US-Open-Erkenntnisse: Carlos Alcaraz - Herz, Hirn und Cojones

Stefan Petri
12. September 202210:00
SPOXgetty
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Carlos Alcaraz hat die US Open gewonnen. Mit seinem ersten Grand-Slam-Erfolg übernimmt er gleichzeitig die Spitze der Weltrangliste und könnte eine neue Ära einleiten - eines fehlt dazu aber noch. Iga Swiatek ist das bei den Damen längst gelungen, aber eine Rivalin steht bereit. Die Erkenntnisse zu den US Open.

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Carlos Alcaraz: Perfekte Kombination aus Hirn, Herz und Cojones

"Alcaraz wird in spätestens drei Jahren die Nummer 1", postete der frühere Grand-Slam-Champion Yevgeny Kafelnikov im September 2021 auf Twitter. Trotz des schon damals klar sichtbaren Talents eine gewagte Aussage, schließlich war der Teenager erst ein paar Monate zuvor 18 Jahre alt geworden. Jetzt sind die drei Jahre auf eines zusammengeschrumpft - damit hätte niemand gerechnet, nicht einmal Kafelnikov. Die Geschwindigkeit, mit der Alcaraz Rekorde pulverisiert, ist fast schon schwindelerregend.

  • Bis Februar 2024 hätte "Carlitos" Zeit gehabt, um Lleyton Hewitt als jüngste Nummer eins der Geschichte abzulösen
  • Nach Pete Sampras (dem er in New York teilweise verblüffend ähnlich sah) ist er der zweite Teenager, der in der Open Era die US Open gewinnt
  • Er ist der jüngste Grand-Slam-Champion seit Rafael Nadal 2005 bei den French Open
  • Mit drei Fünfsatzmatches auf dem Buckel hatte zuletzt Gustavo Kuerten 1997 ein Grand-Slam-Finale gewonnen

Am Sonntag vor dem Finale schickte Alcaraz ein paar Emojis über die sozialen Medien in die weite Welt hinaus, mit denen er offenbar sich selbst bzw. sein Erfolgsrezept beschreiben wollte: Ein Herz, ein Hirn - und zwei Hühnereier.

Herz: Unfassbar, was für ein Fighter der Kerl ist. Gegen Sinner hatte er einen Matchball abgewehrt, reihenweise musste er in der Night Session zu Zeiten spielen, als sein Finalgegner längst im Bett war. Das war ihm dann im zweiten und dritten Satz auch anzusehen. Aber statt mit dem Schicksal zu hadern, marschierte Alcaraz weiter - und zwar nach vorn. Eine andere Richtung kennt er nicht.

Hirn: Zugegeben, der eine oder andere Stoppball war im Finale zu viel. Aber wie überlegt Alcaraz in seinen jungen Jahren schon spielen kann - trotz der brachialen Gewalt in seinem Waffenarsenal - ist bemerkenswert. Von einem kurzen emotionalen Ausbruch im zweiten Satz abgesehen blieb er immer bei sich. Natürlich, manchmal ist er noch zu wild, geht zu schnell auf den Winner. Aber viel mehr gibt es da schon nicht mehr zu bemängeln.

Cojones: Angst? Kennt Carlos Alcaraz nicht. Wie er auf Serve-and-Volley umschwenkte, um die Punkte kurz zu halten. Wie er sich von seinen Fehlern nicht entmutigen ließ, oder von seinen müder werdenden Beinen. Wie er es schlicht und ergreifend nicht zuließ, dass Ruud das Ruder an sich reißen konnte. Wahnsinn.

Zu bemängeln gibt es maximal, dass er keine zusätzliche Pferdelunge postete: Noch nie in der Geschichte des Tennis verbrachte ein Spieler in einem Turnier so viel Zeit auf dem Court (23 Stunden und fast 40 Minuten). Oder eine Rakete. "Ich habe noch nie gegen jemanden gespielt, der sich so gut bewegt wie er", sagte Frances Tiafoe nach dem Halbfinale. Und der hat immerhin auch schon gegen Nadal und Djokovic gespielt.

"Ich genieße es, den Pokal in meinen Händen zu halten. Aber natürlich bin ich hungrig auf mehr", sagte Alcaraz nach seinem Triumph.

Für die Konkurrenz kann es nur beängstigend sein, wie rasend schnell sich Alcaraz entwickelt hat. Nein, er spazierte ganz sicher nicht durchs Turnier, stand mehrfach kurz vor dem Aus. Er ist noch schlagbar. Aber das ist vielleicht das Zauberwort: noch.

Alcaraz' Coach Juan Carlos Ferrero ist sich jedenfalls sicher, dass das längst noch nicht alles ist. Sein Schützling sei gerade einmal bei "60 Prozent seines Spiels" ...

Casper Ruud droht ein bitteres Schicksal

Casper Ruud muss man ein großes Kompliment zollen: Nach den French Open erreichte der Norweger sein zweites Grand-Slam-Finale in diesem Jahr, das hätten ihm sicherlich die wenigsten zugetraut. Seinen zweiten Platz in der Weltrangliste hat er sich redlich verdient, nur er und Alcaraz haben in den vergangenen 52 Wochen mehr als 60 Matches gewonnen.

Auch im Finale schlug er sich trotz seiner Außenseiter-Rolle mehr als wacker, machte die Mehrzahl der Highlight-Punkte - und wer weiß: Hätte er einen seiner zwei Satzbälle beim Stand von 6:5 im dritten Durchgang genutzt, würde die Trophäe vielleicht gerade in seinen Armen liegen. In Paris war er gegen Nadal noch chancenlos (3:6, 3:6, 0:6) und wirkte froh, dabei sein zu dürfen. Diesmal schien ihn die Niederlage deutlich mehr zu schmerzen. Verständlicherweise.

Gleichzeitig muss man aber auch festhalten, dass im auf dem Weg ins Finale das Glück hold war und ihm die ganz großen Brocken erspart blieben: Auf einen Top-10-Spieler traf er jeweils erst im Finale, wo er dann den Kürzeren zog. Ein derartiges Kaliber hat er bei einem Slam übrigens noch nie schlagen können. Und auch noch nie einen Titel über dem 250er-Level gewonnen.

Ruud ist nicht einmal 24 und hat in den vergangenen knapp eineinhalb Jahren unglaubliche Fortschritte gemacht - wer weiß, wo am Ende sein spielerisches Limit liegt. Aber wer ihn gegen Nadal und jetzt gegen Alcaraz gesehen hat, der weiß, dass ihm die ganz großen Waffen fehlen.

Kann sich der Norweger in seinem Level nicht noch einmal steigern, könnte er der "David Ferrer" der neuen Generation werden: Ein großartiger Spieler, für den die Schwergewichte seines Sports aber dann doch eine Nummer zu groß sind. Das wäre keine Schande: Der Spanier Ferrer, 2019 zurückgetreten, gewann in seiner Karriere 27 Titel und über 31 Millionen Dollar Preisgeld. Aber er erreichte eben auch nur ein Grand-Slam-Finale - fünfmal war im Halbfinale Schluss, elfmal im Viertelfinale.

Aus einem guten Draw und einem erschöpften Finalgegner konnte Ruud diesmal kein Kapital schlagen. Bessere Bedingungen für einen Grand-Slam-Coup dürfte er so schnell nicht wieder bekommen.

Eins fehlt noch zum Generationenwechsel im Herrentennis

Sind es wirklich erst zwei Jahre seit dem US-Open-Finale zwischen Dominic Thiem und Alexander Zverev? Damals war man versucht, eine Zeitenwende im Herrentennis auszumachen: Endlich mal ein Finale ohne Novak Djokovic oder Rafael Nadal.

Nun, die kommenden sieben Slams teilten sich der Serbe (4) und der Spanier (2) auf, lediglich bei den US Open 2021 war Daniil Medvedev - und der "Grand Slam"-Druck - zu groß für Nole. Von wegen zu alt, von wegen neue Generation, bla bla bla ... Zverev war mehrfach nah dran, aber eben nur nah dran - und ob Thiem nach seiner langen Verletzungspause wieder um Slams spielen kann, ist noch völlig unklar. Also alles wie gehabt.

Fühlt es sich diesmal anders an? Natürlich, Novak Djokovic war gar nicht am Start und hätte mit Sicherheit um den Titel mitgespielt. Ein Nadal in Topform natürlich auch, da machten sich die bekannten Gesundheitsprobleme wohl auch ein wenig bemerkbar.

Und: Es ist eben New York. Der eine Slam, der sich in den letzten knapp 20 Jahren nicht komplett im Würgegriff der Big Three befand, mit "On-Hit-Wondern" wie Juan Martin del Potro 2009, Marin Cilic 2014, vielleicht auch Thiem 2020. Aus welchem Grund auch immer: Flushing Meadows hatte immer wieder Ausreißer parat.

Mindestens Alcaraz ist gekommen, um ganz oben zu bleiben. Gut möglich, dass er das Top-Ranking so schnell nicht mehr abgeben wird, schon gar nicht an Rafa oder den Djoker, die längst andere Prioritäten haben. Um eine wirkliche, langfristige Wachablösung herbeizuführen, muss dieser Erfolg aber im kommenden Jahr bestätigt werden. In den "Wohnzimmern" der Grand-Slam-Rekordmänner, in Melbourne, Paris und London. Erst dann ist die neue Ära des Herrentennis wirklich angebrochen.

Die Australian Open werden der Wahnsinn

Wenn wir schon davon sprechen: Die Australian Open beginnen am 16. Januar, also in rund vier Monaten. Und, meine Herren: Was könnte das für ein Turnier werden! Fangen wir mit Novak Djokovic an: Die Corona-Impfung ist mittlerweile keine Voraussetzung mehr für eine Einreise nach Down Under, Medienberichten zufolge ist die neue Regierung auch gewillt, das Einreiseverbot gegen den neunfachen Champion aufzuheben. Die Rückkehr zu seinem Lieblingsturnier, mit der Chance den 22. Slam zu gewinnen, und einem sicherlich gespaltenen Publikum: Das wird brandheiß.

Aber auch Nadal wird sicherlich darauf brennen, seinen Titel zu verteidigen. Ihm bleiben mehrere Monate, um noch einmal ganz fit zu werden, und beim Spanier weiß man ja auch nie so ganz genau, wie weit das Karriereende noch entfernt ist.

Dazu kommt jetzt natürlich Charlie Alcaraz, womöglich mit der Nummer eins im Rücken. Casper Ruud - aller guten Dinge sind bekanntlich drei. Ein gesundeter Sascha Zverev, der bei den Slams in Bestform alle schlagen kann. Daniil Medvedev, der einiges wiedergutzumachen hat. Frances Tiafoe, Matteo Berrettini. Ein vollständig auf Tennis fokussierter Nick Kyrgios vor eigenem Publikum! Und ... vielleicht ja sogar ... Roger Federer. Ein allerletztes Mal.

Wem da nicht das Wasser im Mund zusammen läuft, der hat Tennis nie geliebt.

Iga Swiatek ist endgültig die neue Königin der WTA

Zugegeben, die Polin war längst die dominierende Spielerin der aktuellen Saison, bzw. seit dem überraschenden Rücktritt von Ashleigh Barty, als sie ihre unglaubliche Siegesserie startete. Aber nach dem Sieg bei ihrem Lieblingsturnier in Roland Garros war in Wimbledon schon in der dritten Runde Schluss - und auf Hartplatz hatte sie bei den Slams bislang noch nicht abgeliefert.

Nach zwei Wochen in New York City muss man konstatieren: Spätestens jetzt ist Swiatek bei drei von vier jährlichen Slams die große Favoritin. Sie mochte die leichteren Bälle nicht, die in Flushing Meadows an die Damen herausgegeben werden, durfte erst spät im Turnier auf dem größten Court Arthur Ashe spielen - und musste zeitweise richtig kämpfen: Dreimal musste sie über drei Sätze gehen, darunter gegen Jule Niemeier, nicht immer spielte sie ihr bestes Tennis. Dennoch reckte sie am Ende die Trophäe in die Höhe.

Jetzt, wo Naomi Osakas Karriere so heftig ins Schlingern geraten ist, schickt sich Swiatek an, Serena Williams' Nachfolge anzutreten. Als erste Spielerin seit Angie Kerber 2016 gewann sie zwei Majors in einem Kalenderjahr. Als erste Spielerin seit Williams 2014 hat sie sieben Turniere in einem Jahr gewonnen.

Und sie ist in Finals einfach nur unfassbar dominant: Ihre letzten zehn Endspiele hat sie allesamt ohne Satzverlust gewonnen, auf unterschiedlichen Belägen, gegen Weltklasse-Spielerinnen. Mehr noch: Ons Jabeur war am Samstag die erste, die einen Satz erzwang, der enger als 6:4 für Swiatek ausging.

Ihre Konkurrenz muss sie in der Weltrangliste mittlerweile im Rückspiegel suchen. Wenn die beste Spielerin der Welt jetzt auch noch die Slams dominiert, fehlt eigentlich nur noch eines ...

Iga Swiatekgetty

Ons Jabeur ist die perfekte Rivalin für Swiatek

Ja, das Damentennis ist an der Spitze unfassbar breit. Bei jedem Slam können sich locker 20-30 Spielerinnen Hoffnung auf das Finale machen - vielleicht auch noch mehr. Aber wenn die topgesetzten Spielerinnen regelmäßig früh im Turnier rausgehen, fehlt es an auf dem Papier großen Matches, es fehlt an Wiedererkennungswert.

Und es fehlen die großen Rivalitäten: Swiateks Duell gegen die an Nr. 8. gesetzte Jessica Pegula im Viertelfinale war das erste Match zwischen zwei Top-10-Spielerinnen bei einem Slam in diesem Kalenderjahr. In den zehn Slams zuvor hatte es bei den Damen ganze drei (!) solche Duelle gegeben.

Vorhang auf für Ons Jabeur! Die 28 Jahre alte Tunesierin hat nach dem Wimbledon-Finale auch das Endspiel im Big Apple erreicht und sich damit endgültig zur neuen Nummer zwei der Damenwelt aufgeschwungen (nicht dass dieser Platz zuletzt besonders umkämpft war). Zwar fehlt ihr noch der erhoffte Slam, aber der ist womöglich nicht mehr fern: Sie ist vielleicht die einzige Spielerin, die auf allen drei Belägen um den Titel mitspielen kann.

Das verspricht eine Menge knackige Matches gegen Swiatek! "Das ist schon eine ganz nette Rivalität und ich bin sicher, dass wir noch viele Matches spielen werden", unkte Swiatek bei der Siegerehrung. Der WTA-Tour würde das nur gut tun: Jabeur trägt die Hoffnungen des gesamten afrikanischen Kontinents auf ihren Schultern, macht das aber unheimlich sympathisch und hat mit ihrem raffinierten Spiel schon so einige Tribünen für sich erobert.

Zwei beliebte, eloquente Spielerinnen, deren Stile sich zudem noch deutlich unterscheiden - mehr kann man eigentlich nicht verlangen. Überraschungen wird es weiterhin geben, nicht zuletzt durch das Best-of-Three-Format bei den Damen. Dennoch muss einem trotz Serenas Abschied nicht bange sein um die Zukunft der WTA.

Die Grand Slam-Sieger 2022

Australian OpenFrench OpenWimbledonUS Open
DamenAshleigh BartyIga SwiatekElena RybakinaIga Swiatek
HerrenRafael NadalRafael NadalNovak Djokovic