SPOX: Irgendwie haben Sie die Prügel durch die Medien auch Thompson zu verdanken. Wie ist heute Ihr Verhältnis zu ihm?
Hingsen: Sehr gut, wir treffen uns regelmäßig. An meinem 50. Geburtstag habe ich ihn nach Mauritius eingeladen, wo wir eine Woche miteinander verbracht haben. Er war mit seiner Familie da, ich mit meiner Lebensgefährtin. Kürzlich waren wir auch mal gemeinsam bei Markus Lanz in der Sendung. Es ist einfach immer toll, wenn wir uns sehen. Wenn wir zusammen sind, umgibt uns eine ganz besondere Aura. Das spüren wir beide.
SPOX: Also würden Sie sagen, dass es gut war, dass es Sie zeitgleich gegeben hat? Immerhin wurde dadurch dieses Duell erst möglich, über das man heute noch spricht.
Hingsen: Absolut. Es ist sogar sehr gut, dass es uns gleichzeitig im Zehnkampf gegeben hat, denn wir haben eine Geschichte vorzuweisen, die es in dieser Disziplin so eigentlich noch nicht gab. Das verbindet einfach.
SPOX: Aktuell sind Sie gemeinsam für die Movember-Kampagne im Einsatz.
Hingsen: Genau. Wir wollen auf Prostata- und Hodenkrebs hinweisen. Das ist eine äußerst wichtige Sache, um das Thema Männergesundheit nach vorne zu bringen. Wir sind als Botschafter dabei. Es ist toll für uns, den Menschen zu zeigen, dass es trotz der Rivalität möglich ist, sich anzufreunden und harmonisch die gleichen Ziele zu verfolgen.
SPOX: Sie wurden nicht nur durch Ihre Weltrekorde und das Duell mit Thompson bekannt, sondern auch durch diesen unglaublichen Wettkampf bei den Spielen 1988 in Seoul. In der ersten Disziplin, dem 100-Meter-Rennen, legten Sie drei Fehlstarts hin, was das Ende bedeutete. Was war da denn los?
Hingsen: Das verfolgt mich für alle Zeiten. (lacht) Auch damals spielten verschiedene Faktoren eine Rolle. Meine Beschwerden mit der Patellasehne wurden in dieser Zeit immer schlimmer, im Stadion gab es wechselnde Winde. Und ich hatte im Kopf, dass ich eine Zeit brauche, die deutlich unter elf Sekunden liegt. Ich war nur auf diesen verdammten Start fixiert - und schon war ich zwei Mal zu früh losgerannt. Mein Fehler.
SPOX: Was den dritten Fehlstart angeht, gibt es bis heute Diskussionen. Einige sind sich sicher, dass es kein Fehlstart war.
Hingsen: Ich bin mir sogar ganz sicher, dass es keiner war. Wenn man sich die Zeitlupe ansieht, erkennt man, dass noch andere vor mir losgesprintet sind. Aber mir wurde auch der dritte Fehlstart zugerechnet. Insgesamt war es damals etwas wild. Die Koreaner hatten die elektronischen Startmesser eingeführt und es gab zig angebliche Fehlstarts, die aber keine waren.
SPOX: Also spielten die Technik und Ihr Kopf nicht mit?
Hingsen: Ja, das kann man so sagen. Dabei war die Chance auf den Olympiasieg so groß, weil alle Favoriten, darunter auch Daley, angeschlagen waren. Letztlich holte der damalige DDR-Athlet Christian Schenk Gold. Den hatte wirklich niemand auf dem Zettel.
SPOX: Apropos nicht auf dem Zettel haben. Bestimmt konnte sich keiner vorstellen, dass Sie eines Tages Schauspieler werden würden. Sie spielten in "Ein Schloss am Wörthersee" einen Fotographen und waren in dem Klamauk-Film "Drei und eine halbe Portion" mit dabei.
Hingsen: Ich lernte in München den Regisseur kennen, der die "Supernasen" mit Thomas Gottschalk und Mike Krüger gemacht hat. Dann wiederum lernte ich den Produzenten Karl Spiehs kennen. Der kam auf mich zu und wollte einen Edgar-Wallace-Film mit mir drehen. Ich meinte dann, dass das doch ein bisschen sehr weit hergeholt sei. Ich in einem Edgar-Wallace-Film, also bitte. Er schlug schließlich "Drei und eine halbe Portion" vor, in dem auch Rolf Milser, der Olympiasieger im Gewichtheben, und Karl Dall mitspielten. 1985 lief der Film in den Kinos, ich erinnere mich da sehr gerne dran. Wir drehten vier Wochen auf Mallorca und hatten einen riesigen Spaß.
SPOX: Die Presse nahm Ihren Ausflug in die Schauspielerei allerdings völlig humorlos zur Kenntnis.
Hingsen: Das können Sie aber laut sagen. Die hatten null Verständnis dafür. Die erzkonservativen Journalisten meinten: Der soll keinen Film machen, sondern sich auf den Zehnkampf konzentrieren, damit er mal den Thomspon schlägt. Die waren einfach nicht entspannt genug.
SPOX: Wie fanden Sie sich selbst als Schauspieler?
Hingsen: Ganz gut, muss ich sagen. (lacht) Ich hab ja sogar noch am Drehbuch mitgeschrieben. So kam es dazu, dass ich auf der Flucht vor Gangstern einen Stabhochsprung über eine Mauer gemacht habe. Hinter der Mauer ging es fünf Meter runter, da rauschte ich in Strohballen hinein. Das war einfach alles sehr lustig für mich.
SPOX: Sie probieren gerne mal Dinge aus. 2006 waren sie bei Let's Dance dabei.
Hingsen: Richtig. Ich mochte Tanzen schon immer, war rhythmisch einigermaßen begabt. Meine Kinder sahen die amerikanische Version von Let's Dance und als die Anfrage kam, sagten Sie, dass ich das unbedingt machen müsste. Und was passierte? Nach der dritten Runde bekam ich nach einem Drehsprung einen Bandscheibenvorfall. (lacht)
SPOX: Damit waren Sie raus?
Hingsen: Heide Simonis durfte daraufhin weiterkommen, weil es bei mir nicht mehr ging. Dabei wurde mir gesagt, dass ich ein Mitfavorit auf den Einzug ins Finale gewesen wäre. Trotz dem unglücklichen Ende war es toll. Man trainiert vier oder fünf Stunden am Tag, das ist nicht ohne. So einen Muskelkater hatte ich jedenfalls noch nie. Es ist vom Bewegungsgefühl her einmalig. Bei lateinamerikanischen Tänzen sind Geschwindigkeit, Bewegung, Körperspannung gefordert. Das sind alles Dinge, die sie für Leistungssport brauchen. Deshalb kann ich allen Sportlern nur empfehlen, da mal mitzumachen.
SPOX: Lassen Sie uns noch über die heutige Leichtathletik sprechen, die keinen guten Eindruck hinterlässt. Bei der IAAF jagt ein Skandal den nächsten. Zerstört sich die Leichtathletik selbst?
Hingsen: Das ist keine einfache Geschichte. Man muss fast schon sagen, dass wir innerhalb des internationalen Leichtathletikverbandes mafiaähnliche Strukturen haben. Die müssen aufgebrochen werden. Es müssen Leute ran, die eine hohe Glaubwürdigkeit haben. Und die - auch was den Kampf gegen Doping angeht - die Dinge vernünftig durchsetzen. Es kann nicht sein, dass jeder sein eigenes Süppchen kocht.
SPOX: Was meinen Sie?
Hingsen: In Russland werden beispielsweise Sportler ausgenutzt. Wenn sie nicht dopen, dann sind sie nicht dabei. In Kenia dürfen sie wahrscheinlich auch nur laufen, wenn sie mitmachen. Und in China gibt es ähnliche Probleme. Es müssen Veränderungen stattfinden. Die Korruption, die ähnlich wie im Fußball auch im Umfeld der Leichtathletik stattfindet, muss aufhören. Das schwächste Glied in dieser Kette sind die Sportler. Ein Sportler will doch nicht von vornherein per se dopen. Es sind oft die Umstände, die dazu führen. Teilweise wird Doping selbst von der Staatsführung unterstützt. Was will man da als ambitionierter, leistungsorientierter Sportler machen?
SPOX: Leider wird selbst gegen gedopte Athleten oft nicht durchgegriffen.
Hingsen: Stimmt. Der Fall Gatlin ist beispielsweise ein Witz. Der wurde des Dopings überführt und läuft jetzt mit 30 noch Bestzeit. Es tut mir leid, aber da verliert der Sport die Glaubwürdigkeit. Man muss Voraussetzungen schaffen, damit es kein Ungleichgewicht gibt. Als ungedopter, ehrlicher Sportler bist du bei manchen Veranstaltungen chancenlos, aufs Treppchen zu kommen. Das kann doch nicht sein.
SPOX: Welche Rolle spielte Doping in der Leichtathletik zu Ihrer Zeit?
Hingsen: Das hat es immer gegeben - seit 1955 oder so. Die ehemalige DDR hat das beispielsweise ganz konsequent betrieben. Trotzdem würde ich sagen, dass es zu meiner Zeit nicht so durchorganisiert war wie heute. Bei mir stand jedenfalls nie einer neben dran der sagte, nimm doch mal die oder die Mittelchen.
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