Wenn sich ab Freitag Magnus Carlsen und Sergey Karjakin um den Titel des Schach-Weltmeisters duellieren, umgibt das Ganze etwas Historisches. Seit exakt 130 Jahren wird in regelmäßigen Abständen offiziell ein Weltbester gekürt. Nie hatten die Kandidaten eine zeitgemäßere Attitüde als bei der diesjährigen Auflage in New York. SPOX liefert Euch alles Wissenswerte rund um das Duell der beiden jungen Großmeister.
Der Titelverteidiger
Magnus Carlsen ist kein normaler junger Mann, das beweisen alleine die Fakten: zweitjüngster Schach-Weltmeister aller Zeiten mit 22 Jahren, Großmeister bereits mit 13 Jahren, ein Remis im gleichen Jahr gegen den damaligen Champion Garry Kasparov.
Nachdruck verleiht diesen Fakten nun ein Dokumentarfilm, der das Leben des mittlerweile zweifachen, vielleicht bald dreifachen Champions von Kindesbeinen an beleuchtet. Passend zur WM ist der Film "Magnus - Der Mozart des Schachs" in dieser Woche in den Kinos angelaufen. "Ich bin anders als die anderen in meiner Klasse", erklärt darin der schüchterne Grundschüler Magnus.
Seine Eltern merken rasch, dass ihr Junge zwar körperlich zurückhängt, aber ein selektives Gedächtnis besitzt. Dies fördern sie mit dem Schachspiel. Hier kann Carlsen sein ganzes Talent ausspielen. Er gilt wenig später als Wunderkind, wird von den Medien als "Mozart des Schachs" bezeichnet. In der Schule bleibt er dennoch ein Eigenbrödler.
Mit Mitte 20 scheint Carlsen diese Problematik überwunden zu haben. Er gibt sich in den sozialen Netzwerken - allein auf Facebook folgen ihm 428.000 User - betont lässig. In den Stores können Schachfans sogar eine nach ihm benannte App erwerben. Haben Spieler dort Erfolg, dürfen sie an einem echten Finalturnier teilnehmen und gegen den Norweger antreten. Carlsen wirkt bei öffentlichen Auftritten mit sich und seiner Welt im Reinen.
Ganz nebenbei ist er dabei, etwas zu schaffen, was vor ihm keiner so richtig zu schaffen vermochte. Den Schach-Sport aus der Nische zu holen. Der Weltmeister, der an einem möglichen Finaltag der diesjährigen Auflage 26 Jahre alt wird, hat eine globale Schacheuphorie ausgelöst - ohne absehbares Ende.
Trotz des Hypes schafft er es, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Etwa einen Monat vor seinem dritten WM-Duell zog sich Magnus Carlsen in seine Blase zurück. In aller Abgeschiedenheit bereitete er sich auf das Duell gegen den Russen Sergey Karjakin vor. Keine Interviews, keine öffentlichen Auftritte, keine Kampfansagen - nahezu ohne Kontakt zur Außenwelt komponierte er die Melodien für sein nächstes großes Werk.
Der Herausforderer
Karjakin galt in der Jugend als das noch etwas größere Talent. Mit zwölf Jahren und sieben Monaten erwarb der gebürtige Ukrainer früher als Carlsen den Doktorhut des Schachs - Rekord. Er feierte die größeren Erfolge, ehe er vom rasanten Aufstieg Carlsens ge- und übertroffen wurde.
Seit sieben Jahren ist Karjakin mittlerweile russischer Staatsbürger, spielt für das dortige Nationalteam. Nach seinem herausragendem Sieg beim Kandidatenturnier in Moskau im März 2016 sagte er über den Wechsel: "Der Verbandswechsel sollte meine Chancen verbessern, Weltmeister zu werden. Mein Sieg im Kandidatenturnier ist das bisher beste Ergebnis in meiner Karriere." Spätestens dieser Erfolg gab ihm, auch wenn er dafür in seiner Heimat Kritik einsteckte, Recht.
Karjakin gilt als schüchtern, wirkt im Gegensatz zum Posterboy Carlsen etwas blass. Umso überraschender dürfen seine forschen Töne vor der WM vernommen werden: "Wenn Magnus gegen mich gewinnen will, muss er das beste Schach seines Lebens spielen", erklärte er kürzlich.
Dieses Selbstvertrauen hat er sich beim Kandidatenturnier erspielt. 2014 wurde er bereits Zweiter. Bei der diesjährigen Auflage bewies er kühlen Kopf, besiegte in der Finalpartie am Ostermontag den ärgsten Konkurrenten Fabiano Caruana und gewann das Turnier mit einem Punkt Vorsprung.
"Es wird ein unglaublich hartes WM-Match werden. Karjakin hat starke Nerven, und er ist nur schwer zu schlagen", sagte Carlsens Manager Espen Agdestein der norwegischen Nachrichtenagentur NTB. Der Champion hatte Karjakin bereits vor Beginn des Kandidatenturniers mit acht Großmeistern auf der Rechnung.
Head-To-Head und Taktik
Vor dem wichtigsten Aufeinandertreffen haben die beiden Mittzwanziger bereits 21 Partien mit klassischer Zeitkontrolle gegeneinander bestritten. Der Weltmeister siegte viermal, Karjakin ein einziges Mal. Die restlichen Partien endeten allesamt unentschieden.
Carlsen, Weltranglistenerster, gilt nicht nur deswegen als Favorit. Sein Elo-Wert, eine Kenngröße um die Spielstärke von Schachspielern einzuordnen, liegt mit 2853 immerhin 81 Punkte über dem Wert des Russen. Das macht einen Unterschied von acht Plätzen in der Weltrangliste. Den gleichen Punkteabstand hat der Russe beispielsweise zum Weltranglisten-50.
Doch der Russe hat sich beim Kandidatenturnier im März Respekt erspielt und Nervenstärke bewiesen. Dabei setzt er vermehrt auf planbare Feinheiten in den Eröffnungsvarianten. Zuletzt enttäuschte er allerdings bei einem Wettkampf in Bilbao.
Carlsen dagegen verlässt sich in der Regel vielmehr auf seine großartigen Improvisationsfähigkeiten im Mittel- und Endspiel. Zudem verfügt er über eine überragende mentale sowie körperliche Stärke, die er gegen die meist älteren Kontrahenten ausspielte. Karjakin und er sind allerdings beide 1990 geboren und begegnen sich, was das Körperliche angeht, auf zumindest ähnlichem Niveau.
Modus
Der Wettkampf geht über maximal zwölf Partien und endet vorzeitig, wenn einer der Spieler sechseinhalb Punkte vorzuweisen hat. Es geht um ein Preisgeld in Höhe von insgesamt 1,1 Millionen US-Dollar. Vor vier Jahren war die Gewinnsumme noch fast doppelt so hoch.
Jeden dritten Tag gibt es einen Ruhetag. Vor den möglichen Spielen elf und zwölf gibt es nach jeder Partie einen Tag Pause. Bei einem Gleichstand wird ein Tiebreak mit verkürzter Bedenkzeit gespielt.
Bis dahin hat ein Spieler in einer Partie 100 Minuten Zeit für die ersten 40 Züge, 50 Minuten für die folgenden 20 Entscheidungen und später nur noch 15 Minuten für alle weiteren Züge. Ab dem 60. Zug gibt es für jeden Spieler eine Beschränkung. Der Herausforderer musste sich in einem Qualifikationsturnier gegen sieben weitere Großmeister durchsetzen.
Austragungsort
Der Austragungsort ist das Fulton Market Building, das umgebaute Gebäude des ehemaligen Fulton Fish Market am South Steet Seaport im Süden von Manhattan. Titelverteidiger wie Herausforderer bekundeten mehrfach ihre Enttäuschung darüber, dass sich die Bekanntgabe zu lange hinzog. Der Ort steht erst seit drei Monaten fest.
Insgesamt gibt es im dritten Stock des Marktes auf 30.0000 Quadratmetern Platz für das Event. Die Firma Agon, die alle Werberechte an der WM hält, hat dort in einem gesonderten Raum aber nur für 300 normale Zuschauerplätze gesorgt. Dafür hagelte es Kritik.
Wer es in die VIP-Lounge schafft, diese Plätze kosten deutlich mehr, kann die Partien sehr komfortabel aus nächster Näher in bequemen Sesseln und auf Couches verfolgen.
Die Spieler selbst werden im Inneren hinter schalldichtem Glas sitzen. Beide haben während einer Partie die Möglichkeit zu einer Pause - etwa für einen Toilettengang. Eine Besonderheit: Laut dem Regelwerk müssen die Kontrahenten während der Spielpausen Zeit in der gleichen Lounge verbringen.
Übertragung und Kommentatorin
Alle Partien werden vom Veranstalter in voller Länge und Zug für Zug im Livestream übertragen. In einem Verfahren vor dem Moskauer Handelsgericht scheiterte der Ausrichter mit einer Schadensersatzklage gegen ein Schachportal, das ebenfalls eine Livereportage samt Kommentierung anbieten darf.
Für den Veranstalter wurde Judit Polgar als Kommentatorin verpflichtet. Die Ungarin gilt als spielstärkste Frau der Schachgeschichte. Die 40-Jährige hatte sich aus dem aktiven Schachsport zurückgezogen, trainierte zuletzt das ungarische Nationalteam.
Für Polgar wird es das mit Spannung erwartete Debüt am Kommentatorenpult. Gegenüber der Plattform chessbase.com erklärte sie unlängst: "Die Kommentierung von Schachereignissen ist in den letzten zehn Jahren interessanter und unterhaltsamer geworden. Immer mehr starke Spieler freuen sich, wenn sie die Partien und das Geschehen einem Publikum erklären können, das zum großen Teil aus Amateuren besteht. Das hilft dem Publikum, die Partien besser zu verstehen und mehr zu genießen."
Um dies auf möglichst hohem Niveau zu gewährleisten, wird die Expertin ein gesondertes Schachprogramm benutzen: Mit diesem sollen Züge berechnet und Möglichkeiten aufgezeigt werden. Polgar betonte aber mit einem Augenzwinkern: "Ich nutze auch gern meinen eigenen Verstand, um ein paar interessante Ideen zu finden."
Historie
Den ersten Titel errang 1886 ein Österreicher mit sagenumworbener Geschichte. Wilhelm Steinitz setzte sich gegen den in London lebenden Polen-Deutschen Johannes Zukertort durch. Steinitz dominierte bereits 24 Jahre zuvor die inoffizielle Schachweltrangliste und besiegte 1866 in London den Breslauer Mathematikprofessor Adolf Anderssen - der bis dato als heimlicher Weltmeister galt.
Bis zu seinem offiziellen Titel 86 verdiente sich das Genie seine Sporen als Schachjournalist in Großbritannien und später in den USA - das Brettspiel machte ihn zu einem reichen und angesehenen Mann.
Bis 1892 wurde er insgesamt fünfmal Weltmeister. Nach zwei verlorenen Finals soll Steinitz allerdings den Verstand verloren haben, wurde in einer Nervenheilanstalt in Moskau behandelt. Danach fand der ehemalige Weltmeister nie mehr wirklich zurück in die Spur, starb im Jahr 1900 in einem Irrenhaus in New York.
Von 1948 bis 1990 wurden die Weltmeister unter dem neugegründeten Dachverband FIDE ausgetragen. Zu behaupten, die Großmeister der UDSSR wären zu dieser Zeit dominant gewesen, käme der Untertreibung des Jahrhunderts gleich.
Lediglich 1972 errang der US-Amerikaner Bobby Fischer, in einem von den Medien zum Kampf des Kalten Krieges hochgepushten Wettkampf, gegen Boris Spasski den Titel. Die letzten Titelkämpfe des Verbandes dominierte Garry Kasparov, der insgesamt sechs Titel errang.
Kasparov war es auch, der 1993 nach verbandspolitischen Streitereien einen eigenen Verband gründete. Die Wiedervereinigung fand Mitte der 2000er statt. Seit 2006 wird die WM wieder unter einheitlicher Flagge ausgetragen.
Der Inder Anand Viswanathan gewann vier Titel in Folge, verlor im Duell der Generationen 2013 und 2014 gegen den amtierenden Weltmeister Magnus Carlsen.