"Gewalt findet auf dem Platz statt"

Jan Höfling
26. Februar 201613:17
Beim Six Nations geht es ordentlich zur Sachegetty
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Das Six Nations ist in vollem Gange (alle Spiele im LIVESTREAM FOR FREE), die europäische Elite gibt sich die Ehre. Auch Deutschland verfügte über eine große Rugby-Tradition - bevor der Sport im Dritten Reich zur "Feindsportart" wurde. SPOX-Experte Constantin Kuhl erklärt, warum sich ein Blick lohnt und es nicht schlecht ist, ein Exot zu sein. Ein Gespräch über schwindende Werte, Gewalt und einen Holzlöffel.

SPOX: Herr Kuhl, wie fühlt man sich als Exot in einer Fußball-Nation?

Constantin Kuhl: Ach, eigentlich ganz gut. (lacht) Vor allem ist man nicht allein. Ein Rugby-Verein ist in der Regel ein sehr internationales Umfeld. Jeder hat seine eigene Geschichte. Man bekommt so mehr von der Welt mit, selbst wenn man seine Stadt nicht verlässt. Und grundlegende Werte wie Integrität, Respekt und Zusammenhalt sind nichts Schlechtes. Immerhin sind es Werte, die es bei den meisten Teamsportarten in dieser Intensität leider nicht mehr zu geben scheint.

SPOX: Übertriebene Theatralik, etwa in Form von Schwalben, oder das Fordern von Strafen für den Gegenspieler gibt es beim Rugby also nicht?

Kuhl: Solche Dinge sind verpönt, weshalb es sie so gut wie gar nicht gibt. Sollten sie doch einmal vorkommen, werden sie entsprechend hart geahndet. Die Werte, die der Sport bei sich selbst als Maßstab anlegt, gelten auch für alle Spieler. Und dieser soll aufrechterhalten werden. Mehrwöchige Spielpausen sind zum Beispiel eine Konsequenz. Natürlich gibt es vereinzelte Ausnahmen, da wird dann aber innerhalb der Mannschaft schnell für klare Verhältnisse gesorgt.

SPOX: Von der Fairness und dem Umgang miteinander kann man sich aktuell beim prestigeträchtigen Six Nations ein Bild machen. Was zeichnet das Turnier aus?

Kuhl: Der Reiz des Six Nations liegt vor allem in der unheimlichen Tradition, die dieses Turnier ausmacht. Zudem gibt es so jährlich die Chance, zu sehen, wie der Ist-Stand des europäischen Spitzen-Rugbys ist. An jedem Spieltag stehen hochkarätige Duelle an und so können die Mannschaften sehen, wo sie wirklich stehen. Auch die beeindruckenden Kulissen und die Fans stehen dem Geschehen auf dem Rasen allerdings in nichts nach.

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SPOX: Was unterscheidet die Rugby-Anhänger von anderen Zuschauern?

Kuhl: Die Kulisse und die Stimmung in den Stadien sind einmalig. Großen Anteil am Flair haben die Fans der Teams. Es ist nicht üblich, dass auf den Rängen eine klare Trennung erfolgt. Die Werte, die der Sport vermittelt, spiegeln sich ferner bei den Anhängern wider. Das Gewaltpotential ist beim Rugby extrem niedrig. Die Gewalt findet ja auf dem Platz statt, wenn man es so umschreiben möchte.

SPOX: Gibt es bei all der Rivalität keine Probleme? Wie sieht es etwa mit Hooligans oder anderen gewaltbereiten Gruppen aus?

Kuhl: Es gibt so gut wie keinen Hooliganismus. Zwar gibt es ein paar Mannschaften in der französischen Liga, die sich nicht sonderlich wohl gesonnen sind. Allerdings ist die Intensität nicht mal ansatzweise mit der eines Fußball-Viertligaspiels in Deutschland vergleichbar.

SPOX: Auf dem Rasen wirkt alles nicht ganz so einfach. Das Spiel erscheint auf den ersten Blick sehr komplex, droht Neueinsteiger beinahe zu erschlagen.

Kuhl: So schlimm ist es eigentlich gar nicht. (lacht) Es gibt ein paar Standardregeln, auf die das gesamte Spiel aufgebaut ist. Wenn man diese verstanden hat, verfügt man als Zuschauer über einen guten Überblick. Natürlich gibt es dann noch Feinheiten, die lernt man allerdings mit der Zeit ebenfalls recht schnell. An sich ist das Spiel sehr dynamisch, Entscheidungen müssen in Sekundenbruchteilen getroffen werden und taktisch steckt deutlich mehr Tiefe dahinter, als man auf den ersten Blick zu sehen glaubt. Wer einmal drin ist, den lässt Rugby nicht wieder los.

SPOX: Trotzdem befindet sich der Sport hierzulande deutlich unterhalb des Radars.

Kuhl: Was sehr schade ist, denn Deutschland hat eigentlich eine sehr große Rugby-Tradition. Etwa durch den Austausch der britischen Elite-Universitäten mit Heidelberg und Hannover. Leider kamen dann zwei Weltkriege dazwischen, die Rugby hierzulande nahezu ausgelöscht haben. Der Sport war im Dritten Reich als "Feindsportart" verpönt. Die Auswirkungen kann sich wohl jeder vorstellen. Nach den Weltkriegen ging es zwar in Heidelberg und Hannover nahezu direkt weiter, im Rest des Landes aber leider nicht.

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SPOX: Was gab den Ausschlag? SPOX

Kuhl: Natürlich gab es eine Vielzahl an Faktoren, ein Aspekt war aber sicher, dass es vor allem in der Nachkriegszeit einfacher war, Fußball zu spielen. Auch im Hinblick auf die Koordination und Verständlichkeit. Es ist deutlich leichter in den Straßen zu kicken, als ein Rugby-Spiel mit seinen komplexeren Regeln und Strukturen auf die Beine zu stellen.

SPOX: Auch heute findet Rugby bei vielen Familien keine Beachtung. Welche Rolle spielt deshalb der familiäre Hintergrund?

Kuhl: Die Familie ist sehr wichtig. Wenn die Eltern Rugby als Option für ihre Kinder nicht auf dem Schirm haben, dann wird es natürlich schwierig. Was sehr schade ist, denn die Werte, die der Sport vermittelt, können auf die Entwicklung von Heranwachsenden einen positiven Effekt haben - und der Spaß kommt ebenfalls nicht zu kurz.

SPOX: Für den Nachwuchs gibt es zudem eigentlich keine Schnittpunkte mit Rugby.

Kuhl: Richtig, es fehlt an Möglichkeiten. Während Fußball im Fernsehen hoch und runter läuft, erhalten viele andere Sportarten deutlich zu wenig Beachtung. Das gilt nicht nur für Rugby. Dabei ist der Nachwuchs in jeder Sportart essentiell für die Entwicklung.

SPOX: Könnte das Six Nations eine solche Chance sein, um für mehr Begeisterung zu sorgen? Was bekommt der Zuschauer zu sehen?

Kuhl: Sicher. Die Zuschauer bekommen fünf Spieltage voller Action und das in nur wenigen Wochen. Einen besseren Einstieg kann es kaum geben. Das System ist simpel: Jedes Team spielt einmal gegeneinander, die Mannschaft mit den meisten Siegen schnappt sich den Gesamtsieg. Um für möglichst gerechte Verhältnisse zu sorgen, wechselt das Heimrecht jedes Jahr. Ein Auf- oder Abstieg - wie etwa in der Fußball-Bundesliga - ist nicht möglich. Einfacher geht es kaum.

SPOX: Wie sieht es aus, wenn das Rugby-Fieber einen erwischt?

Kuhl: Vereine gibt es eigentlich in jeder größeren Stadt, jeder Spieler oder jede Spielerin ist herzlich willkommen. Ich kann aus eigener Erfahrung nur raten, dem Sport eine Chance zu geben.

SPOX: Wie sieht die Perspektive aus?

Kuhl: Die Vereinbarkeit von angehendem Profisport beziehungsweise gehobenem Amateursport ist ein wichtiges Thema. Leider ist diese nicht immer vorhanden. Ein Problem ist auch, dass die Sportförderung generell unausgewogen ist. Man muss wohl einfach Glück haben. Das Verständnis vom Arbeitergeber muss da sein, vielleicht die Chance, hin und wieder von zu Hause aus zu arbeiten. Es spielen leider sehr viele Faktoren eine Rolle.

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SPOX: Wie sieht es mit den Strukturen hierzulande aus?

Kuhl: Es existieren kaum Profi-Teams. Zudem gibt es bei den aktiven Mannschaften nur wenige Akteure, die vom Sport leben können. Diese sind allerdings ganz anders in die jeweiligen Vereine eingebunden und übernehmen dort in der Regel weitere Tätigkeiten. Von Trainerposten bis zum Gärtner ist alles dabei. In der Liga gibt es zudem zwischen Heidelberg, Hannover und den restlichen Teams ein großes Leistungsgefälle. Standorte wie etwa München haben klare strukturelle Nachteile. Die Entwicklung verläuft deshalb deutlich langsamer.

SPOX: In den Abwägungen vieler Arbeitgeber spielt das Verletzungsrisiko eine Rolle. Rugby gilt als knallharter Sport, Verletzungen halten sich dennoch in Grenzen. Trügt das Image?

Kuhl: In gewisser Weise schon. Rugby ist ein knallharter Sport, das Risiko, sich eine Verletzung zuzuziehen, ist aber eigentlich gar nicht besonders hoch. Wenn man sich die relativen Zahlen im Vergleich anschaut, dann steht die NFL sehr weit oben. Aber auch Fußball steht noch deutlich über Rugby, das auf einer Ebene mit beispielsweise Handball rangiert.

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SPOX: Woran liegt das?

Kuhl: Das liegt vor allem daran, dass es im Rugby auf dem Platz sehr fair zugeht und zudem an einem Regelwerk, das darauf ausgelegt ist, die Spieler zu schützen. Das mag beim ersten Zusehen nicht direkt herausstechen, ist aber allgegenwärtig. Ein Beispiel: Tacklings sind nur dann regulär, wenn der Gegenspieler unterhalb der Schulterlinie mit beiden Armen umklammert wird. Diese müssen zudem verschlossen werden. So ist der Sturz kontrolliert und "weich". SPOX

SPOX: Bei all der Fairness geht es immer noch ums Gewinnen - auch beim Six Nations. Damit aber selbst der Letztplatzierte nicht leer ausgeht, gibt es den Wooden Spoon. Was hat es damit auf sich?

Kuhl: Früher in armen Haushalten mit vielen Kindern gab es nur wenig Silber- oder Metalllöffel, der Letzte am Tisch oder das letztgeborene Kind hat dann immer den Löffel aus Holz bekommen. Im englischen Sprachgebrauch hat es sich deshalb als sympathische Formulierung für "Du bist Letzter geworden" eingebürgert.

SPOX: Welche Nation schnappt sich am Ende den Titel?

Kuhl: Was den Titel angeht, setze ich nach Runde zwei auf England. Das Team hat sich nach der gescheiterten WM im eigenen Land gefangen, brauch das Six Nations allerdings als Wiedergutmachung für das frühe Aus. Deswegen werden sie alles an einen Gesamtsieg setzen. Irland ist verletzungsgeplagt und so stark geschwächt für den Rest des Turniers. Den größten Konkurrenten Englands sehe ich in Wales. Die Truppe von Coach Warren Gatland hat einen super starken Kader. Frankreich ist hingegen zu inkonstant.

SPOX: Also gibt es für Schottland oder Italien den Holzlöffel?

Kuhl: Das dürfte sich wohl bereits an diesem Wochenende entscheiden, wenn beide Teams aufeinander treffen. Im Moment könnten die Italiener durch den Heimvorteil die Nase vorn haben, wenngleich das generelle Niveau der Schotten eigentlich höher anzusiedeln ist. In den letzten Spielen ist Schottland allerdings wieder an den eigenen Nerven gescheitert. Italien hat gegen England gut mitgehalten, auch wenn das Ergebnis am Ende deutlich war. Wenn sie ihr Spiel auf den Rasen bringen, haben sie gute Chancen dem Löffel zu entgehen. SPOX

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SPOX: Auf wen sollten Rugby-Einsteiger eigentlich ganz besonders achten?

Kuhl: Das ist gar nicht so einfach. (lacht) Rugby gilt nicht umsonst als ultimativer Mannschaftssport und lebt deutlich mehr von der Teamleistung als von einzelnen Personen. Dennoch gibt es natürlich herausragende Charaktere. Spielgestalter Jonathan Sexton wäre hier ein Beispiel. Wer eher auf die großen Jungs steht, dem sei Englands Billy Vunipola ans Herz gelegt. Vunipola ist nicht nur ein super netter Typ, es ist auch beeindruckend, wie er Meter macht, selbst wenn schon mehrere Spieler an ihm dranhängen.

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