Maillot Jaune: Die Gesamtwertung
Cadel Evans aus Down Under hat sich 2011 ganz nach oben gekämpft. Die diesjährige Streckenführung dürfte dem Wahl-Schweizer eigentlich liegen, aber ein Brite könnte ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Der Rest fährt eigentlich nur auf Platz drei - oder? Ein Geheimfavorit könnte auch aus Deutschland kommen.
Bradley Wiggins (32, GBR / Team Sky): Aus der Bahn!
In den Augen der Drahtesel-Fangemeinde ist der Brite der Topfavorit auf den Toursieg: Zu übermächtig thront der 1,90-Hüne in dieser Saison über dem Radsport. Sieg bei Paris-Nizza? Jup. Sieg bei der Tour de Romandie? Selbstredend. Sieg beim traditionellen Tour-Test Dauphine Libere? Check! Seine sechste Tour-Teilnahme soll Wiggins den ersten Gesamtsieg bescheren.
Die Form ist prächtig, die Vorzeichen sind gut: Das diesjährige Profil der Tour sieht so aus, als hätte er es mit seinem Trainer Tim Kerrison selbst geschnitzt: Die Berge sind nicht mehr so hoch und so steil (nur drei Bergankünfte, keine der höchsten Kategorie), über 100 Kilometer allein gegen die Uhr spielen dem dreifachen Olympiasieger auf der Bahn in die Karten. Und der Stil des mutmaßlichen Hauptkonkurrenten Evans (gleichmäßig stampfend, kaum Tempowechsel) gleicht dem des Briten bis aufs Haar - man erinnere sich nur daran, wie Jan Ullrich durch die giftigen Angriffe von Lance Armstrong förmlich zermürbt wurde.
Theoretisch könnte Wiggins schon nach dem Prolog ins Gelbe Trikot schlüpfen und es bis Paris nicht mehr abgeben. Bei den traditionellen Ausreißergruppen der ersten Wochen ist das nicht wahrscheinlich, aber schon beim ersten Zeitfahren dürften einige Anwärter aufs Klassement distanziert sein.
Hat der 32-Jährige überhaupt Schwächen? Was die Tour de France angeht, hat Evans wesentlich mehr Erfahrung (fünf Platzierungen in den Top Ten). Außerdem muss man fragen, ob es Wiggins gelingen wird, seine Form über einen so langen Zeitraum zu konservieren. Hat er seine Bestform zu früh erreicht? Mit dem "Team Sky" hat er zudem ein hochkarätiges Team hinter sich, das seine Ambitionen jedoch nicht nur auf den Gesamtsieg gerichtet hat: Übersprinter Mark Cavendish schielt auf weitere Etappensiege, was kräftezehrende Nachführaktionen und Zielanfahrten zur Folge haben wird - sind in den Bergen dann noch genug Pfeile im Köcher, um Wiggins zu schützen, sollte dieser einmal eine Schwächephase erleiden?
SPOX-Prognose: Zuerst kommt Wiggins, dann kommen alle anderen, inklusive Evans. Eine größere Chance auf den Gesamtsieg wird sich ihm so schnell nicht wieder bieten. Wenn er von Stürzen und Hungerästen verschont bleibt, sollte der Brite in Paris auf jeden Fall auf dem Podium stehen. Wahrscheinlich sogar ganz oben.
Cadel Evans (35, AUS / BMC Racing Team): To be the man, you gotta beat the man!
Der Titelverteidiger als Außenseiter? Im Gegensatz zu Wiggins weiß Evans aus Erfahrung, wie man die Tour gewinnt. Wie man sich perfekt vorbereitet, wie man zum richtigen Zeitpunkt seine Topform erreicht. Und die Anzeichen sprechen dafür, dass es dem Australier in dieser Saison gelungen ist: Nur zwei Saisonsiege hat er auf der Habenseite, aber ein dritter Platz bei der Dauphine mit starken Eindrücken am Berg und gegen die Uhr zeigen, dass sein maximales Leistungsvermögen kurz bevorsteht. Eine vollkommene Konzentration auf den Toursieg hat noch niemandem geschadet - siehe Armstrong, Lance.
Für den ehemaligen Mountain-Biker spricht außerdem sein brutales Kämpferherz. Er ist nicht der Antrittsschnellste, aber ihn abzuhängen wird für jeden Fahrer eine Herkulesaufgabe sein. Im Zeitfahren ist Evans sowieso seit Jahren eine gestandene Größe und Kandidat auf Etappensiege. Ein starkes Team um den zeitlosen George Hincapie und Bergziegen wie Tejay van Garderen oder Amaël Moinard wird sich vollkommen darauf konzentrieren können, ihm den Rücken frei zu halten. Und auch für ihn gilt: Der Fahrstil von Wiggins liegt ihm.
Gegen Evans spricht, dass es trotz aller Erfahrung den Anschein hat, als könne Wiggins im absoluten Ernstfall ein paar Prozent mehr Leistung herauskitzeln. Der Brite hat seine Topform schon unter Beweis gestellt, Evans muss diesen noch erbringen. Der Titelverteidiger ist immer auch der Gejagte - für Evans, der im letzten Jahr erst beim abschließenden Zeitfahren ins Maillot Jaune schlüpfte, eine neue Erfahrung. Mit 35 Jahren ist Evans außerdem zwar noch kein Radsport-Opa, es bleibt aber abzuwarten, ob er seinen Zenit nicht doch langsam überschritten hat.
SPOX-Prognose: Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, müsste Evans auch 2012 wieder auf dem Podium landen, zum insgesamt vierten Mal. Ob es nach ganz oben reicht... Skepsis ist erlaubt, aber: Wer hätte ihm im letzten Jahr den Titel zugetraut? Ein letztes Hurra ist auf jeden Fall im Bereich des Möglichen.
Gesink, Menchov, Schleck, Nibali, Sanchez, Hesjedal,... : Wer schafft den Sprung?
Ganz ehrlich: Die Lücke zwischen dem Top-Duo und dem Rest des Fahrerfeldes scheint gewaltig. Eine ganze Reihe von Fahrern drängelt sich zwischen Platz drei und zehn und eignen sich für mutige Außenseitertipps: Der Niederländer Robert Gesink besticht durch gute Form und Qualitäten am Berg und in der Ebene. Denis Menchov ist immer ein Kandidat auf die Top 3. Fränck Schleck hat den dritten Platz des Vorjahres vorzuweisen: Ist nach der Verletzung seines Bruders Andy der Weg frei? Was macht Nibali, immerhin Vuelta-Sieger von 2010? Seine Abfahr-Qualitäten könnten sich als nützlich erweisen. Kletter-Spezialist Samuel Sanchez ist immer gefährlich, Ryder Hesjedal aus Kanada reist mit dem Giro-Sieg im Gepäck an.
Das Problem: Wo Stärken sind, sind eben auch Schwächen. Für den jungen Gesink wäre es ein sehr großer Sprung aufs Treppchen, Menchov war zwar schon relativ nah dran, aber eben auch nicht mehr. Schleck und Sanchez fehlen im Zeitfahren einfach die Pferdestärken, für Nibali gilt: "Vuelta ist nicht gleich Tour", und Hesjedal wird merken, dass ihm der Giro noch ganz schön in den Knochen steckt. Für diese Fahrer gilt: Wenn alles, aber auch wirklich ALLES passt, dann könnten sie in der Tour für Furore sorgen. Platz drei ist in greifbarer Nähe, für einen oder zwei Plätze darüber müssten die Favoriten schon gehörig schwächeln.
SPOX-Prognose: Denis Menchov (34, RUS / Katusha) scheint aus der Gruppe der Semi-Favoriten der Stärkste zu sein. Der Russe fährt seit gefühlten 15 Jahren immer um die Top 5 der Gesamtwertung, dieses Jahr könnte es klappen. Er ist ein ähnlicher Typ wie Evans oder Wiggins, stark im Einzelzeitfahren, das Tourprofil sollte ihm in die Karten spielen. Als er 2010 den Giro ausließ, sprang Platz zwei bei der Tour heraus, dieses Jahr soll es ähnlich laufen. Menchov ist mit 34 Jahren nicht mehr der Jüngste - aber auch nicht älter als Evans im letzten Jahr.
Andreas Klöden (36, GER / RadioShack-Nissan): Der ganz geheime Geheimfavorit!
Dem gemeinen Tour-Zuschauer ist Andreas Klöden zunächst als Edelhelfer von Jan Ulrich, dann als Sieganwärter (2. Platz 2004 und 2006) und schließlich als skandalumwitterter, zurückgezogener Dopingverdächtiger vom kasachischen Astana-Team begegnet. Im stolzen Alter von 36 Jahren will er es bei RadioShack noch einmal wissen. Schon 2011 lief es bei der Tour recht gut, bevor er nach zahlreichen Stürzen schließlich aufgeben musste.
Jetzt oder nie - so muss die Devise für Klöden lauten. Seine Qualitäten sind unbestritten. Stark am Berg, bärenstark im Zeitfahren. Die Form stimmt. "Ich will ich ihn nicht unter Druck setzen und ihn ständig als meinen persönlichen Geheimfavoriten ausrufen", erklärte Jan Ulrich unlängst im "Eurosport"-Interview. Auf der Rechnung haben muss man ihn aber.
Spannend wird die Team-Situation bei RadioShack sein: Mit Fränck Schleck und Chris Horner sind neben Klöden zwei Platzhirsche im Team. Wer fährt also für wen? Das könnte sich schon nach dem ersten Zeitfahren entscheiden, und dabei stehen Klödens Karten gut. Mit Jens Voigt ist ein unzerstörbarer Helfer im Team, auch Haimar Zubeldia ist kein Schlechter. Wenn es Klöden gelingt, aus relativer Anonymität zuzuschlagen - etwa in einer Ausreißergruppe - und sich so in eine gute Gesamtposition zu bringen, dann erscheint einiges möglich.
SPOX-Prognose: Mit 36 ist man eigentlich kein ernsthafter Kandidat für den Toursieg mehr. Das gilt eigentlich auch für Andreas Klöden. Aber die Tour hat ihre eigenen Gesetze, bei ihr können auch Fahrer jenseits der 30 erfolgreich sein, wie man an Evans sehen kann: Erfahrung ist Trumpf. Die bringt Klöden mit, inklusive guter Form. Deshalb hier die gewagte Prognose: Wenn Klöden gesund durchkommt und sein Team für ihn arbeitet, dann fährt er unter die Top 5.