Seit der Tour de France 2009 ist Tony Martin der neue Hoffnungsträger des deutschen Radsports. Knapp zwei Wochen führte der Columbia-Profi die Nachwuchswertung an und lag ausgezeichnet im Gesamtklassement. Am Ende reichte es für einen Platz im vorderen Mittelfeld. Auch in diesem Jahr will der 25-Jährige hoch hinaus.
Rechtzeitig zum Saisonhöhepunkt hat Tony Martin seine Form gefunden. Bei der Tour of California im Mai gewann er trotz starker Konkurrenz souverän das Zeitfahren durch die Straßen von Los Angeles.
Im Juni trug er das Führungstrikot bei der Tour de Suisse und war im Kampf gegen die Uhr erneut unschlagbar. Eine Woche vor Tourbeginn sicherte sich Martin zudem den deutschen Meistertitel im Zeitfahren. Die Hoffnung ist groß auf weitere starke Auftritte bei der Tour de France.
Bei SPOX verrät Martin, warum er Zeitfahren so sehr liebt und spricht über eine Annäherung an Armstrong, die Vorteile von RadioShack sowie den Kampf um das Weiße Trikot.
SPOX: Auf Ihrer Homepage ist das ganze Jahr über Tour de France. Die aktuellste News informiert über die Etappe auf den Mont Ventoux im vergangenen Jahr. Wie kommt's?
Martin: Das ist in letzter Zeit etwas eingeschlafen. Ich hatte viel zu tun und habe das Ganze dadurch ein bisschen aus den Augen verloren. Zur Tour werde ich das aber wieder aktualisieren.
SPOX: Auf dem Mont Ventoux haben sie 2009 knapp hinter dem Spanier Juan Manuel Garate den zweiten Platz belegt. War das ihr größter Erfolg - auch wenn Sie sich dafür nichts kaufen können?
Martin: Erfolg in dem Sinn jetzt nicht. Aber es war wichtig, dass ich gesehen habe: Ich kann am Berg mit den Besten mithalten. Insofern war es für meine mentale Stärke sehr wichtig. Auch die Tage im Weißen Trikot waren eine tolle Sache, genauso wie der zweite Platz in der Gesamtwertung der Tour de Suisse.
SPOX: Sie gelten als typischer Allrounder. Im Zeitfahren sind Sie stets unter den Besten, kommen gut über die Berge und werden auf Flachetappen schon mal im Sprinterzug eingesetzt. Wo sehen Sie selbst Ihre Stärken?
Martin: Ganz klar im Zeitfahren. Das ist meine Lieblingsdisziplin, da kann man sich nicht verstecken und muss einfach schnell sein. Zeitfahren ist meine Leidenschaft! Ich versuche natürlich, mich parallel am Berg weiterzuentwickeln. Es geht aber darum, nicht gleichzeitig beim Zeitfahren abzubauen. Ich denke, ich bringe alles mit, um eine große Rundfahrt weit vorne beenden zu können. Aber dazu brauche ich noch etwas Zeit.
SPOX: Kommen wir zur Vorbereitung. Sie hatten schon zu Jahresbeginn das Tourgewicht erreicht, was für ein professionelles Leben abseits des Renngeschehens spricht. Wie können Sie sich auch im Winter motivieren, nicht nachzulassen?
Martin: Ich bin ein sehr ehrgeiziger Sportler und versuche immer das Beste herauszuholen. Für mich beginnt die neue Saison schon im November. Ich lebe den ganzen Tag für den Radsport. Je eher man anfängt, desto weniger muss man im Laufe der Saison nachholen. Ich habe gelernt, mein ganzes Leben darauf auszurichten. Das ist wohl das ganze Geheimnis.
SPOX: Die jüngsten Zeitfahrsiege bestätigen Ihre gute Form. Immerhin haben Sie Zeitfahrspezialisten wie David Zabriskie oder Fabian Cancellara hinter sich gelassen. Wie ordnen Sie das ein?
Martin: Das waren sehr wichtige Siege für die Moral. Ich habe gemerkt, dass seit den Ardennen-Klassikern die Form stimmt. Damals hat sich das in den Ergebnissen noch nicht so widergespiegelt. Dann ist es sehr schön, wenn endlich Siege gelingen.
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SPOX: Wie sehen Sie angesichts der schweren Anstiege Ihre Chancen bei der Tour? Es gibt ja nur ein langes Einzelzeitfahren.
Martin: Die Tour kommt mir nicht entgegen, das ist ganz klar. Ich werde aber mein Bestes geben und gehe so rein wie im vergangenen Jahr: Die Position behaupten und so lange wie möglich die Chancen in der Gesamtwertung wahren. Sollte das nicht klappen, wäre der logische Schritt, wieder auf Etappensiege zu gehen. Aber ich werde sicher auch eine Helferrolle für Michael Rogers übernehmen.
SPOX: Welcher Etappensieg wäre denn in diesem Jahr der Wertvollste?
Martin: Der Höhepunkt ist sicher das 17. Teilstück, das auf dem Tourmalet endet. Das wäre sicher eine schöne Sache. Aber da muss man immer schauen, wie ich dann im Rennen liege und wie meine Form nach zweieinhalb Wochen Tour ist. Da würde ich dann situationsbedingt entscheiden.
SPOX: Im vergangenen Jahr waren Sie nach zwei Wochen ausgezeichnet platziert, haben dann in den letzten Tagen abgebaut und viel Zeit verloren. Gibt es ein Mittel, um eine Wiederholung zu vermeiden?
Martin: Abgebaut würde ich nicht sagen. Ich hatte sicher meine zwei oder drei schwachen Tage. Es gehört aber auch dazu, dass man bei der ersten Tour de France nicht sofort alles richtig macht. Natürlich hoffe ich, dass ich mich weiterentwickelt habe. Es ist jetzt meine dritte dreiwöchige Rundfahrt. Vielleicht muss ich das eine oder andere an den Ruhetagen verändern. Und dann hoffe ich, dass ich diesmal keinen schwachen Tag habe.
SPOX: Was müsste passieren, damit Sie die Tour als Erfolg verbuchen?
Martin: Ich wäre zufrieden, wenn ich eine gute Tour fahre, meine Leistung bringe und am Ende Michael Rogers mit meiner Unterstützung auf dem Podium steht. Ich kann jetzt nicht sagen, dass ich dies oder das erreichen will, sondern dass das Gesamtpaket stimmen muss.
Martin über seine Rolle bei der Tour und den richtigen Weg im Antidopingkampf
SPOX: Im vergangenen Jahr haben Sie zwölfmal das Weiße Trikot übergestreift bekommen. Ist die Nachwuchswertung wieder ein Ziel?
Martin: Es ist sicher so, dass ich es wieder tragen könnte, aber dieses Jahr sind streckentechnisch die Vorteile nicht gerade auf meiner Seite. Es kommt darauf an, wie ich durch Belgien und die Niederlande komme. Man muss sehen, ob sich die Chance bietet. Mit Andy Schleck gibt es auf jeden Fall einen sehr starken Konkurrenten.
SPOX: Andy Schleck ist also Ihr klarer Favorit auf das Weiße Trikot. Wen sehen Sie sonst noch vorn dabei?
Martin: Am ehesten wohl die beiden Liquigas-Profis Vincenzo Nibali und Roman Kreuziger. Im Großen und Ganzen werden es dieselben Fahrer sein wie vor einem Jahr.
SPOX: Und wer ist Ihr Favorit auf den Gesamtsieg? Gibt es überhaupt eine Chance, gegen Alberto Contador zu bestehen?
Martin: Beim Zeitfahren der Dauphine hat Contador Zeit verloren. Und Chancen gibt es immer. Er hat sicher das schwächere Team im Vergleich mit RadioShack, was denen taktisch einige Möglichkeiten eröffnet. Insofern ist Lance Armstrong wieder ein Mitfavorit. Und ich hoffe auf unseren Michael Rogers.
SPOX: Sie selbst haben verlauten lassen, Ihr Anspruch sei, sich mit den Besten zu messen. Sind Contador und Armstrong schon ein Maßstab, oder ist das noch zu weit weg?
Martin: Das ist definitiv noch weit weg. Ich denke, dass erst einmal Nibali und Kreuziger die Messlatte sind. Das wäre dann ein Top-Ten-Platz, womit ich nicht sagen will, dass ich den erreichen muss. In den nächsten zwei, drei Jahren wäre das aber schon mein Ziel.
SPOX: Sie haben schon angesprochen, dass Rogers der Columbia-Kapitän bei der Tour de France sein wird. Welche Rolle werden Sie einnehmen - die des Edelhelfers?
Martin: Sicher werde ich erst mal die Rolle des Edelhelfers einnehmen. Aber die Tour ist drei Wochen lang. Da ist es schwer zu sagen, wer welche Aufgabe übernimmt. Aber die Ausgangsposition ist so, dass Michael Priorität hat und ich ihn mit dem einen oder anderen Teamkollegen am Berg unterstützen werde.
SPOX: Kommen wir zu Ihrem Fahrstil. Ihr kraftvoller Tritt am Berg erinnert an Jan Ullrich, während Contador oder Armstrong eher leichtfüßig daherkommen. Das schien schon out gewesen zu sein. Haben Sie es schon mit der Armstrong-Technik versucht oder liegt Ihnen das gar nicht?
Martin: Das liegt mir tatsächlich nicht besonders, aber ich bin auf jeden Fall dran, mich zu verbessern und flexibler zu werden. Das lassen wir im Training einfließen. Ich denke, dass mich das noch mal ein Stück weiter nach vorne bringen wird. Insofern kommen wir da voran.
SPOX: Nach Ihrem hervorragenden Einstand bei der vergangenen Tour wurden Sie schon als der Retter des deutschen Radsports hochgejubelt. Wie gehen Sie damit um?
Martin: Ich muss ganz ehrlich sagen, dass mich das nicht allzu sehr bewegt. In der deutschen Presse wird man schnell bejubelt und genauso schnell wieder fallengelassen. Ich weiß, was ich leiste und habe ein gutes Umfeld. Wenn ich mein Team glücklich mache, ist es mir relativ egal, was die deutsche Presse schreibt.
SPOX: Ihr Team Columbia gilt als Vorreiter im Antidopingkampf. War das auch ein Grund für Ihre Unterschrift?
Martin: Als ich gewechselt bin, gab es das Team in dieser Form ja noch gar nicht. Damals hatte ich bei T-Mobile unterschrieben. Columbia hat mir sportlich eine tolle Perspektive geboten, der Antidopingkampf stand aber noch nicht so im Fokus. Ich bin froh, dass es sich so entwickelt hat und stehe voll dahinter.
SPOX: Auf Ihrer Homepage thematisieren Sie ebenfalls den Antidopingkampf. Zudem haben Sie gesagt: Ich fühle mich als glaubhafter Vertreter einer neuen Generation. Können Sie das konkretisieren?
Martin: Ich hoffe einfach, dass ich durch meine Leistung und meine Glaubwürdigkeit aufgrund der vielen Kontrollen, die ich schon hatte, ein Zeichen setzen kann. Ich erkläre mich mehr oder weniger zu jeder Aktion bereit, um diese Glaubwürdigkeit zu unterstreichen. Wir müssen die Leute einfach mit dem, was wir machen, überzeugen. Wir können uns ja nicht nackt machen und den ganzen Tag filmen.
SPOX: Der einzig richtige Weg ist also, mit offenen Karten zu spielen?
Martin: Ja natürlich, nur so kann man das Vertrauen zurückgewinnen. Und davon leben wir alle. Machen wir uns nichts vor: Die Sponsoren zahlen unser Gehalt. Wir müssen jetzt alle an einem Strang ziehen und da gehört der Antidopingkampf ganz klar dazu.
SPOX: Anderes Thema: Sie wohnen mittlerweile in der Schweiz. Hat sich dadurch Ihr Trainingsalltag geändert?
Martin: Definitiv, allein verkehrstechnisch. Es gibt einige Radwege, die sehr gut zu befahren sind. Dann sind natürlich die hohen Berge in unmittelbarer Nähe. Mit Bert Grabsch und Linus Gerdemann habe ich Fahrerkollegen um mich herum, mit denen ich Gruppen bilden kann, was das Training erleichtert. Somit bringt der Umzug einfach eine Handvoll Vorteile mit sich.
SPOX: Als Rad-Profi hat man nicht wirklich viel Freizeit. Was unternehmen Sie in den wenigen Wochen, die zur freien Verfügung stehen?
Martin: Erst mal fliege ich in den Urlaub, dann besuche ich Verwandte und Freunde, für die ansonsten nicht viel Zeit bleibt. Dann kann man auch den einen oder anderen Kilometer mal mit dem Auto zurücklegen. Also einfach Sachen, die im Laufe des Jahres untergegangen sind.
SPOX: Und für welche Hobbys bleibt dann Zeit?
Martin: Ich brauche da nicht viel. Mit Freunden unterwegs zu sein, ins Kino oder einfach mal schön essen zu gehen. Das genügt mir schon.
Martin über seine Stärke im Zeitfahren und seinen Höhepunkt bei der Tour 2010