchter, Anett und Susanne, hat, war er bereits geschieden. Eine "persönliche Niederlage" für ihn.

Statt eines Familienurlaubs war deshalb Party auf Rügen angesagt. "Wir hatten nichts anderes als den kilometerlangen Strand, Wasser, Braunwerden und Disko im Sinn", erzählt Wegner, der sich laut eigener Aussage "ganz gut bewegen kann zur Musik", auch wenn er keine Tanzschule besucht habe. Knapp 32 Jahre später dürfte er bei den Gedanken an den Ausflug aus dem Schmunzeln nicht herauskommen.

Was er aus dem Urlaub mit nach Hause nehmen sollte, waren nicht nur jede Menge Erinnerungen an durchtanzte Abende und das Meeresrauschen in seinen Ohren, sondern die Liebe seines Lebens: Margret.

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Eisbrecher auf Wegner-Art

"Entschuldigen Sie bitte, ich würde gerne mit Ihnen tanzen", Wegner legte eine Kunstpause ein, "aber nur, wenn Sie die Schuhe ausziehen. Sonst liege ich mit meinem Kopf in Ihrer Brust." Es waren die ersten Worte, die die Oberstufenlehrerin für Mathematik und Chemie vom damals 43-Jährigen zu hören bekam.

Wegners Glück war es, dass die ebenfalls bereits Geschiedene auf der Schlagfertigkeitsskala wohl mindestens auf Augenhöhe mit dem Mann, der da vor ihr stand, anzusiedeln ist. Anders ist es wohl kaum zu erklären, dass beide noch immer glücklich verheiratet sind und zusammen in Berlin-Tegel in einem kleinen Bungalow wohnen. Auch Wegners Hingabe zum Boxen war für die Liebe nie ein Hindernis.

Nach 122 Medaillen im Junioren- und Seniorenbereich bei den Amateuren sowie 25 bei Olympia, Welt- und Europameisterschaften erreichte die Besessenheit im Oktober 1996 nach dem Wechsel zum Sauerland-Stall und somit zu den Profis die nächste Stufe.

Wegners Job zwingt ihn seit jeher dazu, wochen- oder gar monatelang auf Volllast zu arbeiten. Er ist viel unterwegs, muss seine Boxer bei Laune halten, ohne die Zügel schleifen zu lassen. Sie antreiben, aber nicht verbrennen. Immer wieder sorgen Nebenschauplätze für Probleme. Das Umfeld verdreht einem Boxer den Kopf, es gibt Streitigkeiten um Börsen oder einfach nur Heimweh bei Nachwuchstalenten.

Diktator und Ziehvater

In diesen Momenten ist er Menschenflüsterer. Es sind Phasen, die an seinen Kräften zehren. Anmerken lassen darf er sich nichts. Bei Wegner herrscht eine klare Hierarchie. "Im Leistungssport ist kein Platz für Demokratie", erklärt der Mann, der in der Trainingshalle mit seiner kratzigen Stimme einen Ton anschlagen kann, der im Vergleich zu seinen berühmten Ansprachen in der Ringecke wie "Einschlaflieder für dreijährige Mädchen" wirkt. Disziplin, Pünktlichkeit und unbedingter Wille sind oberste Maxime.

Einen Herzinfarkt, der nur dank des Sauerland-Physiotherapeuten Walter Knieps, der die Symptome beim Hobby-Kick der Mitarbeiter schnell erkannt hatte, glimpflich ablief, hat er bereits hinter sich.

Die Sportler spüren die unbändige Hingabe ganz genau. "Er ist für mich ein ganz besonderer Mensch: Trainer, Ersatzvater, Berater, Diktator", sagte Arthur Abraham. "Ich liebe ihn von ganzem Herzen."

Abraham ist ein wahrer Meister darin, seinen Trainer seit nunmehr 15 Jahren entweder extrem stolz zu machen oder durch seinen Schlendrian zur Weißglut zu treiben. Immer wieder stand die Zusammenarbeit, die vor allem durch den Blutkampf von Wetzlar gegen Edison Miranda, der für Wegner sogar eine Anzeige wegen Körperverletzung nach sich zog, für Aufsehen gesorgt hatte, vor dem Aus. Immer wieder rauften sie sich zusammen.

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Wegner ist für seine Boxer mehr als nur ein Trainer. Er ist eine Art Vaterfigur, hasst es, wenn seine Schützlinge ihre Möglichkeiten nicht ausreizen.

"Ein Trainer ohne Kämpfer ist nichts", stellt Wegner klar. Der Sport vermöge es, "Menschen zu formen". Er wolle seine Boxer deshalb nicht nur als Sportler voranbringen, sondern auch als Menschen. Fehlschläge wie etwa bei Marco Huck, zu dem Wegner zwar noch immer ein väterliches Verhältnis pflegt, ihn aber vor schwerwiegenden Fehlentscheidungen nicht schützen konnte, sind besonders harte Schläge für das Seelenleben des 75-Jährigen.

Mitten ins Herz

Eine Beziehung, die allerdings noch über allen anderen steht, ist die zu Sven Ottke. Wegner hatte den Spandauer Jungen mit dem Spitznamen Phantom bereits bei den Amateuren unter seiner Obhut, überredete ihn nach seinem Wechsel ins Profi-Lager dazu, es ihm gleich zu tun. Was folgte, war Kunst.

Das totale Vertrauen. Bedingungslos. Erfolgreich.

Als ihm Ottke, der sich als einziger Weltmeister aus Deutschland ohne eine Niederlage und mit den Gürteln der WBA und IBF im Supermittelgewicht um die Hüften vom Profiboxen verabschieden konnte, dann wie verabredet erst vor der letzten Runde seines Kampfes gegen Armand Krajnc als Antwort auf Wegners Ansprache "Drei Minuten noch, du toller Junge", mit den Worten "Ja, und dann muss Schluss sein" das Karriereende offenbarte, war Wegners Reaktion unvergesslich. Jeder Schritt auf der kleinen Treppe fiel ihm sichtlich schwer. Tränen schossen ihm in die Augen. Es waren Tränen des Dankes.

"Es war vorbei. Aus und vorbei. Und jede Gefühlswelle, die mich überrollte, zeigte mir, wie viel mir die Jahre mit Svennie bedeutet hatten. Ich spürte tiefste Wehmut, riesige Dankbarkeit, einen Schuss Erleichterung und grenzenlose Euphorie, das alles mit ihm geschafft zu haben", erinnert sich Wegner, der sein verweintes Gesicht in den letzten drei Minuten des Kampfes tief in einem weißen Handtuch vergraben hatte. Die Szene in Magdeburg steht sinnbildlich für die begrenzte Zeit eines Trainers mit seinem Schützling - und bei ihm für noch so viel mehr.

Und dennoch war es nur eines von unzähligen Kapiteln in der Geschichte des mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichneten Penkuner-Kuhjungen, der mit Eike Walther, Ronald Poye, Thomas Ulrich, Markus Beyer und so vielen weiteren Amateuren und Profis Großes für den Boxsport in Deutschland geleistet hat. Mit Jack Culcay oder hochgehandelten Talenten wie Leon Bunn, Emir Ahmatovic soll es weiter gehen. Auch Kubrat Pulev will Wegner zum Weltmeister machen.

Warum der Mann, der schon lange Kultstatus unter Boxfans genießt, sich all das überhaupt noch antut? Warum er noch immer mit hochrotem Kopf in der Ecke steht? Ganz einfach: Weil es das ist, was er liebt. Weil er als manischer Grübler noch kein bisschen müde ist und noch immer mitten in der Nacht im Hobby-Keller sitzt oder seine Frau im Ehebett hochschrecken lässt, um zum 500. Mal den nächsten Gegner von einem "seiner Jungs" zu analysieren. Weil er Ulli Wegner ist.

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